Gedenken und Erinnern hat immer zwei Seiten. Es sei denn, es herrscht staatsverordnete Vergesslichkeit. Weshalb entschwand ein historisches Datum der Alt-Bundesrepublik aus dem offiziellen Gedächtnis, während just das gleiche Datum Anlass war, sich der DDR wieder einmal besonders zu widmen?
Stichwort: 26. Mai 1952. In Bonn wurde der Deutschlandvertrag unterzeichnet, der das Besatzungsstatut der Westalliierten ablöste, der Bundesrepublik Souveränität und eine Normalisierung ihres völkerrechtlichen Status gewähren sollte. Tags darauf wurde in Paris der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) von Frankreich, Belgien, Luxemburg, Italien, den Niederlanden und der Bundesrepublik unterzeichnet. Der Weg der Bundesrepublik in ein westeuropäisches militärisches Bündnis gegen die UdSSR war geöffnet.
Mit US-Präsident Harry S. Truman* kam ab 1947 eine neue Außenpolitik zum Tragen. An Pathos fehlte es nicht: »Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt.« Klingt wie heute beim Thema Ukraine. Mit der Truman-Doktrin und im alleinigen Besitz der Atombombe sprachen sich die USA selbst die Rolle einer weltweiten Ordnungsmacht zu. Dem entsprach als Besatzungsmacht das Ziel in Deutschland-West, einen »deutschen Beitrag« zur Verteidigung des Westens innerhalb einer europäischen Armee zu arrangieren. Die SPD war damals (heute undenkbar) sowohl gegen die Wiederbewaffnung als auch gegen die von Adenauer rigoros angestrebte Westintegration. Die Französische Nationalversammlung durchkreuzte die Pläne am 30. August 1954 und beschloss mit 319 zu 264 Stimmen, die Entscheidung über die EVG auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Auch in Italien kam es nie zu einer Ratifikation. Das änderte nicht einen Deut an den ursprünglichen Planungen.
In Berlin beschloss der Ministerrat der DDR an jenem 26. Mai 1952 eine Verordnung »über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands«. Am 27. Mai trat ergänzend eine weitere für die Polizei in Kraft, um eine »besondere(n) Ordnung an der Demarkationslinie« einzuführen. In der DDR-Verordnung wurde der Begriff Grenze explizit vermieden und rechtsverbindlich erklärt: »Alle zur Durchführung dieser Maßnahmen getroffenen Anordnungen, Bestimmungen und Anweisungen sind unter dem Gesichtspunkt zu erlassen, dass sie bei einer Verständigung über die Durchführung gesamtdeutscher Wahlen zur Herbeiführung der Einheit Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage sofort aufgehoben werden können.« Noch im März 1952 hatte Stalin den Westmächten in einer Note Verhandlungen über die Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands angeboten. Es kam nicht einmal zu Gesprächen. In Bonn waren die Weichen längst gestellt und der Osten Deutschlands entgegen allen Sonntagsreden auf ewig abgeschrieben.
Gut, dass es Archive und Protokolle gibt, die das belegen. Am 22. Januar 1951 trafen sich Adenauer und die ehemaligen Hitler-Generäle Adolf Heusinger und Hans Speidel mit dem Hochkommissar der USA und Militärgouverneur in Deutschland, John McCloy, sowie dem Supreme Allied Commander Europe, Dwight D. Eisenhower. Der wertschätzte die beiden Militärs sehr. Um sie für eine Jobperspektive in der EVG zu gewinnen, bedurfte es sicher nicht vieler Worte. Und so ist einen Monat später über die 131. Sitzung des Bundeskabinetts am 23. Febr. 1951 TOP C nachzulesen, was Heusinger als Stimme Amerikas von sich gab. Nämlich, »dass die Gefahr eines kriegerischen Überfalls (durch die Sowjetunion, d. Verf.) erheblich ernster zu nehmen sei, wenn etwa die EVG unter Beteiligung der Bundesrepublik nicht zustande kommen sollte«.
Der Fachmann fürs Kriegerische stellte in Aussicht, dass die nach dem Vertragswerk aufzustellenden 12 deutschen Divisionen etwa Ende 1954 einsatzbereit sein würden. Seine Expertise beruhte auf seiner Beteiligung an den Planungen für eine militärische Aggression gegen die Tschechoslowakei 1938/39, zum Überfall auf Polen am 1. September 1939 (Fall Weiss) und auf die Sowjetunion im Juni 1941 (Unternehmen Barbarossa). Seit August 1942 hatte er die »Partisanenbekämpfung« in den besetzten Gebieten koordiniert und »Richtlinien für die Bandenbekämpfung« ausarbeiten lassen. Als Zeuge in den Nürnberger Prozessen sagte er aus, dass die Behandlung der Zivilbevölkerung und die Methoden der Bandenbekämpfung eine willkommene Gelegenheit zur »systematische[n] Reduzierung des Slawen- und Judentums« geboten habe.
All das behinderte in keiner Weise die spätere Karriere zum ersten Generalinspekteur der Bundeswehr. Ab 1961 bis 1964 war er Vorsitzender des Military Committee der Nato in Washington und Mitinitiator der ab 1967 angewandten Nato-Nuklearstrategie der Flexible Response (flexible Erwiderung).
Angesichts dieser von langer US-Hand vorbereiteter Personalverwendung wurde also die Reaktion der sowjetischen Besatzungsmacht in Abstimmung mit dem DDR-Ministerrat geradezu provoziert. Die Folgen des neuen Regimes nach der Praxis der UdSSR waren für die Menschen östlich von Elbe und Werra äußerst tragisch und schwerwiegend. Es käme der historischen Wahrheit wesentlich näher, sie als erste Opfer der Truman-Doktrin des Kalten Krieges zu würdigen.
70 Jahre später erinnerte Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) in Lenzen (Prignitz) zwar an die Geschehnisse und Folgen, verlor aber kein einziges Wort über die Vorgeschichte. Die Süddeutsche Zeitung illustrierte ihren Bericht** auf der Webseite gar mit dem Konterfei eines grinsenden Ministers Axel Vogel (Bündnis 90/Die Grünen) während der Gedenkveranstaltung. Armin Laschet lässt grüßen.
Es steht außer Frage, dass weder Bonn noch Berlin zu jener Zeit und sogar bis 1990 so souverän waren, um Fragen zu entscheiden, die allein der Entscheidungsbefugnis der vier Siegermächte oblagen. Das haben Woidkes Redeschreiber*innen wohl nicht gewusst.
* Den Befehl zum Einsatz der ersten Atombombe auf Hiroshima gab dieser US-Präsident am 25. Juli 1945 während der Potsdamer Konferenz der Siegermächte.
** https://www.sueddeutsche.de/wissen/geschichte-lenzen-elbe-brandenburg-gedenkt-der-opfer-im-ehemaligen-todesstreifen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220527-99-454773