Die Fähre braucht zweihundert Minuten von Sassnitz nach Rønne. Auf halber Strecke passiert sie einen gewaltigen Windpark. Ein Mann an der Reling meint hintersinnig: Deutschlands Zukunft liegt mal wieder auf dem Wasser.
Diesen Offshore-Windpark gab es noch nicht, als hier drei Fischer mit ihrem Kutter untergingen. Sie gerieten im März 1999 im Morgengrauen vermutlich unter die Schlepptrosse zweier Schiffe, die die Beluga in weniger als einer Minute vollständig unter Wasser drückte. Die Männer hatten keine Chance: weder auf See noch bei der deutschen Justiz. Schiffe von Nato-Ländern hielten damals das Manöver »Jaguar« ab, sechs Tage später sollte der Krieg gegen Serbien beginnen. Hier wie dort mit deutscher Beteiligung. Die Marine bestritt eine aktive Mitwirkung am Schiffsunglück, mehrere Rechtsinstitute ignorierten überzeugende Gutachten, die Fremdverschulden nachgewiesen hatten, und schoben den Fischern erfolgreich die alleinige Schuld zu. Beteiligte hielten sich bedeckt, einer erklärte jedoch 2016 gegenüber Michael Schmidt und Lutz Riemann – zwei Journalisten des NDR, die den Fall von Anfang an hartnäckig verfolgten –, dass es zwei unbeleuchtete Kriegsschiffe gewesen seien. »Die haben zwischen sich eine Stahltrosse gespannt, und zwar jeweils am Heck circa drei Meter über der Wasseroberfläche. Dann sind die mit voller Kraft voraus.« Das mache man in Sperrgebieten so, um kleinere Kriegsschiffe oder treibende Seeminen unterzupflügen. Die beiden Rostocker Journalisten wussten, dass jedes Seemanöver akribisch ausgewertet wird. »Da gibt es Radaraufzeichnungen, Schiffstagebücher, alles Mögliche – alles gesperrt. Wir haben sogar versucht, an die militärischen Überwachungssatelliten heranzukommen. Kommt man nicht ran. Nicht einmal mit anwaltlicher Hilfe.« Und so gilt denn nach mehr als zwanzig Jahren der Tod dreier Seeleute aus Sassnitz als mysteriös, da unaufgeklärt. Auf See gibt es keinen Gedenkstein, aber nunmehr den deutschen Windpark Wikinger.
Mit Dutzenden PKW und Wohnmobilen rollen wir in Rønne an Land. Also einmal rund um die Insel und die interessantesten Bauwerke angeschaut. Natürlich die vier Rundkirchen, die allein deshalb der Erwähnung wert sind, weil sie so etwas wie die Wahrzeichen der Insel sind. Trutzig stehen sie seit Jahrhunderten auf Anhöhen, Burgen gleich, die es hier nie gab – bis auf jene im Norden, die aber schon seit einiger Zeit Ruine ist. Die Kirchenmauern meterdick, an den Fenstern Schießscharten, aus denen man einst das Feuer auf marodierende Seeräuber oder angreifende Schweden oder Polen richtete.
Die leuchtend weiß gestrichenen Kirchen dienen nicht nur der stillen Einkehr, sondern auch dem Tourismus. Darum gibt es großzügig bemessene Parkplätze davor und Ephiteta in den Reiseführern. Die Kirche in Østerlars ist die älteste und größte (weshalb man dort nicht um eine freiwillige Kollekte, sondern um den Erwerb eines profanen Tickets gebeten wird). Die in Olsker nennt man »die Elegante« wegen ihrer vermeintlich schlanken Form, die in Nyker ist die kleinste und jüngste, sie stammt aus dem 13. Jahrhundert– die anderen sind etwa hundert Jahre älter. Und die Kirche in Nylars ist die am besten erhaltene, selbst die Fresken stammen aus der Zeit um 1250. Die Kalkmalereien zeigen biblische Motive, etwa die Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies.
Sodann wenden wir uns gen Norden, wo auf den Klippen Hammershus liegt, oder besser: was von dieser einst stark befestigten Anlage aus dem 13. Jahrhundert übriggeblieben ist. Um die Insel in der Ostsee rangen kontinuierlich kirchliche und weltliche Mächte. Mal gehörte sie den Erzbischöfen von Lund (die das Bollwerk auch hatten errichten lassen), mal der dänischen Krone. Dann saßen die Vögte der Lübecker Hanse dort, die das Anwesen im 16. Jahrhundert zur größten Burganlage in Nordeuropa ausbauen ließen. Allein die Ringmauer war einen Dreiviertelkilometer lang. Die Größe überforderte wohl stets die jeweiligen Eigentümer. 1743 gab die dänische Krone die Burg, die zuletzt als Gefängnis gedient hatte, endgültig auf. Ich glaube, dass es weniger am Feuer, also an der Heizung, sondern mehr an der Furage lag. Das Wach- und sonstiges Personal verzehrte mehr Fleisch und Wurst als Getreide und Brot, und das Fleisch war stark gesalzen, was verständlichen Durst verursachte, der mit Bier gelöscht wurde. Der durchschnittliche Verbrauch habe bei sechs Liter am Tag gelegen, heißt es.
Jahrzehntelang holten sich anschließend die Bauern der Umgebung Baumaterial aus Hammershus, bis 1822 der dänische König die verbliebenen Reste unter Denkmalschutz stellte. Noch vor Ablauf des Jahrhunderts begann man diese zu konservieren, was bis heute geschieht. Vor vier Jahren baute man an den gegenüberliegenden Hang ein Besucherzentrum, das sich fantastisch, nahezu unauffällig in die zerklüfte Landschaft fügt.
Und weiter ging es an die Südostküste, nach Nexø. Die Stadt ist mit etwas mehr als dreieinhalbtausend Einwohner die Größte der Insel, nächst Rønne, und wird unter Wikipedia als Hafen »mit Bornholms größter Fischereiflotte« geführt. Das aber ist Schnee von gestern, denn kein Fisch auf der Insel kommt aus der Ostsee. Die Fischerei ist so gut wie tot, die vorgeschriebenen Fangquoten sind derart reduziert, dass sich das Gewerbe nicht mehr lohnt. (siehe auch Ossietzky 16/17/2021: »Ostseefischer«) Selbst die überall im Land anzutreffenden Fischräuchereien hängen importiertes Seegetier in den Rauch und schweigen über dessen Herkunft.
In Nexø, unweit der Hauptstraße, steht ein kleines, gelbes Häuschen mit einem winzigen Garten. Dort wohnte die Familie Andersen, die 1877 aus Kopenhagen hierhergezogen war. Der damals achtjährige Sohn Martin wurde Schuster und hätte gewiss hier kein Museum bekommen, wenn er denn bei seinen Leisten geblieben wäre. Er verarbeitete später seine Kindheitserfahrungen in einem 1910 erschienenen Buch, das ihn weltbekannt machte: »Pelle der Eroberer«. Seinem Namen fügte er noch den Ort hinzu, weshalb wir den Autor nur als Martin Andersen Nexö kennen. Das Gebäude besteht aus vier kleinen Räumen, in denen viel über den nachmaligen Nationalpreisträger der DDR mitgeteilt wird. In einer Vitrine liegen seine Totenmaske, seine Tabakspfeifen und eine Urkunde des Berliner Dietz Verlages vom 26. Juni 1952: »Unserem Freund und Genossen Martin Andersen Nexö, dem unermüdlichen Kämpfer für Frieden und Wohlstand der Werktätigen zum 83. Geburtstag in Dankbarkeit überreicht.« Was überreicht wurde, ist nicht erklärt: die silberne Teekanne daneben, eine Medaille mit seinem Konterfei oder der Brieföffner mit dem roten Stern?
Nexö war als Mitbegründer der »Danmarks Kommunistiske Parti« Delegierter des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale in Moskau und auch sonst politisch sehr aktiv, woran diese Zeitschrift, wohl als einzige, anlässlich seines 150. Geburtstages vor drei Jahren (Manfred Orlick: »Pelle« und »Ditte Menschenkind«, Ossietzky 12/2019) angemessen erinnerte. Im Kalten Krieg siedelte Nexö in die DDR über, wo er 1954 in Dresden verstarb. Die dortige Trauerfeier, so ist im Video in seinem Arbeitszimmer zu sehen, hatte die Dimension eines Staatsbegräbnisses. Gezeigt werden auch Sequenzen aus der DDR-Verfilmung von »Pelle der Eroberer«, die mit Szenen aus der dänischen Verfilmung kontrastiert werden, welche 1987, also zwei Jahre später, entstanden war. Mein Ältester war damals für die Hauptrolle von Filmregisseur Christian Steinke erfolgreich gecastet worden – er war damals elf und hatte strohblondes Haar wie Pelle –, doch es lag an den Kühen: Mein Kind fürchtete große Tiere. Und da Pelle Rinder hüten musste, erledigte sich die Filmkarriere meines Sohnes, ehe sie begonnen hatte.
Hinter Nexø beginnt der Sandstrand an der sonst von Felsen und Steinen gesäumten Insel. Schon vom Weiten sieht man einen weißen Turm am Strand von Dueodde, der sich wie ein Achtungszeichen in den Himmel reckt. Es ist der von der Nato errichtete Horchposten, von dem aus – wie etwa vom Teufelsberg in Westberlin – elektronisch in den Ostblock hineingelauscht wurde. Der dänische Geheimdienst nutzte dafür seit 1948 bereits den danebenstehenden Leuchtturm. Die Spionagezentrale wurde sukzessive ausgebaut und schließlich 1986 dieser siebzig Meter hohe Turm errichtet. Dort steht er noch immer, auch wenn 2012 die Technik demontiert wurde und seither das bizarre Bauwerk lediglich als Aussichtsturm genutzt wird.
Der Betreiber – ob privat oder staatlich, das ist nicht zu erkennen – wirbt mit den Köpfen von Chruschtschow und Kennedy für ein »Museum des Kalten Krieges« und für eine Minigolfanlage auf dem umzäunten Areal. Es ist, um es kurz zu machen, die konfuseste, dämlichste Ausstellung, die ich jemals besucht habe. Die einzige Systematik vermochte ich im Museumsshop zu erkennen: Da waren ordentlich die Bücher von den Metallbildern, die Regenschirme von den Anstecknadeln und die Fahnen von den Plakaten und Plüschtieren geschieden. In der Ausstellung selbst, die sich über das Labyrinth der einstigen Geheimdiensträume verteilt, kann man viel, sehr viel Unverständliches lesen. Für die Übersetzungen hatte man wohl auf Muttersprachler verzichtet. Und so gesellt sich zum inhaltlichen Dilettantismus auch noch der sprachliche: »Einer der Episoden wo die dänischen Abhörstationen und besonder die auf Dueodde ihren Wert bewiesen hat, war in der Verbindung mit der Invasion des Warschauerpaktes in der Tschechoslowakei im August 1968. Schon Monate vorher hatte der Geheimdienst duch die elektronische überwachung der östlichen Einheiten hinter dem eisernen Vorhang erfahren, dass die Einheiten des Warschauer-Paktes um Tschechoslowakien herum, im Einsatz waren, weil die Regierung im Frühjahr 1968 beschlossen hatte, das sozialistische System zu reformieren.« Aha. So kann man also Geschichte plastisch erklären.
Natürlich war der Lift außer Betrieb. So stiegen wir die 417 Stufen hinauf zur Spitze. Der Muskelkater war erheblich nachhaltiger als die Erinnerung an diese eklektizistische Exposition. Wir rätseln zum Beispiel noch immer, was die ausgestellte MiG 15, mit der ein Pole im März 1953 nach Rønne geflohen war, mit dem KZ Auschwitz, dem ein ganzer Raum gewidmet ist, mit einer Schirmmütze, der man ein Band mit dem Schriftzug »Ministerium für Staatssicherheit« umgelegt und einen weißen Bezug mit Kokarde übergezogen hatte, miteinander zu tun haben. Wir sind noch immer ratlos.
Am originellsten waren noch die Eintrittskarten, die nur eine Zahl aufwiesen. Unsere lauteten 28 und 29. Wahrscheinlich hatte man den Preis wegen der Inflation nicht aufgedruckt. Das Billett kostete übrigens 100 Kronen, also 13,50 €. Ganz schön viel Geld für so wenig Erkenntnis.
Wäre ich dort oben, auf dem Turm, ein paar Tage geblieben, hätte ich Ende September die Gasblasen aus dem Meer steigen sehen. Hart an der Grenze zum dänischen Territorialgewässer verläuft hier die russische Pipeline Nord Stream 2, die an eben jener Stelle ein Leck bekam und leerlief. Und obwohl die Ostsee zu den am besten überwachten Meeren der Welt gehört, weiß man angeblich noch immer nicht, was in siebzig Meter Tiefe geschah. Ein Rätsel wie damals der Untergang der Beluga. Auch diesmal fand zufällig in der Nähe ein Manöver statt. Das Fehmarnsche Tageblatt – übrigens das einzige deutsche Medium, das diese Nachricht brachte – vermeldete am 24./25. September: »Nato-Flottenverband mit Flaggschiff ›USS Kearsarge‹ verlässt die Ostsee.« Die US-Schiffe hätten zuvor »an Nato-Manövern« teilgenommen. Der Flugzeugträger sei übrigens das größte US-Kriegsschiff gewesen, »das in den letzten 30 Jahren in der Ostsee im Einsatz war«. Das stimmt nicht ganz: Die USS Kearsarge, eines der größten Schiffe der Kriegsmarine der USA, nahm auch 1999 an dem Nato-Manöver teil, bei dem die Beluga sank.
Am 26. September zerstörten mehrere Detonationen die beiden russischen Pipelines …