In seinem Märchen-Roman »Momo« lässt Michael Ende ein kleines, zartes Mädchen namens Momo gegen eine Übermacht ominöser grauer Herren antreten. Von diesen Männern, die unentwegt kleine graue Zigarren rauchen, geht eine eisige Kälte aus. Sie treten als Agenten einer »Zeitsparkasse« auf und rechnen den Menschen vor, wie viel Zeit sie sparen und wie viel mehr sie schaffen könnten, wenn sie auf angeblich nutzlose Tätigkeiten verzichteten. Und die Leute finden das plausibel. Also beginnen sie, Zeit »zu sparen«, sie arbeiten schneller, machen kaum noch Pausen und gönnen sich keine Vergnügungen mehr. Doch obwohl bald alle mehr Geld verdienen, wird das Leben immer ärmer. Alle hetzen durch den Tag, leiden aber unter einem stärker werdenden Grundgefühl: Man spart permanent Zeit und hat doch immer weniger davon.
Tatsächlich wird ihnen die Zeit von den grauen Herren gestohlen, es sind »Zeitdiebe«, die nicht das Wohl der Menschen im Sinn haben. Momo durschaut das üble Spiel, und am Ende gelingt es ihr, die Menschen aus der Beschleunigungsfalle zu befreien und ihnen die Freude am Leben und am zweckfreien Miteinander wiederzugeben.
Soweit das zeitlos schöne Märchen, das natürlich einen märchenhaft guten Ausgang nehmen muss. In unserer Wirklichkeit ist die Macht der »grauen Herren« indes ungebrochen, ja, sie nimmt stetig weiter zu. Immer mehr Menschen entwickeln das – häufig krank machende – Gefühl, dem Veränderungstempo nicht länger gewachsen zu sein. Es ergeht uns wie den Protagonisten in dem bereits 1973 veröffentlichtem Roman: Immer ausgefeiltere Techniken helfen uns, immer mehr Zeit zu »sparen«, und doch haben wir immer weniger davon.
Dieses seltsame Paradox scheint mir eine Grunderfahrung der Gegenwart zu sein. Immer mehr in immer kürzerer Zeit zu schaffen, lautet das Mantra-mäßig gepredigte Ideal des Industriezeitalters, das uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Denn die permanente Temposteigerung prägt ja längst nicht mehr »nur« Wirtschaft und Arbeitswelt, sie hat ebenso das soziale wie das ganz private Leben erfasst. Auch die »freie« Zeit ist zum Teil auf das Engste durchgetaktet. Erwerbstätige wie nicht-erwerbstätige Menschen klagen zunehmend über Stresssymptome. Aber was (oder wer) treibt die fatale Dynamik an?
Eine Antwort auf diese Frage ist dringender denn je. Denn uns läuft ja tatsächlich die Zeit davon: Wenn die sich mittlerweile selbst beschleunigenden Prozesse ungehemmt weiterlaufen, werden wir schon sehr bald völlig unvorbereitet vor Verwerfungen stehen, die wir gar nicht mehr durchschauen und also auch nicht beherrschen können. Aber wie sollen wir an morgen denken, wenn uns das Heute schon überfordert? Diese Frage berührt ein Grundproblem unseres Lebens und Wirtschaftens: Wenn wir der Zukunft kein Ziel geben, an dem wir unser Handeln gestaltend ausrichten, werden wir im Geschwindigkeitsrausch umkommen.
Angesichts der grundstürzenden ökonomischen und technologischen Entwicklungen, die seit einiger Zeit über uns hereinbrechen, empfinden immer mehr Menschen eine Art Tsunamigefühl. Der »Fortschritt« schwemmt ihre, unsere Zukunft weg. Das erzeugt Angst. Und wer Angst hat, sucht nach Ventilen, echten oder falschen Geborgenheiten oder nach Führung, die vorgibt, die Ursachen der Angst zu kennen und sie bekämpfen zu können.
Dabei ist es gar nicht nötig, solche extremen Konsequenzen – wie Pegida oder die AfD, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus – mahnend zu beschwören. Um die Effizienzfalle zu erkennen, in die uns die »Zeitdiebe« locken, genügt es durchaus, sich des eigenen Erlebens gewahr zu werden. Dann würde uns schnell bewusst, dass die Beschleunigung, der wir uns ausgesetzt sehen, sozusagen immer widersprüchlicher wird. So erleben wir es jedenfalls: Unser Alltag ist durch vielerlei sich verschärfende Paradoxien geprägt, an deren Zustandekommen wir sicher ungewollt, aber tatkräftig mitwirken. Solche »Double Binds« stiften notwendig Verwirrung, die dann in einem wachsenden Unbehagen an der Gegenwart mündet.
Ein erstes, vermutlich vertrautes Paradoxon, ist schnell benannt. Es ist das Gefühl, dass wir trotz aller neuen technischen Hilfsmittel, die uns alle möglichen Vorgänge und Tätigkeiten abnehmen, trotz aller Automatisierung und Algorithmen-gesteuerter Assistenzsysteme immer weniger Zeit haben und irgendwie auch immer mehr arbeiten. Von Entlastung ist jedenfalls im Alltag kaum etwas zu spüren. Das ist seltsam und doch leicht zu erklären.
Zum einen sind wir aufgrund vieler lässlicher Unvernünftigkeiten selber schuld daran. Natürlich dauert es länger, mit einem Dutzend Textnachrichten per Mail, SMS oder WhatsApp einen Telefontermin zu vereinbaren, anstatt einfach anzurufen; ebenso sind die Vervielfachung der überwiegend sinnfreien Kommunikationsschleifen auf den sozialen Plattformen oder das Auffinden und unaufgeforderte Versenden lustiger Katzenvideos, um nur einige harmlose Beispiele zu nennen, zeitökonomisch ganz sicher kein Gewinn; auch das alltägliche Löschen der vielen gewerblichen Mails, die automatisch generiert und von Bots ziellos verschickt werden, ist ein leidiger Zeitfresser. Zum anderen ermöglicht die sich stetig ausweitende Internetökonomie den Anbietern von Gütern und Dienstleistungen, immer mehr Tätigkeiten, die sie früher selbst erbracht haben, technisch elegant an die Kunden zu delegieren – und ihnen diese Lastenübergabe dann auch noch als Autonomiegewinn schmackhaft zu machen.
Das ist die Perfidie des neuen digitalen Kapitalismus: Was tun wir heute nicht alles quasi freiwillig und ohne jede Vergütung, was einst bezahlte Arbeit gewesen ist, von der Fotobearbeitung bis zur Konfiguration des neuen Autos, von der Hotelreservierung bis zur Flugbuchung, inklusive Check-in, vom Ausfüllen behördlicher Online-Formulare über das Online-Banking bis zum Einscannen der Waren an der Supermarktkasse? Und die Arbeit, die wir da leisten, fällt eben auf der Anbieterseite nicht mehr an, wodurch deren Produktivität enorm gesteigert wird, bei sinkender Kostenquote.
Natürlich geht durch unsere unbezahlte Arbeit klassische Erwerbsarbeit verloren, die nun eben nicht mehr erbracht werden muss, wie ein massiver Stellenabbau etwa bei den Finanzinstituten schon hinlänglich belegt. Wissen Sie noch, wann Sie das letzte Mal eine Bankfiliale betreten haben? Diese Entwicklung, die immer stärkere Annäherung von Arbeit und Freizeit, Produktion und Konsum wird sich noch massiv ausweiten und das Spektrum bezahlter Dienstleistungen in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens enorm verkleinern, beispielsweise im Gesundheitswesen, wo die Patienten einen immer größeren Teil der Anamnese und Diagnose mit Hilfe entsprechender Apps in Zukunft selbst erledigen werden; im Gegenzug wird dann allerding der Kühlschrank im künftigen Smart Home angeblich meinen Bedarf kennen und das zur Neige Gehende automatisch nachbestellen. Gute Güte, was das für Zeit sparen wird.
Vieles davon passiert schon jetzt ganz konkret, bleibt aber in seinen gesellschaftlichen Konsequenzen weithin unbeachtet, weil wir den persönlichen Mehraufwand zwar spüren, den damit verbundenen Wegfall von Arbeitsplätzen aber bislang kaum zur Kenntnis nehmen. Doch woran liegt das? Mit dieser Frage berühren wir ein zweites Paradoxon unserer gegenwärtig etwas unübersichtlichen Lage, das schon weit weniger leicht zu erklären ist. Da gibt es immer mehr Experten aus renommierten Instituten und Beratungsfirmen, die einen massiven Arbeitsplatzverlust in den nächsten Jahren in nahezu allen Branchen vorhersagen. Demnach würden bis zu 50 Prozent der uns heute bekannten Berufe durch Automatisierung, Roboterisierung und Algorithmisierung schon bald nicht mehr gebraucht werden.
Auf der anderen Seite lesen und hören wir allenthalben, dass die wirtschaftliche Situation, trotz Digitalisierung, sogar trotz Pandemie, halbwegs stabil ist. Der Mittelstand, das vielbeschworene Rückgrat unserer Wirtschaft, ist gut aufgestellt, heißt es, und Deutschland ist trotz aller weltweiten Turbulenzen weiterhin Exportweltmeister. Vom Ende der Arbeit keine Spur, im Gegenteil. Denn das Einzige, was die guten Nachrichten bisweilen trübt und Unternehmer wie Politiker dennoch sorgenvoll in die Zukunft blicken lässt, ist nicht etwa ein Schwinden, sondern ein Zuviel an Arbeit. Überall fehlt es an Manpower. Es mangelt an Fachkräften, an Auszubildenden und an Handwerkern, an Pflegepersonal und Lehrern sowieso. Viele Firmen, Handwerksbetriebe und Klinikbetreiber schlagen Alarm, weil sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr genügend qualifizierte Bewerberinnen und Bewerber finden.
Wie das? Und was denn nun? Verschwinden nun die Arbeitsplätze oder erleiden wir einen Arbeitskräftemangel? Tatsächlich findet Beides statt, gleichzeitig, Double Bind, wobei die zuerst genannte Entwicklung gewissermaßen »nachhaltiger« ist. Um die zweite, unstrittig evidente Tendenz, den »gesunden« Arbeitsmarkt, zu erklären, könnte man auf die Botanik verweisen, auf das Phänomen der sogenannten Angst- oder Notblüte: Kurz vor dem drohenden Absterben zeigen Pflanzen noch einmal ihre ganze Pracht, und das durchaus nicht ohne Grund. Das vegetative Wachstum wird eingestellt und die verbleibende Energie in generatives Wachstum, also etwa in Blütenbildung, umgelenkt, um Samen zu erzeugen, die dann hoffentlich die schlechten Zeiten überdauern.
Ohne die Analogie hier überstrapazieren zu wollen, lässt sich das Geschehen in der Zeit nach der Finanzkrise, in der sich gewissermaßen das Ende des Finanz- und Industriekapitalismus ankündigte, ganz ähnlich deuten. Deren wesentliche Ursache war eine künstlich aufgeblähte Geldmenge, also viel zu viel billiges Geld, das dann in alle möglichen windigen Kredite floss und die Schulden weltweit auf 100 Billionen US-Dollar anschwellen ließ. Und wie wurde die Krise bekämpft? Mit noch mehr billigem Geld und historisch niedrigen Zinsen, so dass sich der Schuldenstand seit 2008 noch vervielfacht hat. Damit sind aber die Probleme im Finanzsystem nicht gelöst worden. Im Gegenteil, durch die Rettungspakete der Notenbanken wurde das System erneut gigantisch aufgebläht. Begrenzung durch Entgrenzung? Noch nie gab es mehr Schulden, nie war mehr Geld unreguliert im System als heute, so dass ein neuerlicher Crash nur eine Frage der Zeit ist. Notblüte. Aufleben vor dem Ableben. Das wird zwar zu sozialen Konflikten führen, aber einen Systemwandel erfordern, der den sozialen, kulturellen und natürlichen Reichtum dieser Welt nicht mehr schädigt, sondern schützt – und hoffentlich gerechter verteilt. Der Ausgang ist offen, die Wahrscheinlichkeit, dass das alles, anders als im Märchen, ein böses Ende nimmt, ist groß, weil die bisherigen »Gewinner« mit aller Macht möglichen Verlusten entgegentreten werden. Aber die Chance, die Dinge zum Besseren zu wenden, ist zweifellos gegeben.