Zu Tode erschöpft, gezeichnet von Kälte und Schneesturm, trifft im Januar 1842 in der Paschtunen-Stadt Dschellalabad ein Reiter ein, der als Bote schlimme Kunde bringt. Was er dem britischen Stadtkommandanten Sir Robert Sale zu sagen hat, gibt Theodor Fontane Jahre später in seinem 1859 verfassten Gedicht »Das Trauerspiel von Afghanistan« wieder, wenn es heißt: »Zersprengt ist unser ganzes Heer / Was lebt, irrt draußen in der Nacht umher / Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt / Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.«
Daraufhin wird versucht, was möglich ist, um den Verirrten und Geschlagenen einen Weg ins sichere Gelass der Festung zu weisen. Man lässt Trompeten erschallen, entzündet Fackeln, gibt Zeichen durch Gesang und Kanonenschlag, aber die weiten, weißen, die Augen blendenden Schneefelder bleiben leer. Niemand taucht auf, dem man Zuflucht bieten, den man retten könnte. »Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied / Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang / dann Hochlandslieder wie Klagegesang.« Bald besteht Gewissheit, der empfangene Reiter war ein Herold des Untergangs. Und der ist unausweichlich. Fontanes Gedicht endet mit den Zeilen: »Die hören sollen / die hören nicht mehr / Vernichtet ist das ganze Heer / Mit dreizehntausend der Zug begann / Einer kam heim aus Afghanistan.«
Der Dichter erinnert die Niederlage der Briten im ersten anglo-afghanischen Krieg zwischen 1839 und 1842, der für die Eroberer zum selbstzerstörerischen Horror wird und eine zeitgemäße Vorgeschichte vorweisen kann. Nach 1835 kommt es zu Kontakten zwischen dem afghanischen Feudalherrscher Khan Dost Mohammad und russischen Gesandten, was Großbritannien als Hinweis auf eine Expansion des Zarenreichs in Mittelasien deutet. Die Kolonialadministration des Empire in Indien fühlt sich provoziert und in ihrer Absicht gestört, das Emirat Afghanistan in ein Protektorat zu verwandeln, das für Britisch-Indien zum Flankenschutz gegen Russland taugt. Das »Great Game« um Afghanistan, wie es im 19. Jahrhundert stattfindet
Als sich Khan Dost nichts vorschreiben lässt, wird einmarschiert. Nach anfänglichem Geländegewinn gerät der Vorstoß eines britischen Expeditionskorps zum blutigen Desaster. Es ist dem Widerstand der Paschtunen-Krieger nicht gewachsen und muss den Rückzug antreten, den Tausende von Soldaten nicht überleben. Doch wozu Niederlagen wie diese als exemplarische Warnung verstehen? Schon 1878 holt die britische Kolonialarmee zum nächsten Schlag aus. Diesmal kann sie triumphieren und Afghanistan ein Drittel seines Territoriums rauben, abgeschnitten entlang der Durand-Linie, deren Verlauf auf den damaligen Außenminister Britisch-Indiens, Sir Henry Durand, zurückgeht. Bis heute bildet diese völkerrechtlich fragwürdige Demarkation im Osten Afghanistans die Grenze zu Pakistan und sorgt für einen zuverlässig gärenden Konflikt. Schließlich sind einst relevante Siedlungsräume afghanischer Paschtunen-Stämme eingebüßt worden, ein Verlust von nationaler Tragweite.
Wie man sieht, hat großmächtiger Systemexport zum Hindukusch weit vor unserer Zeit begonnen. Lange bevor die bürgerliche Demokratie auf die Ausfuhrliste kommt, stehen Expansion und Landraub drauf. Woran sich nie etwas ändert – ob die Sowjetunion Ende 1979 interveniert oder die Vereinigten Staaten mit einer Allianz aus 54 NATO- und Nicht-NATO-Staaten ab Oktober 2001 ein Besatzungsregime etablieren – worauf man sich immer verlassen kann, das ist der Rückgriff auf Gewalt, der Afghanistan wie selbstverständlich unterworfen wird. Die Eroberer reden sich auf das Gebot heraus, zivilisatorischen Fortschritt notfalls erzwingen zu müssen. Sie beschwören die Menschenrechte und verüben Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Im Sommer 2021 ist diese Camouflage gründlich ausgereizt. Auch die letzten 750 britischen Soldaten kehren »heim aus Afghanistan«. Ihre Abreise wird zum fluchtartigen Ausstieg, seit feststeht, dass amerikanische Lufthoheit nur noch für kurze Zeit schützt. Im Londoner Verteidigungsministerium gilt die Devise: »Wenn sie [die USA] gehen, müssen wir alle gehen.«
Vor 20 Jahren hat es an gleicher Stelle geheißen, wenn die Amerikaner da reingehen, dürfen wir nicht abseitsstehen. Die Regierung des Präsidenten George W. Bush will sich für die 9/11-Anschläge rächen, indem sie nicht nur die Basen von Osama bin Laden in den afghanischen Bergen bombardieren lässt, sondern mit dem Sturz der Taliban zugleich einen Regime-Change durchsetzt. Bush lädt die NATO ein, der US-Armee zu folgen und die Invasion als Sieg im globalen Anti-Terror-Kampf reinzuwaschen. Die britischen Streitkräfte dürfen es auskosten, endlich wieder im imperialen Modus unterwegs zu sein. So wie 1839, als alles schon einmal begann.
Amerikanische und britische Verbände bauen Militärbasen auf, kollaborieren mit Warlords wie dem Kriegsverbrecher, Massenmörder und Usbeken-General Rashid Dostum, der es unter dem Besatzungsregime bis zum Vizepräsidenten bringt. Sie setzen missliebige Gouverneure ab und willfährige ein. Weil häufig US-Kampfjets gerufen werden, wenn bewaffneter Widerstand der Taliban oder anderer Aufständischer gebrochen werden soll, gibt es statt der verbrannten Wälder in Südvietnam verbrannte Häuser in Afghanistan. Was legitimiert diese Kriegsführung, bei der seit 2001 nach UN-Schätzungen etwa 200.000 Afghanen, vorrangig Zivilisten, nicht lebend davonkommen? Das Ziel, den Terror auszurotten, eine Demokratie aufzubauen, Nation-Building zu betreiben, die Frauen zu befreien? Wovon so gut wie nichts erreicht wird.
Im Jahr 2005 wird das britische Oberkommando kühn und verwegen. Etwa 3.500 Soldaten werden in den Süden geschickt, um die Unruheprovinz Helmand, eine Hochburg der Taliban, zu befrieden. General David Richards, seinerzeit Kommandeur des Afghanistan-Korps, beseelt die Überzeugung, man werde auf viel Sympathie in der Bevölkerung stoßen. Vermutlich müsse man so gut wie keinen Schuss abfeuern und könne alles »mit Herz und Verstand« erledigen. Passend zu dieser Erwartung erhalten einzelne Militäraktionen Codes, die an Unternehmungen abenteuerlustiger Pfadfinder erinnern. »Achilles«, »Spitzhacke«, »Adlerauge«, »Roter Dolch«, »Blaues Schwert« sind einige davon. Man will Spaß haben auf dem Kriegspfad, muss aber erfahren, dass die Taliban keinen Spaß verstehen. Die »Operation Helmand« wird zum Alptraum. Fontanes Kunde, »vernichtet ist das ganze Heer«, trifft zwar nicht zu, doch müssen 10.000 US-Marines in Marsch gesetzt werden, um die Briten rauszuhauen. 454 Soldaten können nur noch im »Body Bag«, dem Leichensack mit Reißverschluss, geborgen werden – wenn man sie denn findet. »Die hören sollen / sie hören nicht mehr«.
Der Labour-Premier Tony Blair, notorisch kriegsversessenen und begeistert von US-Präsident Bush, muss im Unterhaus erklären, weshalb die Sicherheit Großbritanniens in Helmand verteidigt wird und junge Briten dafür sterben müssen. Blair kann nicht zugeben, was er vermutlich weiß: Sie wurden in einem Krieg geopfert, bei dem sich längst abgezeichnet hat, dass er nicht zu gewinnen ist. Warum hörte man nicht auf Fontanes britischen Reitersmann, der mit matter Stimme sprach: »Bringe Botschaft aus Afghanistan«?