Kann nur die allgemeine Impfpflicht die Corona-Pandemie brechen? Miguel de la Riva plädierte im Januar-Heft der Blätter für deutsche und internationale Politik für diese umstrittene Maßnahme als ein Gebot der Solidarität: Eine Impfpflicht schütze nicht in erster Linie die Geimpften selbst, sondern vor allem die Ungeimpften und jene, deren Impfschutz durch die bisherigen Vakzine keineswegs vollständig ist. Ohne diese Impfpflicht, die vor allem »den wöchentlich aufmarschierenden Leugnern und Verweigerern« gilt, die »ohne nachvollziehbare Gründe eine Notlage (verlängern)«, würden entweder eine rasante Durchseuchung oder »langanhaltende massive Einschränkungen im öffentlichen Leben für Ungeimpfte (…) sowie (…) qualvolle Krankheits- und Todesfälle« drohen. Aus diesem Grund müssen auch verfassungsrechtliche Bedenken und das »verkürzte Freiheitsverständnis« etwa des Liberalen Wolfgang Kubicki zurückgewiesen werden.
Miguel de la Rivas Beitrag ist aufschlussreich und wichtig. Er ist aufschlussreich, weil er aufzeigt, worum es wirklich geht: den ungeimpften Leugnern und Verweigerern eine »Prämie der Radikalisierung« abzuverlangen, die ohne Impfverpflichtung die Mehrheit der Geimpften zu tragen hätte. Natürlich hat Miguel de la Riva keine tieferen Einblicke in die Motivation des Gesetzgebers, der den Bestrafungscharakter der Impfpflicht allein schon deshalb zurückweisen würde, weil damit die Verfassungstreue dieser Maßnahme vollständig unterminiert wäre. Einerseits ist allerdings davon auszugehen, dass von jenen, die davon tatsächlich betroffen wären, nämlich die Ungeimpften, voraussichtlich in erheblichem Ausmaß keine Regelbefolgung zu erwarten wäre, sondern nur eine zunehmende Frustration und Radikalisierung. Andererseits wäre die allgemeine Impfpflicht bekanntlich keine Maßnahme, die in der gegenwärtigen Infektionswelle noch hülfe. Sie wäre also allenfalls eine Vorrats-Gesetzgebung für eine mögliche spätere Welle, die sicher kommen kann, deren Ursachen und Verlauf sich aber heute nicht vorhersehen lassen. Wäre die Ursache eine neuerliche Mutation des Virus, würde zumindest eine gegenwärtig durch die Impfpflicht erzwungene Schutzwirkung fraglich werden. Und den Verlauf einer weiteren Welle des unmutierten Virus können wir – wie gesagt – schlechterdings jetzt einschätzen, womit die Frage der Verhältnismäßigkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden kann. Wer also heute die allgemeine Impfpflicht durchsetzen will, hat nicht – wie Miguel de la Riva richtig erkennt – die Schutzfunktion der Impfung, sondern deren Bestrafungsfunktion für Impfunwillige im Sinn.
Der Beitrag von Miguel de la Riva ist aber auch wichtig, weil er etwas benennt, was die Coronapolitik der bisher beteiligten Bundesregierungen festzulegen versäumt hat: eine klare Beschreibung des Ziels der Politik und damit des Endpunktes der Pandemie (»freedom day«). Denn das immer wieder vorgebrachte Ziel der Corona-Maßnahmen, möglichst viele Menschenleben zu retten, ist natürlich nicht nur viel zu ungenau, es ist auch unglaubwürdig: Würde es der Politik vorranging um den Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Bürger gehen, müssten längst andere Verbote oder Einschränkungen ausgesprochen werden, z. B. das Verbot des nachweislich krebserregenden Pflanzenschutzmittels Glyphosat, des gleichermaßen nachweislich krebserregenden Nikotinkonsums oder gar des vielfachen Tod bringenden Automobils. Und auch eine vollständige Verdrängung des Sars-Cov-2-Virus kann angesichts des letztlich doch enttäuschenden Schutzes der zumindest gegenwärtig verfügbaren Vakzine kaum als realistisches Ziel betrachtet werden. Es kann deshalb sinnvollerweise nur darum gehen, und Miguel de la Riva benennt dies explizit, die Pandemie in eine Endemie zu verwandeln. Bei dieser Zielsetzung geht es also nicht um die Fixierung eines genauen Datums, sondern um die Beschreibung einer Situation, deren Eintreten weitere freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Impfpflichten, Mobilitäts- oder Zutrittsbeschränkungen unverhältnismäßig und damit rechtswidrig macht.
Was wie ein Wortspiel klingt – von der Pandemie zur Endemie – ist bei genauer Betrachtung keine vollständige Änderung des Infektionsgeschehens, sondern vielmehr jene quantitative Diminuierung, die die Corona-Krise zur »normalen Grippe« machen würde: Auch in den alljährlichen Influenza-Wellen sterben tausende von Menschen »an und mit« der Infektion, und dennoch kommt es zu keinen staatlich verordneten Zwangsmaßnahmen. Eine endemische Situation ist deshalb gekennzeichnet durch ein dauerhaft bestehendes Infektionsgeschehen, dass in regelmäßigen Zeitabständen ein beträchtliches, aber kontrollierbares Ausmaß annimmt. Entscheidende Voraussetzung für die Kontrollierbarkeit des Infektionsgeschehens ist die Existenz wirksamer Vakzine (Prävention) und Medikamente (Melioration), wesentliches Merkmal der Kontrollierbarkeit ist das Vorhandensein von hinreichenden Kapazitäten des Gesundheitssystems.
In genau diesem Sinne beschreibt auch Miguel de la Riva die Überlastung des Gesundheitssystems als entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung der Endemie von der Pandemie. Entsprechende Zwangsmaßnahmen wie die allgemeine Impfpflicht wären allenfalls dann berechtigt, wenn diese Überlastung anders nicht verhindert werden kann. Angesichts hoher Inzidenzzahlen und der immer noch hohen Zahl Ungeimpfter, scheint seine Einschätzung auf den ersten Blick gerechtfertigt, gegenwärtig und in nächster Zukunft nicht davon ausgehen zu können, in Deutschland den Status der Endemie erreicht zu haben. Und folglich, so der naheliegende Schluss, muss eine Impfpflicht helfen, die Pandemie endlich hinter uns lassen zu können.
Doch bei genauem Hinschauen erweist sich die Argumentation als brüchig: Einerseits ist für die Feststellung einer Endemie – in Abgrenzung zur Pandemie – ja nicht die Anzahl der Fallzahlen ausschlaggebend, sondern die Anzahl jener Fälle, deren Verlauf einen Krankenhausaufenthalt erzwingen bzw. gar die Verlegung auf die Intensivstation auslösen. Selbst bei zugestandenermaßen wesentlich milderen Verläufen der Infektion mit der mittlerweile vollkommen dominanten Omikron-Variante des Sars-Cov-2-Virus, sieht de la Riva das Gesundheitssystem immer noch gefährdet, weil die stärkere Ansteckungsrate von Omikron dessen größere Symptommilde schlicht überkompensiere. Und Sachverständige im neu gegründeten Corona-Expertenrat scheinen diese Sicht zu stützen, wenn sie noch Mitte Januar 2022 vor der weiterhin akuten Gefahr einer solchen Überlastung eindringlich warnten. Allerdings erklären diese Experten, die wohl ihren gegenwärtig extrem hohen Aufmerksamkeitsstatus allein der Existenz und dem Fortbestand der Pandemie verdanken, den offenkundigen Widerspruch nicht, dass der extreme Anstieg der Fallzahlen mit einem Rückgang der Covid-bedingten Auslastung der Intensivstationen korreliert und auch die Hospitalisierungsrate im scheinbar erreichten Höhepunkt der gegenwärtigen Welle immer noch weit unter dem Wert früherer Wellen liegt. Oder klarer: Das deutsche Gesundheitssystem hat sich zu keinem Zeitpunkt im bisherigen Verlauf der Pandemie an seinen Kapazitätsgrenzen befunden, ist gegenwärtig weit davon entfernt, und es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass dies in Zukunft passieren könnte – im Gegenteil ist auch die medikamentöse Entwicklung, anders als von de la Riva dargestellt, mittlerweile mit Präparaten wie Remdesivir und Molnupiravir so weit fortgeschritten, dass insbesondere schwere Infektionsverläufe zukünftig wirksamer eingeschränkt werden können. Und schließlich darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass für den Zustand der Auslastung des Gesundheitssystems nicht nur die Hospitalisierungsrate und der Anteil der Intensivpatienten verantwortlich sind, sondern auch die von de la Riva als »ohnedies schon weltweit ihres Gleichen suchenden Kapazitäten«. Hierzu muss wohl festgehalten werden, dass die Kapazitäten in der Pandemie reduziert, nicht, wie man hätte erwarten müssen, ausgeweitet wurden. Natürlich können diese Kapazitätsgrenzen nicht beliebig und schon gar nicht kurzfristig verschoben werden – und doch dürfte es für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer allgemeinen Impfpflicht maßgeblich von Bedeutung sein, ob im Jahr 3 der Pandemie hinreichend Sorge für die Bereitstellung erwartbarer und erfüllbarer Bedarfe getragen wurde.
Wir befinden uns bereits seit geraumer Zeit in einer endemischen, nicht mehr in einer pandemischen Lage. Das Infektionsgeschehen ist hoch – wie in mancher Influenza-Welle –, doch es läuft keineswegs aus dem Ruder. Die Belastungen für die Menschen in gesundheitsrelevanten Bereichen sind zweifellos hoch – wie in mancher Influenza-Welle –, von einer Überlastung kann aber keine Rede sein. Selbstverständlich muss die Impfbereitschaft – bis zur Bereitstellung eines Vakzins mit höherem und länger anhaltendem Immunschutz – hochgehalten und vielleicht gar gesteigert werden. Gelingt dies nicht, kann aus der endemischen auch wieder eine pandemische Lage werden, die beschränkte und angemessene Eingriffsrechte rechtfertigen mag.
Unter den gegenwärtig vorherrschenden Bedingungen erscheint eine allgemeine Impfpflicht vielleicht funktional vernünftig und wird deshalb von vielen – wahrscheinlich der breiten gesellschaftlichen Mehrheit – auch gewünscht, um endlich Ruhe an der Corona-Front zu haben und das lange entbehrte »normale Leben« zurückzugewinnen. Doch was funktional ist, muss dennoch nicht rechtskonform und auch nicht nötig sein. In einer endemischen Lage bedarf es der Impfpflicht nicht. Die gegenwärtige Lage ist endemisch, nicht pandemisch, und der Übergang in ein normales Leben wird nicht von Impfverweigerern verwehrt, sondern von einer Politik, die diesen Schritt zu gehen (noch) nicht wagt. Impfgegner – zu denen ich nicht gehöre: Ich bin geimpft und werbe überall für eine Impfung – pauschal als uneinsichtig zu stigmatisieren und als unsolidarisch für eine Lage verantwortlich zu machen, die gar nicht mehr existiert, zeugt nicht gerade von Empathie, erscheint mir auch nicht wirklich solidarisch und dürfte die gesellschaftlichen Gräben weit über jene Teile hinaus, die sich eigenständig längst von der demokratischen Gemeinschaft abgewandt haben, völlig unnötigerweise nur vertiefen.
Der Autor ist Professor für Volkswirtschaftslehre am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg.