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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Corona: Unsere Unwissenheit zugeben

Im Maga­zin Free21 vom Juni 2021 beschreibt Micha­el Esfeld, Wis­sen­schafts­phi­lo­soph und Mit­glied der Leo­pol­di­na, in einem Arti­kel die Bedro­hun­gen der Frei­heit durch die Reak­tio­nen der Staa­ten auf Coro­na. Er stellt zwei Kon­zep­te vor, um deren Ver­wirk­li­chung gerun­gen wird. Karl Pop­per ver­tritt in sei­nem Buch »Die offe­ne Gesell­schaft und ihre Fein­de« einen libe­ra­len Ansatz, in dem die Grund­rech­te bedin­gungs­los gel­ten und daher die mensch­li­che Per­son in ihrer Frei­heit ernst genom­men wird. Dage­gen steht, so Esfeld, ein Staats­ver­ständ­nis, das sich auf Pla­ton, Hegel oder Marx beruft, Phi­lo­so­phen, die »die Suche nach dem, was jeder als ein für sich gelin­gen­des Leben ansieht, durch den Wis­sens­an­spruch um ein abso­lu­tes Gutes erset­zen, auf das die Geschich­te zusteu­ert«. Wenn, so argu­men­tiert er, eine Eli­te glaubt, tech­no­kra­tisch bestim­men zu kön­nen, wo die gesell­schaft­li­che Rei­se hin­geht, ist es mit unse­rer Frei­heit vor­bei. Esfeld kommt zum Schluss, dass die staat­li­chen Reak­tio­nen auf Coro­na in Euro­pa kaum weni­ger rigo­ros waren als die in Chi­na. Alles ent­schei­de sich dar­an, ob wir in der Lage sind, die­sen Trend zum Auto­ri­ta­ris­mus zu stoppen.

Hier muss ich einen Irr­tum ein­ge­ste­hen. Zu Anfang der Coro­na-Pan­de­mie habe ich die Mei­nung ver­tre­ten, der Staat habe so auto­ri­tär reagiert, weil wir so viel über das Virus wis­sen. In frü­he­ren Zei­ten, so mein­te ich, muss­te man Seu­chen hin­neh­men, weil man kei­ne Gegen­mit­tel kann­te. Da aber der Erre­ger heu­te durch mikro­sko­pi­sche Ana­ly­se iden­ti­fi­ziert wer­den kann, emp­fand man es als eine mora­li­sche Ver­pflich­tung, eine Infek­ti­on unter allen Umstän­den ver­hin­dern zu müs­sen, gera­de auch bei Per­so­nen, die, wie Boris Pal­mer erklär­te, weni­ge Mona­te spä­ter sowie­so gestor­ben wären. Das war eines der Aus­sprü­che, die Pal­mer böse Kri­ti­ken ein­ge­bracht haben, aber ich bin über­zeugt, er und ande­re, die sich gegen den auto­ri­tä­ren Zeit­geist stem­men, wer­den weit­ge­hend ver­leum­det und absicht­lich falsch verstanden.

Heu­te und im Hori­zont der Aus­füh­run­gen von Micha­el Els­feld scheint mir: Wir wis­sen gar nicht viel, son­dern zu wenig. Viel­leicht wis­sen wir viel über das Virus. Wovon aber unse­re Poli­ti­ker und Poli­ti­ke­rin­nen offen­bar nichts wis­sen, das sind die Aus­wir­kun­gen ihres poli­ti­schen Han­delns. Die Poli­tik der Iso­la­ti­on war nicht nur grund­ge­setz­wid­rig, son­dern weit­ge­hend will­kür­lich und auf wei­te Strecken bar jeden hygie­ni­schen Sinns. Ihre Aus­wir­kun­gen auf Bewoh­ner von Senio­ren­hei­men oder Pati­en­ten in Kran­ken­häu­sern waren fatal. Armin Laschet hat sich für die­se Irr­tü­mer sei­ner Ver­wal­tung ent­schul­digt; aber wird er bereit sein, dar­aus Kon­se­quen­zen zu zie­hen und in Zukunft behörd­li­che Gän­ge­lun­gen und Ein­schrän­kun­gen der Grund­rech­te zu unterlassen?

Die Poli­tik hat sich auf die Wis­sen­schaft beru­fen, aber »die Wis­sen­schaft« gibt es nicht. Selbst unter den Viro­lo­gen gab es man­che, die über den Tel­ler­rand ihrer Wis­sen­schaft schau­en konn­ten und davor warn­ten, die Fol­gen eines Lock­downs zu unter­schät­zen. Auf Sozio­lo­gie und Psy­cho­lo­gie hat man anson­sten wenig gehört. So bleibt der Ver­dacht, dass die Wis­sen­schaft nur als Vor­wand dien­te, um bestimm­te Inter­es­sen durch­zu­set­zen. Ich erin­ne­re in die­sem Zusam­men­hang an die Ein­füh­rung der D-Mark im Gebiet der DDR durch Hel­mut Kohl. Wis­sen­schaft­ler hat­ten ihn gewarnt, das wer­de kata­stro­pha­le Fol­gen haben, aber Kohl erklär­te, Wis­sen­schaft schön und gut, aber die Poli­tik habe ihre eige­nen Prio­ri­tä­ten. Viel­leicht hat­te er damit sogar Recht? Man kann gut dar­über streiten.

Micha­el Esfeld weist nach, dass eine offe­ne, nicht auto­ri­tä­re Her­an­ge­hens­wei­se an eine Pan­de­mie wie Coro­na nicht weni­ger effek­tiv ist als die auto­ri­tä­re. Er ver­gleicht in Euro­pa Schwe­den und Deutsch­land mit­ein­an­der und in den USA Nord-Dako­ta (libe­ral) mit Süd-Dako­ta (auto­ri­tär). Und das Ergeb­nis ist, dass eine unge­steu­er­te Anpas­sung der Men­schen an eine Kri­sen­si­tua­ti­on bes­ser funk­tio­niert, jeden­falls mehr Lebens­zeit ret­tet als die Ein­schrän­kun­gen der Bewe­gungs­frei­heit, die wir erlebt haben. Uns wird mit schreck­li­chen Bil­dern aus den Kran­ken­häu­sern Angst gemacht; aber die allein in Alten­hei­men vor sich hin Sie­chen­den könn­ten genau­so gut zu Schreckens­bil­dern tau­gen. Es kommt dazu, dass die ver­ord­ne­ten Kon­takt­be­schrän­kun­gen einen Trend beför­dern, der unse­re Gesell­schaft sowie­so zu unter­mi­nie­ren droht: Den Trend zur Ato­mi­sie­rung, zur Ent­so­li­da­ri­sie­rung, wonach jede/​r nur sich selbst der oder die Näch­ste ist.

Es gibt noch eine wei­te­re fata­le Ten­denz in unse­rer Gesell­schaft, die ich die Schuld­ten­denz nen­nen möch­te. Wir alle wis­sen, dass wir mit jedem Flug, mit jeder Auto­fahrt, ja, sogar mit jedem Ein­kauf die Kli­ma­ka­ta­stro­phe, aber auch die Unter­drückung von Men­schen in allen Tei­len der Welt beför­dern. Das sind syste­mi­sche Wir­kun­gen, auf die die Ein­zel­nen so gut wie kei­nen Ein­fluss haben. Na klar, man kann einen Urlaub ohne Flug pla­nen oder sich bemü­hen, fair gehan­del­ten Kaf­fee oder Jeans zu kau­fen. Die­se Fra­gen kön­nen als Gan­ze aber nur poli­tisch, das heißt über gesetz­li­che Rege­lun­gen gelöst wer­den. Trotz­dem gibt es immer wie­der Men­schen unter uns, die ihren Mit­men­schen ein schlech­tes Gewis­sen ein­häm­mern. Wie vie­le Ober­leh­rer haben schon den Sitz unse­rer Mas­ke kri­ti­siert, uns zum Test, zur Imp­fung ermahnt? Im End­ef­fekt füh­len wir uns dann nicht weni­ger schul­dig als gewis­se Chri­sten in frü­he­ren Zei­ten, die im Ange­sicht ihrer Sün­den immer­zu in Sack und Asche gin­gen. Sol­che gede­mü­tig­ten, mit Selbst­vor­wür­fen geschla­ge­nen Men­schen sind für jede Art von Dik­ta­tur anfäl­lig. Und eine sol­che Dik­ta­tur droht uns – mit der näch­sten Pan­de­mie oder mit allen Pro­ble­men, die die Kli­ma­ka­ta­stro­phe mit sich brin­gen wird.

Mir scheint daher, wir müs­sen unse­ren Kam­pa­gnen gegen die Atom­waf­fen oder für eine Begren­zung des Kli­ma­wan­dels eine wei­te­re hin­zu­ge­sel­len: Eine Kam­pa­gne für den Erhalt der offe­nen Gesell­schaft, in der Grund­rech­te bedin­gungs­los gel­ten. Bis­her jeden­falls haben wir kei­nen Grund, auf das auto­ri­tä­re Chi­na her­ab­zu­blicken: Unse­re Poli­tik ist nicht besser.