Vor 150 Jahren, am 24. Februar 1871, erschien in dem Londoner Verlag von John Murray das zweibändige Werk »The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex« (dt. »Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl«) von Charles Robert Darwin (1809-1882). Die erste Auflage von 2.500 Exemplaren war bereits nach drei Tagen ausverkauft. Es folgten mehrere Nachdrucke, und noch im selben Jahr erschien in der E. Schweizerbart’schen Verlagsbuchhandlung Stuttgart die deutsche Übersetzung des Leipziger Zoologen Julius Victor Carus (1823-1903), der schon länger mit Darwin in Korrespondenz stand. Er hatte sich rechtzeitig um die Übersetzungsrechte bemüht und bereits im Oktober 1870 die ersten Klischees erhalten. Auch die erweiterten Nachdrucke in den folgenden Jahren übersetzte Carus umgehend. Darüber hinaus folgten in den nächsten Monaten Übertragungen in alle wichtigen europäischen Sprachen.
Mit diesem Werk veränderte Darwin unser Welt- und Menschenbild für immer. Seine Evolutionstheorie lieferte erstmals eine schlüssige Erklärung dafür, wie Arten aus anderen Arten entstehen, warum sie sich wandeln und wieder verschwinden. Zum ersten Mal verwendete er hier den Terminus »Evolution«, den er allerdings von dem britischen Philosophen und Soziologen Herbert Spencer (1820-1903) übernahm, der den Evolutionsbegriff bereits um 1860 im Sinne der Veränderung von Arten verwendet hatte.
Darwin hatte zunächst Medizin und dann Theologie studiert, sich aber nebenbei intensiv mit Naturwissenschaften beschäftigt. Mit 22 Jahren erhielt er dann die einmalige Chance seines Lebens: Als unbezahlter Naturforscher durfte er an einer Expedition des Vermessungsschiffes »HMS Beagle« teilnehmen, die ihn rund um die Welt führte und fast fünf Jahre dauerte. Es sollte eine der folgenreichsten Expeditionen der Menschheitsgeschichte werden. Bei dieser Mission erforschte Darwin die geologischen Eigenschaften der Kontinente und Inseln. Mit glühendem Eifer untersuchte er eine große Anzahl von Lebewesen und Fossilien und fand viele Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Lebensformen. Besonders die Beobachtungen und Entdeckungen auf den Galapagos-Inseln legten den Grundstein für seine Überlegungen, die später in die Evolutionstheorie münden sollten. Darwin kehrte mit über 1500 Pflanzen- und Tierpräparaten nach England zurück sowie mit einer riesigen Sammlung von Fellen, Federn, Knochen, Fossilien und Steinen. Jahrelang war er mit der Auswertung seiner »Beagle«-Reise beschäftigt. 1839 veröffentlichte er mit »Die Fahrt der Beagle« einen umfangreichen und spannenden Reisebericht, der zugleich eine wissenschaftliche Abhandlung über Biologie, Geologie und Anthropologie war. Das Reisetagebuch erlebte sofort mehrere Auflagen und ist heute noch Darwins meistgelesenes Buch.
Im Ergebnis seiner Weltumseglung hatte Darwin bereits 1838 eine erste Theorie der Anpassung der Arten an ihren Lebensraum durch Variation und natürliche Selektion entworfen. Warum es dann über zwanzig Jahre dauerte, bis er die Theorie in seinem berühmten Werk »On the Origin of Species by means of Natural Selection« (»Von der Entstehung der Arten durch natürliche Züchtung«; kurz »Entstehung der Arten«) 1859 publizierte, gibt den heutigen Historikern immer noch Rätsel auf. Die Erklärungsversuche für den langen Aufschub reichen von Angst vor den Reaktionen und dem Reputationsverlust bis zu zeitaufwändigen Untersuchungen und Auswertungen, um seine bahnbrechenden Ideen zu untermauern.
In den folgenden Jahren veröffentlichte Darwin noch zahlreiche Publikationen, in denen er Aspekte seiner Theorie detailliert darlegte. Auch aus seinen vielen Begegnungen und Diskussionen mit renommierten Wissenschaftlern seiner Zeit entstanden immer wieder neue Ansatzpunkte. Erst nachdem berühmte Naturforscher wie Alfred Russel Wallace (1823-1913) oder Ernst Haeckel (1834-1919) Darwins Theorie auf den Menschen angewandt hatten, überwand er sein langes Zögern und verfasste »Die Abstammung des Menschen«, sein zweiter wissenschaftlicher Paukenschlag (»Mir ist, als gestände ich einen Mord«) nach »Entstehung der Arten«. Aufgrund seiner vielen Beobachtungen und Untersuchungen formulierte er hier als erster die Selektionstheorie der Evolution. Für viele Zeitgenossen war Darwins Evolutionstheorie ein Affront, stellte sie doch das christlich-abendländische Weltbild in Frage. Obwohl viele Wissenschaftler Darwin beipflichteten, sah er sich bitterer Häme ausgesetzt – etwa in Form der berühmten Karikatur eines Orang-Utans mit Darwins Kopf. Die schärfste Ablehnung kam allerdings von Kirchenvertretern, die die biblische Schöpfungslehre in Gefahr sahen.
Darwin starb am 19. April 1882 im Alter von 73 Jahren, und wurde in der Westminister Abbey von London neben anderen namhaften Wissenschaftlern beigesetzt. Dass ausgerechnet ein studierter Theologe die Schöpfungsgeschichte widerlegte, mutet vielleicht an wie ein Scherz der Geschichte. Heute gehören jedoch viele von Darwins Kernaussagen zum Allgemeinwissen. Seine von ihm entworfene Evolutionstheorie hat wie die astronomische Forschung von Nikolaus Kopernikus über 300 Jahre zuvor an Jahrtausende alten Grundfesten gerüttelt und unser Weltbild revolutioniert.