Im Windschatten des Ukrainekriegs schlägt wieder einmal die Stunde der Geostrategen. Die Arbeit zahlreicher, zumeist amerikanischer Denkfabriken läuft auf Hochtouren. Der Ukrainekrieg selbst ist nur ein Stellvertreterkrieg, der die Schwächung der »Regionalmacht« Russland zum Ziel hat. Die amerikanische Seite hat den Krieg zur Neugruppierung der westlichen Bündnispartner und zur weiteren Aufrüstung genutzt. Darüber hinaus nimmt man den eigentlichen Konkurrenten und weltpolitischen Gegenspieler China ins Visier. China will man nicht nur in Schach halten, sondern definitiv von seinen Machtansprüchen verdrängen. Die Antichinapolitik begann bereits unter Präsident Obama; unter Trump, der nicht nur auf Aufrüstung, sondern auf massive Sanktionen setzte, wurde sie fortgesetzt. Für Biden wird sie jetzt zum Kernpunkt seiner Politik. Chinas militärische, politische und ökonomische Ambitionen sollen hintertrieben, sein Aufstieg zur Weltmacht definitiv verhindert werden. Dazu werden sowohl diplomatische als auch militärische Strategien benötigt, die den gesamten indopazifischen Raum betreffen. Eine Schlüsselrolle dürfte dabei Taiwan spielen, das als Bündnispartner aufgewertet wird und militärisch-geographisch als wichtiges Bindeglied in der China vorgelagerten Inselkette gilt. Dass auch Biden von solchen Szenarien ausgeht, wurde im Mai 2022 bei einem Besuch in Japan klar, als er davon sprach, dass die USA Taiwan verteidigen werden, sollte es von China angegriffen werden. Natürlich wurde sogleich zurückgerudert und betont, dass die 1979 vereinbarte Ein-China-Politik, der zufolge Taiwan politisch durch China repräsentiert wird, nach wie vor bindend sei. Die Taiwaner müssten sich also bei einem Angriff selbst verteidigen.
Nach außen gibt sich die amerikanische Regierung diplomatisch. So hielt der Außenminister Antony Blinken am 26.5.2022 eine Grundsatzrede, die die Haltung gegenüber dem Weltmachtkonkurrenten China umreißen sollte. Dabei beruft er sich auf eine internationale »regelbasierte« Ordnung, auf die sich 1945 alle Länder geeinigt hätten, um freie Wirtschaft, Gewaltverzicht und Menschenrechte zu garantieren. Diese internationale Ordnung sei nun nicht nur von Putin, sondern von China »ernsthaft und nachhaltig« herausgefordert worden, ja, China habe, anders als Putin, das Potential, die alte Ordnung zu unterminieren und eine eigene zu etablieren. Es habe zwar von der Öffnung zum Westen erheblich profitiert, wolle aber nun in den modernen Technologien eine Vormachtstellung gewinnen und seinen Einfluss auch im indopazifischen Raum ausdehnen, für Blinken ein klarer Beweis, dass China der Weltherrschaft anstrebe.
China sei in den letzten Jahren nach innen repressiver und nach außen aggressiver geworden. Es habe eine Überwachungsgesellschaft etabliert, die Rechte von Arbeitern beschnitten und gegen alle möglichen Handelsgesetze verstoßen. Es bedrohe Nachbarn, die ihm in die Quere kommen, zögere nicht, sie einzuschüchtern oder massive Vergeltung zu üben. Da China Putins Invasion nicht verurteilt habe, sei klar, was die Nachbarn Chinas in Zukunft zu gewärtigen hätten. Da sich dieser Kurs kaum korrigieren lasse, wolle man ein Umfeld schaffen, um Chinas Machenschaften entgegenzutreten. Dies betrifft zum einem die Stärkung der eigenen Position – der Investition in Infrastruktur, Bildung, moderne Technologien. Auch das eigene Demokratiemodell wird als überlegen herausgestellt, denn nur dieses ermögliche die freie Entfaltung individueller Fähigkeiten und einen öffentlichen kritischen Meinungsaustausch, der auch Mängel anspreche. Die gleiche Freiheitlichkeit herrsche auch unter den Partnern der USA, deren Eigenständigkeit stets gewahrt bleibe.
Blinken geht es ferner um eine breite Allianz, um in allen wichtigen Weltgegenden – ob im indopazifischen Raum, ob in Asien oder Europa – die Wirtschaftsbeziehungen zu verstärken und Geschlossenheit gegenüber China zu demonstrieren. Störungsversuche seitens Chinas sollten so ins Leere laufen. Vor allem sollen auch die Investitionsbemühungen Chinas abgeblockt werden, da sie in der Regel auf Verschuldung, Erpressung und die Missachtung von Arbeiterrechten sowie auf Umweltzerstörung hinausliefen. Das Bild, das Blinken hier von China zeichnet, ist das eines Parias, dessen imperialistischen Avancen man sich widersetzen müsse. Natürlich fehlt auch der Hinweis auf die Defizite im Bereich der Menschenrechte nicht: Blinken spricht von mehr als einer Million internierter Uiguren, »brutalen Kampagnen« gegen die Minderheit in Tibet und offener politischer Repression in Hong Kong.
Die amerikanische Strategie besteht für Blinken darin, auf der Basis eines gestärkten Potentials und intensivierter Zusammenarbeit mit den Partnern und Alliierten China nieder zu konkurrieren (»outcompete«), um dessen selbstsüchtigen, marktverzerrenden, menschenverachtenden und umweltzerstörenden Machenschaften ein Ende zu bereiten. Das Ganze soll nach Möglichkeit friedlich verlaufen. Konkurrenz müsse nicht in offenen Konflikt oder Kalten Krieg ausarten. Doch gleichzeitig verweist Blinken auf die Notwendigkeit einer »integrierten Abschreckung«, um die aggressiven Manöver Chinas zu unterbinden. Was Taiwan betrifft, so unterstütze man zwar keinerlei Unabhängigkeitsbemühungen, die fortgesetzte Aufrüstung werde nicht über eine legitime Selbstverteidigung hinausgehen. Allerdings solle Taiwan durch Teilnahme an internationalen Gremien aufgewertet werden. Die derzeitige Destabilisierung der Lage in und um Taiwan lasse sich darauf zurückführen, dass China Taiwan, das Blinken als höchst lebendige Demokratie charakterisiert, ständig unter Druck setze.
Blinken will somit aus einer Position der Stärke Chinas angeblichem Kampf um die Weltherrschaft entgegentreten. Es gelte, dessen Praktiken zu brandmarken und zu unterbinden. Die Aufgabe der Diplomatie bestehe vor allem darin, die unvereinbaren Gegensätze deutlich zu machen und ansonsten auf Gebieten wie der Bekämpfung des Klimawandels und des Terrorismus zusammenzuarbeiten. Doch auch bei Blinken klingt schon an, dass die Gesamtstrategie – abgesehen davon, dass sie auf einem massiv verzerrten Bild der Systemkonfrontationen der letzten siebzig Jahre beruht – wohl kaum ohne militärisches Drohpotential funktioniert.
Die Diskussionen über angemessene Strategien finden zum Teil in der amerikanischen Öffentlichkeit statt. So wurde ein Buch des Militärberaters Elbridge Colby mit dem programmatischen Titel »Strategy of Denial. American Defense in the Age of Great Power Conflict« breit diskutiert, ja, es tauchte sogar auf einer Bestsellerliste auf. Mit »denial« ist die Absicht gemeint, China die Weltmachtrolle zu verwehren. Das Buch liest sich wie eine sich bewusst auf militärische Aspekte konzentrierende Gebrauchsanweisung. Es macht deutlich, dass die USA nur dann die Oberhand behalten werden, wenn sie bereit sind, die eigenen Mittel, einschließlich der nuklearen, gezielt einzusetzen. Die Situation Taiwans wird in diesem Zusammenhang ausführlich analysiert. Diese dem Kontinent vorlagerte Insel sei die Basis, von der man China in die Enge treiben und – falls nötig – sogar vernichten könne. Die seit Jahren forcierte Aufrüstung – mit Antischiffsraketen u. a. – solle sich auszahlen. Jeder Versuch einer gewaltsamen Übernahme solle zunächst von den Taiwanern, dann aber auch von der amerikanischen Militärmacht vereitelt werden. Die Pläne reichen von der Zerstörung chinesischer Kampfboote und Militärbasen in China selbst bis zum limitierten Nuklearkrieg. Nur wenn man in jeder Phase richtig kalkuliere, die Lage realistisch einschätze und mit der nötigen Entschlossenheit vorgehe, habe man Erfolg. An weiteren Szenarien oder gar Alternativen zeigt der Autor, der politisch und publizistisch bestens vernetzt ist, keinerlei Interesse. Das Ziel besteht in einer »realistischen« und vor allem effizienten Strategie in der Auseinandersetzung mit dem Kontrahenten China. Gleichzeitig soll so das eigene Land auf die harten Konfrontationen der Zukunft vorbereitet werden. Für Friedensstrategien bleibt da kein Raum.