»Niemand auf diesem Globus ist sicher, bevor nicht alle sicher sind« – so bringt der Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros Ghebreyesus, die Tatsache zum Ausdruck, dass der beste Weg, um aus dieser Pandemie herauszukommen, ist, sicherzustellen, dass die Menschen weltweit Zugang zu Impfstoffen haben. Das ist aber tatsächlich noch längst nicht der Fall. Während in vielen Ländern Europas im Sommer mehr als 60 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind, hatten etwa im subsaharischen Afrika bis Mitte 2021 erst maximal drei Prozent der Bevölkerung Zugang zu einer ersten Impfung. Nach jetzigem Stand wird – im Hinblick auf die Verfügbarkeit von Impfstoff – in Afrika frühestens ab 2023 eine Rückkehr zur Normalität möglich sein. Bis dahin bleibt viel Zeit, dass sich die Pandemie in weiteren Wellen durch afrikanische Länder frisst und sich dadurch auch neue Virusmutationen bilden werden.
Diese Lage legt gleich mehrere strukturelle Probleme offen: Einerseits hat sich der globale Norden bei den Impfstoffherstellern früh den Löwenanteil der verfügbaren Produktion gesichert. Dabei hätte die Corona-Pandemie auch die Chance geboten, die globale Gesundheitsarchitektur neu auszurichten: Die Weltgesundheitsorganisation hat zusammen mit Partnern – darunter auch die EU-Kommission und Deutschland – im Februar 2020 den »Access to COVID-19 Tools Accelerator (ACT-A)« ins Leben gerufen. Teil dieses Kooperationsmechanismus ist auch die COVAX-Initiative, mit der Impfstoffe armen Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt werden sollen. Obwohl Länder wie Deutschland bereits hohe Summen investiert haben, kommt der Mechanismus nur schleppend in Gang. Zwar hat COVAX im Februar 2021 mit der Auslieferung erster COVID-19 Impfstoffe begonnen und seitdem mehr als 90 Millionen Impfdosen an 133 Länder geliefert, darunter 69 Niedrigeinkommensländer. Geplant ist, bis Ende 2021 20 Prozent des Bedarfs in den teilnehmenden Ländern abzudecken (das sind immerhin fast 2,3 Milliarden Impfstoffdosen). Die Herausforderungen jedoch sind gigantisch.
In Afrika werden nur etwa ein Prozent der dort eingesetzten Impfstoffe lokal produziert (etwa Gelbfieberimpfstoffe im senegalesischen Institute Pasteur), wodurch sich der Kontinent in einer kritischen Abhängigkeit befindet. Das haben auch afrikanische Regierungen erkannt: Beim Impfgipfel der Afrikanischen Union Mitte April 2021 haben die afrikanischen Staaten ihren Willen bekräftigt, eigene Impfproduktionskapazitäten aufzubauen. Sie haben das Ziel formuliert, bis 2040 60 Prozent des afrikanischen Impfstoffbedarfs auf dem Kontinent zu produzieren. Das ist die langfristige Perspektive. Die geht natürlich weit über COVID hinaus – und umfasst die Produktion verschiedener Impfstoffe, sei es gegen Masern, Polio oder Gelbfieber, perspektivisch sicher auch gegen Malaria.
Politisch wird in den letzten Wochen vor allem die Patentfreigabe intensiv diskutiert. Doch machen wir uns nichts vor: Die wäre vor allem symbolischer Natur, denn die Patente sind nicht der wesentliche Engpass. Die zentrale Herausforderung für afrikanische Ländern sind Technologietransfer, die Verfügbarkeit von Fachkräften, Qualitätsinfrastruktur, ein funktionierendes regulatives Umfeld und die noch existierenden Handelsbarrieren zwischen den Ländern. Die Afrikanische Freihandelszone ist zwar politisch beschlossen, ihre Umsetzung wird aber noch Jahrzehnte brauchen. Daher wird auch der erste Schritt in der inzwischen absehbaren Produktion von Corona-Impfstoffen auf dem afrikanischen Kontinent zunächst die Abfüllung sein – im Branchenjargon »fill & finish« genannt. Im Südafrika hat das Unternehmen Aspen Pharmacare im Auftrag des Impfstoffherstellers Johnson & Johnson bereits mit entsprechender Produktion begonnen. Man kann davon ausgehen, dass im nächsten Schritt auch die noch neue Technologie der mRNA Impfstoffe – sicher noch in diesem Jahr – in ausgewählten afrikanischen Ländern in den Produktionsschritt fill & finish gehen wird.
Wir müssen uns aber vor Augen führen, dass auch die Verfügbarkeit von genügend Impfstoffdosen nicht alle Probleme lösen wird. Die Impfung von ganzen Bevölkerungen ist eine sehr voraussetzungshafte Unternehmung: Benötigt werden geschultes Gesundheitspersonal, funktionierende Kühlketten bis in ländliche Regionen und vor allem das Vertrauen der Bevölkerung in die Impfstoffe. Afrikanische Länder haben einige Erfahrung in der Impfung von Kindern, sie haben aber wenig Erfahrung in der schnellen Impfung der gesamten Bevölkerung. Und die Gesundheitssysteme in vielen afrikanischen Ländern sind fragil – auch wenn in den letzten Jahrzehnten viele Fortschritte erzielt worden sind und afrikanische Länder im Management von Epidemien viel Erfahrung haben (etwa im Bereich Ebola). Viele Menschen – vor allem im ländlichen Bereich – sind skeptisch, über soziale Medien kursieren Gerüchte und Fehlinformationen zu den Corona-Impfungen. Dies führte etwa dazu, dass Malawi nach seiner ersten COVAX-Impfstofflieferung seine ursprünglich geplante Priorisierung (Mitarbeiter*innen im Gesundheitssystem und über 60-Jährige) umgehend einstampfen musste, da sich nicht genügend Impfwillige fanden. Im Mai mussten von 450.000 erhaltenen Impfdosen insgesamt 20.000 vernichtet werden, da ihr Verfallsdatum erreicht war. Das gleiche Phänomen ließ sich auch im Kongo beobachten: Das Land gab einen Großteil seiner Dosen an COVAX zur Verteilung an Nachbarländer zurück, da die verfügbaren Impfstoffe nicht zeitnah in ausreichender Menge verimpft werden konnten.
Es ist eine heikle Situation. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wird eine Maßnahme, die Corona-Impfung, für alle Menschen auf dem Planeten geplant. Dass dieses Vorhaben auch auf Skepsis trifft, kann nicht verwundern. Tatsächlich kann das »Impfgeschehen« in Afrika in einer postkolonialen Debatte auch zur Waffe werden? Und das auf zwei Argumentationslinien:
Benachteiligung: Wie gewohnt, nutzen die Bewohner der industrialisierten Welt die Fortschritte in der Medizin zuerst für sich, und wir, die Bewohner des Südens, haben das Nachsehen. Damit werden gefährliche Muster in der Beziehung zwischen Nord und Süd bedient und können die Debatte befeuern, wonach der Kolonialismus nie aufgehört hat, sondern in neuer Maske immer wieder auftritt.
Misstrauen: Die Erinnerung an die HIV/AIDS-Epidemie könnte lehren, dass im Südlichen Afrika gegenüber den Ursprungsgeschichten (woher kommt AIDS?) alternative Erzählungen im Umlauf waren und dass die Medikamente, die allmählich entwickelt wurden, zunächst in den besonders betroffenen afrikanischen Ländern kaum zugänglich waren. Das ist nicht vergessen. Und die im subsaharischen Afrika verbreitete Impfskepsis (»die Impfung macht unfruchtbar«) knüpft an die Geschichte bisweilen problematischer Präsenz westlicher Gesundheitsmaßnahmen im afrikanischen Kontext an.
Es ist nicht hilfreich, die geringe Impfbereitschaft in Afrika als »unaufgeklärt« abzutun und vielleicht sogar auf Zwangsmaßnahmen zu setzen. Es könnte gefährlich sein, die Ursachen für Impfskepsis zu übersehen. Die Coronaimpfung birgt die Chance, sich mit Leidenschaft um eine weltinnenpolitische Gerechtigkeit zu bemühen, und dazu würde die Bereitstellung von Impfdosen ebenso gehören wie die Unterstützung lokaler Produktionsstätten für Impfstoffe. Sie schließt auch die Gefahr ein, Aversionen gegen europäische Dominanz zu beleben, die – mit Misstrauen gegen die Impfung gepaart – eine globale Coronastrategie zum Scheitern bringt. Europa kann in dieser Lage alles falsch machen oder Corona (unter der Devise: Es betrifft uns alle) zum Anlass für einem symbolischen Neuanfang werden lassen.
Der richtige oder falsche Umgang mit Corona wird (wenn nicht alles täuscht) auch über die Zukunft der Zusammenarbeit mit Afrika entscheiden. Die Münchener Sicherheitskonferenz kommt in ihrem Bericht zur Polypandemie zu einem klaren kritischen Schluss: »Die internationale Gemeinschaft hat jetzt die Wahl: Sie kann die Pandemiefolgen in anderen Teilen der Welt weiter vernachlässigen und damit zulassen, dass Covid-19 und seine Konsequenzen Ungleichheit und Verwundbarkeiten weiter verschärfen. Oder sie kann einen Kurswechsel vollziehen und auf eine Politik umschwenken, die Solidarität als Eigeninteresse begreift und den Schutz anderer als eine Investition in die Zukunft sieht.« Klar ist bereits jetzt der Verlust jahrelanger Entwicklungsfortschritte in den Bereichen Hunger- und Armutsbekämpfung. Dazu kommt, dass infolge der Pandemie demokratische Systeme und Prinzipien noch sehr viel stärker in Bedrängnis geraten als vor der Pandemie. Der Bericht analysiert diesen stärker werdenden Druck auf demokratische Prinzipien weltweit im Detail, ebenso wie die durch Covid-19 verstärkte Krise des Multilateralismus (Polypandemie. Sonderausgabe des Munich Security Report zu Entwicklung, Fragilität und Konflikt in der Covid-19-Ära, November 2020).
Zugleich wäre es kurzsichtig, zu übersehen, dass mit Covid-19 die Frage nach einer künftigen planetaren Gesundheitspolitik gestellt ist, die über das bisweilen kurzatmig-aktualistische Handeln hinausweist. Können Gesundheitsfragen noch unabhängig von der dramatischen Gefährdung des Planeten betrachtet und von den ökologischen Zusammenhängen abgekoppelt diskutiert werden? »Was würde es bedeuten, wenn nicht alles, was der menschlichen Gesundheit nutzt, als ›gut‹ zu betrachten wäre?«, fragen Abou Farman und Richard Rottenburg in einem zukunftsweisenden Aufsatz in der Zeitschrift MAT Medicine Anthropology Theory (https://doi.org/10.17157/mat.6.3.569). Wir haben womöglich die Zukunft mit Hypotheken belastet, indem wir davon ausgegangen sind, dass jeder Fortschritt in der Gesundheitspolitik gut ist und bis ins Unendliche fortgesetzt werden kann, aber das ist nicht möglich – so zitieren die Autoren die Sicht von Andrew Haines, Professor an der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Die Externalisierung der Folgen von Umweltzerstörung und Klimawandel treffen bekanntlich vor allem die Armen dieser Welt, und die Frage nach einer globalen Impfgerechtigkeit ist nicht zu trennen von der Frage nach »capitalism, overconsumption, extractivism, corporate profits or wars and global militarisation« (ebd.). Dass die Fortschritte im Bereich »menschlicher Gesundheit« beträchtliche Zerstörungsfolgen in anderen Bereichen haben, ist inzwischen unübersehbar. Der Handlungsdruck, der mit Covid-19 entstanden ist, ist ebenfalls unübersehbar. Die globalen Impfungerechtigkeiten lassen in den betroffenen peripheren Ländern koloniale Reminiszenzen wieder aufleben. Aber in all dem durch die Pandemie entstandenen Handlungsdruck darf die Frage nach einer globalen, ökologisch sensiblen Gesundheitspolitik nicht zum Schweigen gebracht werden.
Matthias Rompel war jahrelang Landesdirektor der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Malawi und in Äthiopien und Dschibuti und leitet gegenwärtig in der GIZ die Abteilung Südliches Afrika. Reimer Gronemeyer, Professor für Soziologie, hat zahlreiche Forschungsprojekte in verschiedenen afrikanischen Ländern durchgeführt.