Die entscheidenden Auseinandersetzungen stehen noch aus: die Kämpfe um die Verteilung der pandemiebedingten Profite und Lasten. Um Position beziehen zu können, reicht es nicht, nur auf das Virus und die Maßnahmen der Bundesregierung zu starren.
Die Pandemie ist Kulminationspunkt einer chronischen Krise
Kennzeichnend für die Stimmung in Deutschland vor Corona war der Widerspruch zwischen der äußeren Darstellung (»Deutschland geht es gut«, Bundeskanzlerin Merkel) und einer differenzierten Tiefenstruktur der Gesellschaft. Umfragen, Sozialdaten und Studien zeigen ein wachsendes Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber dem Staat und seinen Institutionen (vgl. meinen Beitrag »Elite vertraut dem Staat«, Ossietzky, 14/2020), das Gefühl politischer Ohnmacht. Wem kann man glauben? Wer hat Einfluss auf die Politik? Die Masse der Menschen gewiss nicht.
Eine tiefe soziale Spaltung geht Hand in Hand mit Vereinzelung, Entsolidarisierung, aber auch Verrohung. Unter der Oberfläche sammeln sich Unsicherheit, Angst und das Gefühl, als Mensch und als Staatsbürger missachtet und entwertet zu sein. Wie lang kann sich ein Land mit dem propagierten Selbstverständnis von Demokratie, sozialem Rechtsstaat und Menschlichkeit ohne autoritäres Durchgreifen halten, wenn sich die BürgerInnen vom Staat nur als Verbraucher, Kostenfaktor und Überwachungsobjekt behandelt fühlen? Die Regierung und die Machtelite mühen sich, den schönen Schein zu wahren, aber unter der Oberfläche brodelt es – Corona beschleunigt sowohl die Entdemokratisierung als auch den Vertrauensverlust.
Plötzlich ist eine Bedrohung konkret, im Alltag spürbar. Sie lauert nicht in der Sahelzone, in Syrien oder im Jemen, sondern in der Einkaufszone, in der Kirche oder im Freundeskreis. Man ist selbst betroffen! »Plötzlich müssen die Westler ohne Restaurants, Friseursalons, Fitnessstudios, Kinos auskommen – das ist in der Tat ein hartes Los!«, bemerkt der sudanesische Künstler Khalid Albaih (Melody&Rhythmus, 3/2020). »Es tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss, aber Ihre ›neue Normalität‹ ist für Milliarden dunkelhäutiger […] Menschen weltweit die alte Normalität.« Kränkung und Verachtung seitens der Elite und die direkte Betroffenheit durch Krankheitsangst und drastische Regierungsmaßnahmen bewirkten einerseits Verdrängung und Verleugnung der Gefahr, andererseits eine Selbstermächtigung: Wir lassen uns nicht alles gefallen! Wir sind systemrelevant! Wir sind selbstbestimmt und frei!
Zehntausende gingen auf die Straße, forderten Freiheit, Demokratie und Grundrechte, riefen zu Widerstand gegen die Politiker auf. Und viele hatten eigene, radikale Wahrheiten, oft grotesk verschroben und in Allmachtfantasien schwelgend, wie in folgendem, breit verteiltem Papier: Ziel sei die »Beendigung von Politik, Parteien, Steuern, Bürokratie und anderer staatlich organisierter oder gebilligter Kriminalität auf deutschem Boden sowie die Installation eines allumfassenden philosophischen Wohlfühlklimas … Wir entfesseln nichts als Liebe, Reichtum und Gesundheit für alle.« In ihrer politischen Unbedarftheit, aber auch gefährlichen rechtsoffenen Ideologie sind die Kundgebungen eine Einladung an Rechtsextreme, die zunehmend Einfluss gewinnen. Berechtigte Kritik an Regierungsmaßnahmen mischte sich mit faktenfreien Behauptungen. Sehr konkret zeigte sich dagegen ein »Maßnahmenstaat«, der per Verordnungen auch noch formaldemokratische Regeln missachtete (vgl. Rolf Gössner: »Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand«, Ossietzky Verlag 2020).
Die »Demaskierung« der Demokratie
Muss man sich nicht freuen über Selbstermächtigung, über Eintreten für Freiheit und Demokratie? Ohne politische Analyse und ohne konkrete Ziele verfiel der heterogene Protest in irrationalen Radikalismus. Die Querdenker zeigen die Wirkung langer neoliberaler ›Erziehung‹: Wir brauchen keinen Staat, es gibt keine Gesellschaft; jeder kämpft für sich. Was wahr ist, bestimmen wir.
Wenn Freiheit an der Schutzmaske festgemacht, Grundrechte wegen Abstandsregeln eingeklagt werden, verrutschen die Kategorien. Man reagiert die eigene Frustration ab, wenn der Mundschutz zum Beginn faschistischer Herrschaft und seine Abnahme zu einem Menschenrecht erklärt wird. Leider öffneten sich auch verdienstvolle, kritische Plattformen für maßlose Polemik. Hier als Beispiel Ausschnitte an einem beliebigen Tag (26.9.) aus Headlines im Online-Magazin Rubikon: »Wir befinden uns nicht auf dem Weg in eine Diktatur, sondern sind längst dort angelangt«; »… Corona-Maßnahmen, eines der größten Verbrechen unserer Zeit«; »Die offizielle Erzählung über Covid-19 … ebnet dem globalen Polizeistaat den Weg«. Die Linke geriet in eine Sandwichposition zwischen autoritärem Staat und einem grotesken »Widerstand«, der sich gar mit dem im Faschismus vergleicht.
Verletzung der Grundrechte, Missachtung von Menschenrechten, Abbau der Demokratie: Da gibt es wahrlich Gründe für Protest und Widerstand. Armut und Ungleichheit, Privatisierung der Daseinsvorsorge, neuer Militarismus und Imperialismus, das Sterben der Flüchtlinge an der EU-Grenze, Zerstörung der Umwelt, systematische Manipulation und Überwachung, unmenschliche Arbeitsbedingungen … Auch die zu Recht beklagte mangelnde Empathie und die Missachtung menschlicher Bedürfnisse kamen nicht erst durch Corona-Beschränkungen in die Welt. Wo spürte man Mitgefühl mit Kranken, als Kliniken privatisiert und kaputtgespart wurden? Waren die Zustände in Pflegeheimen human, bewirkte erst Corona die Kinderarmut? Wie oft hätte man sich Massendemonstrationen gewünscht bei der Aufdeckung der Steuerparadiese, der Privatisierung der Altersvorsorge und des Gesundheitswesens, der Auslieferung von Grundbedürfnissen an den Profit, der zielgerichteten staatlichen Zerstörung des Journalisten Assange! So lang Corona-Schutzmasken und Abstandsregeln die Hauptthemen bei Protesten bleiben, kann die Machtelite über die Pandemie als Ventil für »Widerstand« nur froh sein.
Der Staat als Manager des Kapitals
In einer treffenden Polemik zeigte Jan Böhmermann die »Wahrheit über Verschwörungen« (https://www.youtube.com/watch?v=89Ey9BrfCuI). Die immense Macht und der demokratiewidrige politische Einfluss von Finanz- und Digitalkonzernen spottet jeder »Verschwörungstheorie«, solange die Kritik an der Oberfläche bleibt oder an einzelnen Personen festgemacht wird. Sie verkennt die Normalität des Kapitalismus. Aber realitätsferne Fantasien über dunkle Mächte sind gefährlich, weil sie den Profiteuren Gelegenheit geben, fundierte Kritik an den Kapitalimperien zu diskreditieren.
Selbstverständlich handelt der Staat auch während der Pandemie als ideeller Gesamtkapitalist. Das bedeutet nicht nur, dass er die Partialinteressen verschiedener Akteure auf dem Markt auszugleichen sucht und nur dort Zugeständnisse an das Gemeinwohl macht, wo der Druck es erzwingt. Es bedeutet auch, dass er die Krisenzeit im Sinne einer »Schockstrategie« (Naomi Klein) nutzt. Während die Mehrzahl der Menschen mit den Sorgen und Belastungen durch Verdienstausfall, Kinderbetreuung und Vereinsamung zu kämpfen hat, können fast unbemerkt die Gewichte zugunsten der Profiteure verschoben und imperiale Ziele durchgesetzt werden: Die soziale Kluft wächst, und der deutsche Militarismus kennt keine Grenzen mehr.
Und selbstverständlich wird sich der Verteilungskampf dramatisch zuspitzen, wenn es um die Kosten der Pandemie geht. Die Milliarden Euro, die derzeit meist ohne sozial-ökologische Auflagen an Lufthansa, an Rüstungs-, Pharma- und Autoindustrie ausgezahlt werden, sollen die bezahlen, die davon in keiner Weise profitiert haben – es sei denn sie setzten sich zur Wehr. Zwar haben die Digitalkonzerne unvorstellbare Profite eingestrichen, ohne dass sie davon für das Gemeinwohl einen Beitrag leisten müssten. Ungleichheit trifft jetzt schon die global Ausgebeuteten, die existenzielle Bedrohung wird für Hunderte Millionen Menschen größer. Während die reichen Länder Impfstoff horten, wird an den Prinzipien der Ungleichheit nicht gerüttelt (vgl. Ulrike Baureithel, »Purer Impfnationalismus«, der Freitag, 3.12.2020), das Patentrecht nicht geändert, die Waffen werden weiter exportiert und die sozialen Verhältnisse global in ihrer ganzen ungerechten Wucht aufrecht erhalten. Aller Voraussicht nach wird Covid-19 nicht das letzte Virus bleiben – nach SARS, Vogelgrippe, Ebola –, das die Gesellschaft erschüttert. Aber es ist nicht das Virus an sich, das die Menschen bedroht. Das Agrarsystem, Monokulturen, die Klimakatastrophe müssen unweigerlich dazu führen, dass neue Pandemien entstehen und biologische wie auch soziale Systeme aus dem Gleichgewicht geraten, bis eine explosive Lage etwas Neues, Besseres erzwingt.
Die meisten Menschen empfinden Maßnahmen wie Schutzmasken und Abstandsregeln als angemessen und notwendig, und sei es nur als Geste der Rücksichtnahme und Solidarität. Viele kritisieren eher die drastische Verschärfung der sozialen Ungleichheit und den wachsenden deutschen Militarismus. Das Virus wird besonders gefährlich in einem System, das Kapitalinteressen über die Bedürfnisse von Menschen stellt. So möchte man den (quer?)denkenden DemonstrantInnen zurufen: Leute, kämpft für die richtigen Ziele! Nicht gegen Maske und Abstandsregeln, sondern für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Frieden!