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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Das Effizienz-Paradox

In sei­nem Mär­chen-Roman »Momo« lässt Micha­el Ende ein klei­nes, zar­tes Mäd­chen namens Momo gegen eine Über­macht omi­nö­ser grau­er Her­ren antre­ten. Von die­sen Män­nern, die unent­wegt klei­ne graue Zigar­ren rau­chen, geht eine eisi­ge Käl­te aus. Sie tre­ten als Agen­ten einer »Zeit­spar­kas­se« auf und rech­nen den Men­schen vor, wie viel Zeit sie spa­ren und wie viel mehr sie schaf­fen könn­ten, wenn sie auf angeb­lich nutz­lo­se Tätig­kei­ten ver­zich­te­ten. Und die Leu­te fin­den das plau­si­bel. Also begin­nen sie, Zeit »zu spa­ren«, sie arbei­ten schnel­ler, machen kaum noch Pau­sen und gön­nen sich kei­ne Ver­gnü­gun­gen mehr. Doch obwohl bald alle mehr Geld ver­die­nen, wird das Leben immer ärmer. Alle het­zen durch den Tag, lei­den aber unter einem stär­ker wer­den­den Grund­ge­fühl: Man spart per­ma­nent Zeit und hat doch immer weni­ger davon.

Tat­säch­lich wird ihnen die Zeit von den grau­en Her­ren gestoh­len, es sind »Zeit­die­be«, die nicht das Wohl der Men­schen im Sinn haben. Momo dur­schaut das üble Spiel, und am Ende gelingt es ihr, die Men­schen aus der Beschleu­ni­gungs­fal­le zu befrei­en und ihnen die Freu­de am Leben und am zweck­frei­en Mit­ein­an­der wiederzugeben.

Soweit das zeit­los schö­ne Mär­chen, das natür­lich einen mär­chen­haft guten Aus­gang neh­men muss. In unse­rer Wirk­lich­keit ist die Macht der »grau­en Her­ren« indes unge­bro­chen, ja, sie nimmt ste­tig wei­ter zu. Immer mehr Men­schen ent­wickeln das – häu­fig krank machen­de – Gefühl, dem Ver­än­de­rungs­tem­po nicht län­ger gewach­sen zu sein. Es ergeht uns wie den Prot­ago­ni­sten in dem bereits 1973 ver­öf­fent­lich­tem Roman: Immer aus­ge­feil­te­re Tech­ni­ken hel­fen uns, immer mehr Zeit zu »spa­ren«, und doch haben wir immer weni­ger davon.

Die­ses selt­sa­me Para­dox scheint mir eine Grund­er­fah­rung der Gegen­wart zu sein. Immer mehr in immer kür­ze­rer Zeit zu schaf­fen, lau­tet das Man­tra-mäßig gepre­dig­te Ide­al des Indu­strie­zeit­al­ters, das uns in Fleisch und Blut über­ge­gan­gen ist. Denn die per­ma­nen­te Tem­po­stei­ge­rung prägt ja längst nicht mehr »nur« Wirt­schaft und Arbeits­welt, sie hat eben­so das sozia­le wie das ganz pri­va­te Leben erfasst. Auch die »freie« Zeit ist zum Teil auf das Eng­ste durch­ge­tak­tet. Erwerbs­tä­ti­ge wie nicht-erwerbs­tä­ti­ge Men­schen kla­gen zuneh­mend über Stress­sym­pto­me. Aber was (oder wer) treibt die fata­le Dyna­mik an?

Eine Ant­wort auf die­se Fra­ge ist drin­gen­der denn je. Denn uns läuft ja tat­säch­lich die Zeit davon: Wenn die sich mitt­ler­wei­le selbst beschleu­ni­gen­den Pro­zes­se unge­hemmt wei­ter­lau­fen, wer­den wir schon sehr bald völ­lig unvor­be­rei­tet vor Ver­wer­fun­gen ste­hen, die wir gar nicht mehr durch­schau­en und also auch nicht beherr­schen kön­nen. Aber wie sol­len wir an mor­gen den­ken, wenn uns das Heu­te schon über­for­dert? Die­se Fra­ge berührt ein Grund­pro­blem unse­res Lebens und Wirt­schaf­tens: Wenn wir der Zukunft kein Ziel geben, an dem wir unser Han­deln gestal­tend aus­rich­ten, wer­den wir im Geschwin­dig­keits­rausch umkommen.

Ange­sichts der grund­stür­zen­den öko­no­mi­schen und tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lun­gen, die seit eini­ger Zeit über uns her­ein­bre­chen, emp­fin­den immer mehr Men­schen eine Art Tsu­na­mi­ge­fühl. Der »Fort­schritt« schwemmt ihre, unse­re Zukunft weg. Das erzeugt Angst. Und wer Angst hat, sucht nach Ven­ti­len, ech­ten oder fal­schen Gebor­gen­hei­ten oder nach Füh­rung, die vor­gibt, die Ursa­chen der Angst zu ken­nen und sie bekämp­fen zu können.

Dabei ist es gar nicht nötig, sol­che extre­men Kon­se­quen­zen – wie Pegi­da oder die AfD, Frem­den­feind­lich­keit und Anti­se­mi­tis­mus – mah­nend zu beschwö­ren. Um die Effi­zi­enz­fal­le zu erken­nen, in die uns die »Zeit­die­be« locken, genügt es durch­aus, sich des eige­nen Erle­bens gewahr zu wer­den. Dann wür­de uns schnell bewusst, dass die Beschleu­ni­gung, der wir uns aus­ge­setzt sehen, sozu­sa­gen immer wider­sprüch­li­cher wird. So erle­ben wir es jeden­falls: Unser All­tag ist durch vie­ler­lei sich ver­schär­fen­de Para­do­xien geprägt, an deren Zustan­de­kom­men wir sicher unge­wollt, aber tat­kräf­tig mit­wir­ken. Sol­che »Dou­ble Binds« stif­ten not­wen­dig Ver­wir­rung, die dann in einem wach­sen­den Unbe­ha­gen an der Gegen­wart mündet.

Ein erstes, ver­mut­lich ver­trau­tes Para­do­xon, ist schnell benannt. Es ist das Gefühl, dass wir trotz aller neu­en tech­ni­schen Hilfs­mit­tel, die uns alle mög­li­chen Vor­gän­ge und Tätig­kei­ten abneh­men, trotz aller Auto­ma­ti­sie­rung und Algo­rith­men-gesteu­er­ter Assi­stenz­sy­ste­me immer weni­ger Zeit haben und irgend­wie auch immer mehr arbei­ten. Von Ent­la­stung ist jeden­falls im All­tag kaum etwas zu spü­ren. Das ist selt­sam und doch leicht zu erklären.

Zum einen sind wir auf­grund vie­ler läss­li­cher Unver­nünf­tig­kei­ten sel­ber schuld dar­an. Natür­lich dau­ert es län­ger, mit einem Dut­zend Text­nach­rich­ten per Mail, SMS oder Whats­App einen Tele­fon­ter­min zu ver­ein­ba­ren, anstatt ein­fach anzu­ru­fen; eben­so sind die Ver­viel­fa­chung der über­wie­gend sinn­frei­en Kom­mu­ni­ka­ti­ons­schlei­fen auf den sozia­len Platt­for­men oder das Auf­fin­den und unauf­ge­for­der­te Ver­sen­den lusti­ger Kat­zen­vi­de­os, um nur eini­ge harm­lo­se Bei­spie­le zu nen­nen, zeit­öko­no­misch ganz sicher kein Gewinn; auch das all­täg­li­che Löschen der vie­len gewerb­li­chen Mails, die auto­ma­tisch gene­riert und von Bots ziel­los ver­schickt wer­den, ist ein lei­di­ger Zeit­fres­ser. Zum ande­ren ermög­licht die sich ste­tig aus­wei­ten­de Inter­net­öko­no­mie den Anbie­tern von Gütern und Dienst­lei­stun­gen, immer mehr Tätig­kei­ten, die sie frü­her selbst erbracht haben, tech­nisch ele­gant an die Kun­den zu dele­gie­ren – und ihnen die­se Lasten­über­ga­be dann auch noch als Auto­no­mie­ge­winn schmack­haft zu machen.

Das ist die Per­fi­die des neu­en digi­ta­len Kapi­ta­lis­mus: Was tun wir heu­te nicht alles qua­si frei­wil­lig und ohne jede Ver­gü­tung, was einst bezahl­te Arbeit gewe­sen ist, von der Foto­be­ar­bei­tung bis zur Kon­fi­gu­ra­ti­on des neu­en Autos, von der Hotel­re­ser­vie­rung bis zur Flug­bu­chung, inklu­si­ve Check-in, vom Aus­fül­len behörd­li­cher Online-For­mu­la­re über das Online-Ban­king bis zum Ein­scan­nen der Waren an der Super­markt­kas­se? Und die Arbeit, die wir da lei­sten, fällt eben auf der Anbie­ter­sei­te nicht mehr an, wodurch deren Pro­duk­ti­vi­tät enorm gestei­gert wird, bei sin­ken­der Kostenquote.

Natür­lich geht durch unse­re unbe­zahl­te Arbeit klas­si­sche Erwerbs­ar­beit ver­lo­ren, die nun eben nicht mehr erbracht wer­den muss, wie ein mas­si­ver Stel­len­ab­bau etwa bei den Finanz­in­sti­tu­ten schon hin­läng­lich belegt. Wis­sen Sie noch, wann Sie das letz­te Mal eine Bank­fi­lia­le betre­ten haben? Die­se Ent­wick­lung, die immer stär­ke­re Annä­he­rung von Arbeit und Frei­zeit, Pro­duk­ti­on und Kon­sum wird sich noch mas­siv aus­wei­ten und das Spek­trum bezahl­ter Dienst­lei­stun­gen in allen Berei­chen des pri­va­ten und öffent­li­chen Lebens enorm ver­klei­nern, bei­spiels­wei­se im Gesund­heits­we­sen, wo die Pati­en­ten einen immer grö­ße­ren Teil der Ana­mne­se und Dia­gno­se mit Hil­fe ent­spre­chen­der Apps in Zukunft selbst erle­di­gen wer­den; im Gegen­zug wird dann aller­ding der Kühl­schrank im künf­ti­gen Smart Home angeb­lich mei­nen Bedarf ken­nen und das zur Nei­ge Gehen­de auto­ma­tisch nach­be­stel­len. Gute Güte, was das für Zeit spa­ren wird.

Vie­les davon pas­siert schon jetzt ganz kon­kret, bleibt aber in sei­nen gesell­schaft­li­chen Kon­se­quen­zen weit­hin unbe­ach­tet, weil wir den per­sön­li­chen Mehr­auf­wand zwar spü­ren, den damit ver­bun­de­nen Weg­fall von Arbeits­plät­zen aber bis­lang kaum zur Kennt­nis neh­men. Doch wor­an liegt das? Mit die­ser Fra­ge berüh­ren wir ein zwei­tes Para­do­xon unse­rer gegen­wär­tig etwas unüber­sicht­li­chen Lage, das schon weit weni­ger leicht zu erklä­ren ist. Da gibt es immer mehr Exper­ten aus renom­mier­ten Insti­tu­ten und Bera­tungs­fir­men, die einen mas­si­ven Arbeits­platz­ver­lust in den näch­sten Jah­ren in nahe­zu allen Bran­chen vor­her­sa­gen. Dem­nach wür­den bis zu 50 Pro­zent der uns heu­te bekann­ten Beru­fe durch Auto­ma­ti­sie­rung, Robo­ter­i­sie­rung und Algo­rith­mi­sie­rung schon bald nicht mehr gebraucht werden.

Auf der ande­ren Sei­te lesen und hören wir allent­hal­ben, dass die wirt­schaft­li­che Situa­ti­on, trotz Digi­ta­li­sie­rung, sogar trotz Pan­de­mie, halb­wegs sta­bil ist. Der Mit­tel­stand, das viel­be­schwo­re­ne Rück­grat unse­rer Wirt­schaft, ist gut auf­ge­stellt, heißt es, und Deutsch­land ist trotz aller welt­wei­ten Tur­bu­len­zen wei­ter­hin Export­welt­mei­ster. Vom Ende der Arbeit kei­ne Spur, im Gegen­teil. Denn das Ein­zi­ge, was die guten Nach­rich­ten bis­wei­len trübt und Unter­neh­mer wie Poli­ti­ker den­noch sor­gen­voll in die Zukunft blicken lässt, ist nicht etwa ein Schwin­den, son­dern ein Zuviel an Arbeit. Über­all fehlt es an Man­power. Es man­gelt an Fach­kräf­ten, an Aus­zu­bil­den­den und an Hand­wer­kern, an Pfle­ge­per­so­nal und Leh­rern sowie­so. Vie­le Fir­men, Hand­werks­be­trie­be und Kli­nik­be­trei­ber schla­gen Alarm, weil sie schon seit gerau­mer Zeit nicht mehr genü­gend qua­li­fi­zier­te Bewer­be­rin­nen und Bewer­ber finden.

Wie das? Und was denn nun? Ver­schwin­den nun die Arbeits­plät­ze oder erlei­den wir einen Arbeits­kräf­te­man­gel? Tat­säch­lich fin­det Bei­des statt, gleich­zei­tig, Dou­ble Bind, wobei die zuerst genann­te Ent­wick­lung gewis­ser­ma­ßen »nach­hal­ti­ger« ist. Um die zwei­te, unstrit­tig evi­den­te Ten­denz, den »gesun­den« Arbeits­markt, zu erklä­ren, könn­te man auf die Bota­nik ver­wei­sen, auf das Phä­no­men der soge­nann­ten Angst- oder Not­blü­te: Kurz vor dem dro­hen­den Abster­ben zei­gen Pflan­zen noch ein­mal ihre gan­ze Pracht, und das durch­aus nicht ohne Grund. Das vege­ta­ti­ve Wachs­tum wird ein­ge­stellt und die ver­blei­ben­de Ener­gie in gene­ra­ti­ves Wachs­tum, also etwa in Blü­ten­bil­dung, umge­lenkt, um Samen zu erzeu­gen, die dann hof­fent­lich die schlech­ten Zei­ten überdauern.

Ohne die Ana­lo­gie hier über­stra­pa­zie­ren zu wol­len, lässt sich das Gesche­hen in der Zeit nach der Finanz­kri­se, in der sich gewis­ser­ma­ßen das Ende des Finanz- und Indu­strie­ka­pi­ta­lis­mus ankün­dig­te, ganz ähn­lich deu­ten. Deren wesent­li­che Ursa­che war eine künst­lich auf­ge­bläh­te Geld­men­ge, also viel zu viel bil­li­ges Geld, das dann in alle mög­li­chen win­di­gen Kre­di­te floss und die Schul­den welt­weit auf 100 Bil­lio­nen US-Dol­lar anschwel­len ließ. Und wie wur­de die Kri­se bekämpft? Mit noch mehr bil­li­gem Geld und histo­risch nied­ri­gen Zin­sen, so dass sich der Schul­den­stand seit 2008 noch ver­viel­facht hat. Damit sind aber die Pro­ble­me im Finanz­sy­stem nicht gelöst wor­den. Im Gegen­teil, durch die Ret­tungs­pa­ke­te der Noten­ban­ken wur­de das System erneut gigan­tisch auf­ge­bläht. Begren­zung durch Ent­gren­zung? Noch nie gab es mehr Schul­den, nie war mehr Geld unre­gu­liert im System als heu­te, so dass ein neu­er­li­cher Crash nur eine Fra­ge der Zeit ist. Not­blü­te. Auf­le­ben vor dem Able­ben. Das wird zwar zu sozia­len Kon­flik­ten füh­ren, aber einen System­wan­del erfor­dern, der den sozia­len, kul­tu­rel­len und natür­li­chen Reich­tum die­ser Welt nicht mehr schä­digt, son­dern schützt – und hof­fent­lich gerech­ter ver­teilt. Der Aus­gang ist offen, die Wahr­schein­lich­keit, dass das alles, anders als im Mär­chen, ein böses Ende nimmt, ist groß, weil die bis­he­ri­gen »Gewin­ner« mit aller Macht mög­li­chen Ver­lu­sten ent­ge­gen­tre­ten wer­den. Aber die Chan­ce, die Din­ge zum Bes­se­ren zu wen­den, ist zwei­fel­los gegeben.