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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Brauchen wir eine Impfpflicht?

Kann nur die all­ge­mei­ne Impf­pflicht die Coro­na-Pan­de­mie bre­chen? Miguel de la Riva plä­dier­te im Janu­ar-Heft der Blät­ter für deut­sche und inter­na­tio­na­le Poli­tik für die­se umstrit­te­ne Maß­nah­me als ein Gebot der Soli­da­ri­tät: Eine Impf­pflicht schüt­ze nicht in erster Linie die Geimpf­ten selbst, son­dern vor allem die Unge­impf­ten und jene, deren Impf­schutz durch die bis­he­ri­gen Vak­zi­ne kei­nes­wegs voll­stän­dig ist. Ohne die­se Impf­pflicht, die vor allem »den wöchent­lich auf­mar­schie­ren­den Leug­nern und Ver­wei­ge­rern« gilt, die »ohne nach­voll­zieh­ba­re Grün­de eine Not­la­ge (ver­län­gern)«, wür­den ent­we­der eine rasan­te Durch­seu­chung oder »lang­an­hal­ten­de mas­si­ve Ein­schrän­kun­gen im öffent­li­chen Leben für Unge­impf­te (…) sowie (…) qual­vol­le Krank­heits- und Todes­fäl­le« dro­hen. Aus die­sem Grund müs­sen auch ver­fas­sungs­recht­li­che Beden­ken und das »ver­kürz­te Frei­heits­ver­ständ­nis« etwa des Libe­ra­len Wolf­gang Kubicki zurück­ge­wie­sen werden.

Miguel de la Rivas Bei­trag ist auf­schluss­reich und wich­tig. Er ist auf­schluss­reich, weil er auf­zeigt, wor­um es wirk­lich geht: den unge­impf­ten Leug­nern und Ver­wei­ge­rern eine »Prä­mie der Radi­ka­li­sie­rung« abzu­ver­lan­gen, die ohne Impf­ver­pflich­tung die Mehr­heit der Geimpf­ten zu tra­gen hät­te. Natür­lich hat Miguel de la Riva kei­ne tie­fe­ren Ein­blicke in die Moti­va­ti­on des Gesetz­ge­bers, der den Bestra­fungs­cha­rak­ter der Impf­pflicht allein schon des­halb zurück­wei­sen wür­de, weil damit die Ver­fas­sungs­treue die­ser Maß­nah­me voll­stän­dig unter­mi­niert wäre. Einer­seits ist aller­dings davon aus­zu­ge­hen, dass von jenen, die davon tat­säch­lich betrof­fen wären, näm­lich die Unge­impf­ten, vor­aus­sicht­lich in erheb­li­chem Aus­maß kei­ne Regel­be­fol­gung zu erwar­ten wäre, son­dern nur eine zuneh­men­de Fru­stra­ti­on und Radi­ka­li­sie­rung. Ande­rer­seits wäre die all­ge­mei­ne Impf­pflicht bekannt­lich kei­ne Maß­nah­me, die in der gegen­wär­ti­gen Infek­ti­ons­wel­le noch hül­fe. Sie wäre also allen­falls eine Vor­rats-Gesetz­ge­bung für eine mög­li­che spä­te­re Wel­le, die sicher kom­men kann, deren Ursa­chen und Ver­lauf sich aber heu­te nicht vor­her­se­hen las­sen. Wäre die Ursa­che eine neu­er­li­che Muta­ti­on des Virus, wür­de zumin­dest eine gegen­wär­tig durch die Impf­pflicht erzwun­ge­ne Schutz­wir­kung frag­lich wer­den. Und den Ver­lauf einer wei­te­ren Wel­le des unmu­tier­ten Virus kön­nen wir – wie gesagt – schlech­ter­dings jetzt ein­schät­zen, womit die Fra­ge der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit zum gegen­wär­ti­gen Zeit­punkt nicht beant­wor­tet wer­den kann. Wer also heu­te die all­ge­mei­ne Impf­pflicht durch­set­zen will, hat nicht – wie Miguel de la Riva rich­tig erkennt – die Schutz­funk­ti­on der Imp­fung, son­dern deren Bestra­fungs­funk­ti­on für Imp­f­un­wil­li­ge im Sinn.

Der Bei­trag von Miguel de la Riva ist aber auch wich­tig, weil er etwas benennt, was die Coro­na­po­li­tik der bis­her betei­lig­ten Bun­des­re­gie­run­gen fest­zu­le­gen ver­säumt hat: eine kla­re Beschrei­bung des Ziels der Poli­tik und damit des End­punk­tes der Pan­de­mie (»free­dom day«). Denn das immer wie­der vor­ge­brach­te Ziel der Coro­na-Maß­nah­men, mög­lichst vie­le Men­schen­le­ben zu ret­ten, ist natür­lich nicht nur viel zu unge­nau, es ist auch unglaub­wür­dig: Wür­de es der Poli­tik vor­ran­ging um den Schutz der kör­per­li­chen Unver­sehrt­heit der Bür­ger gehen, müss­ten längst ande­re Ver­bo­te oder Ein­schrän­kun­gen aus­ge­spro­chen wer­den, z. B. das Ver­bot des nach­weis­lich krebs­er­re­gen­den Pflan­zen­schutz­mit­tels Gly­pho­sat, des glei­cher­ma­ßen nach­weis­lich krebs­er­re­gen­den Niko­tin­kon­sums oder gar des viel­fa­chen Tod brin­gen­den Auto­mo­bils. Und auch eine voll­stän­di­ge Ver­drän­gung des Sars-Cov-2-Virus kann ange­sichts des letzt­lich doch ent­täu­schen­den Schut­zes der zumin­dest gegen­wär­tig ver­füg­ba­ren Vak­zi­ne kaum als rea­li­sti­sches Ziel betrach­tet wer­den. Es kann des­halb sinn­vol­ler­wei­se nur dar­um gehen, und Miguel de la Riva benennt dies expli­zit, die Pan­de­mie in eine Ende­mie zu ver­wan­deln. Bei die­ser Ziel­set­zung geht es also nicht um die Fixie­rung eines genau­en Datums, son­dern um die Beschrei­bung einer Situa­ti­on, deren Ein­tre­ten wei­te­re frei­heits­be­schrän­ken­de Maß­nah­men wie Impf­pflich­ten, Mobi­li­täts- oder Zutritts­be­schrän­kun­gen unver­hält­nis­mä­ßig und damit rechts­wid­rig macht.

Was wie ein Wort­spiel klingt – von der Pan­de­mie zur Ende­mie – ist bei genau­er Betrach­tung kei­ne voll­stän­di­ge Ände­rung des Infek­ti­ons­ge­sche­hens, son­dern viel­mehr jene quan­ti­ta­ti­ve Dimi­nu­ie­rung, die die Coro­na-Kri­se zur »nor­ma­len Grip­pe« machen wür­de: Auch in den all­jähr­li­chen Influ­en­za-Wel­len ster­ben tau­sen­de von Men­schen »an und mit« der Infek­ti­on, und den­noch kommt es zu kei­nen staat­lich ver­ord­ne­ten Zwangs­maß­nah­men. Eine ende­mi­sche Situa­ti­on ist des­halb gekenn­zeich­net durch ein dau­er­haft bestehen­des Infek­ti­ons­ge­sche­hen, dass in regel­mä­ßi­gen Zeit­ab­stän­den ein beträcht­li­ches, aber kon­trol­lier­ba­res Aus­maß annimmt. Ent­schei­den­de Vor­aus­set­zung für die Kon­trol­lier­bar­keit des Infek­ti­ons­ge­sche­hens ist die Exi­stenz wirk­sa­mer Vak­zi­ne (Prä­ven­ti­on) und Medi­ka­men­te (Melio­ra­ti­on), wesent­li­ches Merk­mal der Kon­trol­lier­bar­keit ist das Vor­han­den­sein von hin­rei­chen­den Kapa­zi­tä­ten des Gesundheitssystems.

In genau die­sem Sin­ne beschreibt auch Miguel de la Riva die Über­la­stung des Gesund­heits­sy­stems als ent­schei­den­des Kri­te­ri­um für die Abgren­zung der Ende­mie von der Pan­de­mie. Ent­spre­chen­de Zwangs­maß­nah­men wie die all­ge­mei­ne Impf­pflicht wären allen­falls dann berech­tigt, wenn die­se Über­la­stung anders nicht ver­hin­dert wer­den kann. Ange­sichts hoher Inzi­denz­zah­len und der immer noch hohen Zahl Unge­impf­ter, scheint sei­ne Ein­schät­zung auf den ersten Blick gerecht­fer­tigt, gegen­wär­tig und in näch­ster Zukunft nicht davon aus­ge­hen zu kön­nen, in Deutsch­land den Sta­tus der Ende­mie erreicht zu haben. Und folg­lich, so der nahe­lie­gen­de Schluss, muss eine Impf­pflicht hel­fen, die Pan­de­mie end­lich hin­ter uns las­sen zu können.

Doch bei genau­em Hin­schau­en erweist sich die Argu­men­ta­ti­on als brü­chig: Einer­seits ist für die Fest­stel­lung einer Ende­mie – in Abgren­zung zur Pan­de­mie – ja nicht die Anzahl der Fall­zah­len aus­schlag­ge­bend, son­dern die Anzahl jener Fäl­le, deren Ver­lauf einen Kran­ken­haus­auf­ent­halt erzwin­gen bzw. gar die Ver­le­gung auf die Inten­siv­sta­ti­on aus­lö­sen. Selbst bei zuge­stan­de­ner­ma­ßen wesent­lich mil­de­ren Ver­läu­fen der Infek­ti­on mit der mitt­ler­wei­le voll­kom­men domi­nan­ten Omi­kron-Vari­an­te des Sars-Cov-2-Virus, sieht de la Riva das Gesund­heits­sy­stem immer noch gefähr­det, weil die stär­ke­re Ansteckungs­ra­te von Omi­kron des­sen grö­ße­re Sym­ptom­mil­de schlicht über­kom­pen­sie­re. Und Sach­ver­stän­di­ge im neu gegrün­de­ten Coro­na-Exper­ten­rat schei­nen die­se Sicht zu stüt­zen, wenn sie noch Mit­te Janu­ar 2022 vor der wei­ter­hin aku­ten Gefahr einer sol­chen Über­la­stung ein­dring­lich warn­ten. Aller­dings erklä­ren die­se Exper­ten, die wohl ihren gegen­wär­tig extrem hohen Auf­merk­sam­keits­sta­tus allein der Exi­stenz und dem Fort­be­stand der Pan­de­mie ver­dan­ken, den offen­kun­di­gen Wider­spruch nicht, dass der extre­me Anstieg der Fall­zah­len mit einem Rück­gang der Covid-beding­ten Aus­la­stung der Inten­siv­sta­tio­nen kor­re­liert und auch die Hos­pi­ta­li­sie­rungs­ra­te im schein­bar erreich­ten Höhe­punkt der gegen­wär­ti­gen Wel­le immer noch weit unter dem Wert frü­he­rer Wel­len liegt. Oder kla­rer: Das deut­sche Gesund­heits­sy­stem hat sich zu kei­nem Zeit­punkt im bis­he­ri­gen Ver­lauf der Pan­de­mie an sei­nen Kapa­zi­täts­gren­zen befun­den, ist gegen­wär­tig weit davon ent­fernt, und es gibt auch kei­ne Anzei­chen dafür, dass dies in Zukunft pas­sie­ren könn­te – im Gegen­teil ist auch die medi­ka­men­tö­se Ent­wick­lung, anders als von de la Riva dar­ge­stellt, mitt­ler­wei­le mit Prä­pa­ra­ten wie Rem­de­si­vir und Molnu­pi­ra­vir so weit fort­ge­schrit­ten, dass ins­be­son­de­re schwe­re Infek­ti­ons­ver­läu­fe zukünf­tig wirk­sa­mer ein­ge­schränkt wer­den kön­nen. Und schließ­lich darf auch nicht uner­wähnt blei­ben, dass für den Zustand der Aus­la­stung des Gesund­heits­sy­stems nicht nur die Hos­pi­ta­li­sie­rungs­ra­te und der Anteil der Inten­siv­pa­ti­en­ten ver­ant­wort­lich sind, son­dern auch die von de la Riva als »ohne­dies schon welt­weit ihres Glei­chen suchen­den Kapa­zi­tä­ten«. Hier­zu muss wohl fest­ge­hal­ten wer­den, dass die Kapa­zi­tä­ten in der Pan­de­mie redu­ziert, nicht, wie man hät­te erwar­ten müs­sen, aus­ge­wei­tet wur­den. Natür­lich kön­nen die­se Kapa­zi­täts­gren­zen nicht belie­big und schon gar nicht kurz­fri­stig ver­scho­ben wer­den – und doch dürf­te es für die Beur­tei­lung der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit einer all­ge­mei­nen Impf­pflicht maß­geb­lich von Bedeu­tung sein, ob im Jahr 3 der Pan­de­mie hin­rei­chend Sor­ge für die Bereit­stel­lung erwart­ba­rer und erfüll­ba­rer Bedar­fe getra­gen wurde.

Wir befin­den uns bereits seit gerau­mer Zeit in einer ende­mi­schen, nicht mehr in einer pan­de­mi­schen Lage. Das Infek­ti­ons­ge­sche­hen ist hoch – wie in man­cher Influ­en­za-Wel­le –, doch es läuft kei­nes­wegs aus dem Ruder. Die Bela­stun­gen für die Men­schen in gesund­heits­re­le­van­ten Berei­chen sind zwei­fel­los hoch – wie in man­cher Influ­en­za-Wel­le –, von einer Über­la­stung kann aber kei­ne Rede sein. Selbst­ver­ständ­lich muss die Impf­be­reit­schaft – bis zur Bereit­stel­lung eines Vak­zins mit höhe­rem und län­ger anhal­ten­dem Immun­schutz – hoch­ge­hal­ten und viel­leicht gar gestei­gert wer­den. Gelingt dies nicht, kann aus der ende­mi­schen auch wie­der eine pan­de­mi­sche Lage wer­den, die beschränk­te und ange­mes­se­ne Ein­griffs­rech­te recht­fer­ti­gen mag.

Unter den gegen­wär­tig vor­herr­schen­den Bedin­gun­gen erscheint eine all­ge­mei­ne Impf­pflicht viel­leicht funk­tio­nal ver­nünf­tig und wird des­halb von vie­len – wahr­schein­lich der brei­ten gesell­schaft­li­chen Mehr­heit – auch gewünscht, um end­lich Ruhe an der Coro­na-Front zu haben und das lan­ge ent­behr­te »nor­ma­le Leben« zurück­zu­ge­win­nen. Doch was funk­tio­nal ist, muss den­noch nicht rechts­kon­form und auch nicht nötig sein. In einer ende­mi­schen Lage bedarf es der Impf­pflicht nicht. Die gegen­wär­ti­ge Lage ist ende­misch, nicht pan­de­misch, und der Über­gang in ein nor­ma­les Leben wird nicht von Impf­ver­wei­ge­rern ver­wehrt, son­dern von einer Poli­tik, die die­sen Schritt zu gehen (noch) nicht wagt. Impf­geg­ner – zu denen ich nicht gehö­re: Ich bin geimpft und wer­be über­all für eine Imp­fung – pau­schal als unein­sich­tig zu stig­ma­ti­sie­ren und als unso­li­da­risch für eine Lage ver­ant­wort­lich zu machen, die gar nicht mehr exi­stiert, zeugt nicht gera­de von Empa­thie, erscheint mir auch nicht wirk­lich soli­da­risch und dürf­te die gesell­schaft­li­chen Grä­ben weit über jene Tei­le hin­aus, die sich eigen­stän­dig längst von der demo­kra­ti­schen Gemein­schaft abge­wandt haben, völ­lig unnö­ti­ger­wei­se nur vertiefen.

Der Autor ist Pro­fes­sor für Volks­wirt­schafts­leh­re am Fach­be­reich Sozi­al­öko­no­mie der Uni­ver­si­tät Hamburg.