Im Magazin Free21 vom Juni 2021 beschreibt Michael Esfeld, Wissenschaftsphilosoph und Mitglied der Leopoldina, in einem Artikel die Bedrohungen der Freiheit durch die Reaktionen der Staaten auf Corona. Er stellt zwei Konzepte vor, um deren Verwirklichung gerungen wird. Karl Popper vertritt in seinem Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« einen liberalen Ansatz, in dem die Grundrechte bedingungslos gelten und daher die menschliche Person in ihrer Freiheit ernst genommen wird. Dagegen steht, so Esfeld, ein Staatsverständnis, das sich auf Platon, Hegel oder Marx beruft, Philosophen, die »die Suche nach dem, was jeder als ein für sich gelingendes Leben ansieht, durch den Wissensanspruch um ein absolutes Gutes ersetzen, auf das die Geschichte zusteuert«. Wenn, so argumentiert er, eine Elite glaubt, technokratisch bestimmen zu können, wo die gesellschaftliche Reise hingeht, ist es mit unserer Freiheit vorbei. Esfeld kommt zum Schluss, dass die staatlichen Reaktionen auf Corona in Europa kaum weniger rigoros waren als die in China. Alles entscheide sich daran, ob wir in der Lage sind, diesen Trend zum Autoritarismus zu stoppen.
Hier muss ich einen Irrtum eingestehen. Zu Anfang der Corona-Pandemie habe ich die Meinung vertreten, der Staat habe so autoritär reagiert, weil wir so viel über das Virus wissen. In früheren Zeiten, so meinte ich, musste man Seuchen hinnehmen, weil man keine Gegenmittel kannte. Da aber der Erreger heute durch mikroskopische Analyse identifiziert werden kann, empfand man es als eine moralische Verpflichtung, eine Infektion unter allen Umständen verhindern zu müssen, gerade auch bei Personen, die, wie Boris Palmer erklärte, wenige Monate später sowieso gestorben wären. Das war eines der Aussprüche, die Palmer böse Kritiken eingebracht haben, aber ich bin überzeugt, er und andere, die sich gegen den autoritären Zeitgeist stemmen, werden weitgehend verleumdet und absichtlich falsch verstanden.
Heute und im Horizont der Ausführungen von Michael Elsfeld scheint mir: Wir wissen gar nicht viel, sondern zu wenig. Vielleicht wissen wir viel über das Virus. Wovon aber unsere Politiker und Politikerinnen offenbar nichts wissen, das sind die Auswirkungen ihres politischen Handelns. Die Politik der Isolation war nicht nur grundgesetzwidrig, sondern weitgehend willkürlich und auf weite Strecken bar jeden hygienischen Sinns. Ihre Auswirkungen auf Bewohner von Seniorenheimen oder Patienten in Krankenhäusern waren fatal. Armin Laschet hat sich für diese Irrtümer seiner Verwaltung entschuldigt; aber wird er bereit sein, daraus Konsequenzen zu ziehen und in Zukunft behördliche Gängelungen und Einschränkungen der Grundrechte zu unterlassen?
Die Politik hat sich auf die Wissenschaft berufen, aber »die Wissenschaft« gibt es nicht. Selbst unter den Virologen gab es manche, die über den Tellerrand ihrer Wissenschaft schauen konnten und davor warnten, die Folgen eines Lockdowns zu unterschätzen. Auf Soziologie und Psychologie hat man ansonsten wenig gehört. So bleibt der Verdacht, dass die Wissenschaft nur als Vorwand diente, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Einführung der D-Mark im Gebiet der DDR durch Helmut Kohl. Wissenschaftler hatten ihn gewarnt, das werde katastrophale Folgen haben, aber Kohl erklärte, Wissenschaft schön und gut, aber die Politik habe ihre eigenen Prioritäten. Vielleicht hatte er damit sogar Recht? Man kann gut darüber streiten.
Michael Esfeld weist nach, dass eine offene, nicht autoritäre Herangehensweise an eine Pandemie wie Corona nicht weniger effektiv ist als die autoritäre. Er vergleicht in Europa Schweden und Deutschland miteinander und in den USA Nord-Dakota (liberal) mit Süd-Dakota (autoritär). Und das Ergebnis ist, dass eine ungesteuerte Anpassung der Menschen an eine Krisensituation besser funktioniert, jedenfalls mehr Lebenszeit rettet als die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die wir erlebt haben. Uns wird mit schrecklichen Bildern aus den Krankenhäusern Angst gemacht; aber die allein in Altenheimen vor sich hin Siechenden könnten genauso gut zu Schreckensbildern taugen. Es kommt dazu, dass die verordneten Kontaktbeschränkungen einen Trend befördern, der unsere Gesellschaft sowieso zu unterminieren droht: Den Trend zur Atomisierung, zur Entsolidarisierung, wonach jede/r nur sich selbst der oder die Nächste ist.
Es gibt noch eine weitere fatale Tendenz in unserer Gesellschaft, die ich die Schuldtendenz nennen möchte. Wir alle wissen, dass wir mit jedem Flug, mit jeder Autofahrt, ja, sogar mit jedem Einkauf die Klimakatastrophe, aber auch die Unterdrückung von Menschen in allen Teilen der Welt befördern. Das sind systemische Wirkungen, auf die die Einzelnen so gut wie keinen Einfluss haben. Na klar, man kann einen Urlaub ohne Flug planen oder sich bemühen, fair gehandelten Kaffee oder Jeans zu kaufen. Diese Fragen können als Ganze aber nur politisch, das heißt über gesetzliche Regelungen gelöst werden. Trotzdem gibt es immer wieder Menschen unter uns, die ihren Mitmenschen ein schlechtes Gewissen einhämmern. Wie viele Oberlehrer haben schon den Sitz unserer Maske kritisiert, uns zum Test, zur Impfung ermahnt? Im Endeffekt fühlen wir uns dann nicht weniger schuldig als gewisse Christen in früheren Zeiten, die im Angesicht ihrer Sünden immerzu in Sack und Asche gingen. Solche gedemütigten, mit Selbstvorwürfen geschlagenen Menschen sind für jede Art von Diktatur anfällig. Und eine solche Diktatur droht uns – mit der nächsten Pandemie oder mit allen Problemen, die die Klimakatastrophe mit sich bringen wird.
Mir scheint daher, wir müssen unseren Kampagnen gegen die Atomwaffen oder für eine Begrenzung des Klimawandels eine weitere hinzugesellen: Eine Kampagne für den Erhalt der offenen Gesellschaft, in der Grundrechte bedingungslos gelten. Bisher jedenfalls haben wir keinen Grund, auf das autoritäre China herabzublicken: Unsere Politik ist nicht besser.