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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Bilanz zum Jahreswechsel

Für einen alten Mecker­kopp wie unser-einen gehört es sich, selbst dem trau­ri­gen Abge­sang des Schalt­jah­res 2020 und der coro­naschwan­ge­ren Steiß­ge­burt von 2021 noch etwas Sati­re nach­zu­wer­fen. Schwer fiel mir das bei der Rück­schau auf die­ses beschis­se­ne 2020 nicht, zumal ich der The­se »Schlim­mer kann›s nicht mehr kom­men!« als erfah­re­ner Opti­mist schon mehr­mals erfolg­reich ein Kon­tra ent­ge­gen­set­zen konn­te. Mir ist aller­dings bewusst, dass ich mei­ne Schlau­ber­ge­rei­en nicht bis zum St.-Nimmerleinstag zurück­hal­ten kann, denn ich zäh­le zur pan­de­mi­schen Risi­ko­grup­pe, und wann und wie nach­hal­tig der ret­ten­de Impf­stoff mei­nen über 85-jäh­ri­gen bibli­schen Kor­pus rund­erneu­ern wird, hängt von den Resul­ta­ten der medi­zi­ni­schen For­schung, dem Geran­gel zwi­schen den Bun­des­län­dern und Par­tei­en und den Raf­fi­nes­sen des digi­ta­len Daten­klaus ab.

Doch hal­ten wir noch etwas Rück­schau auf das ver­bli­che­ne Jahr. Kaum mit Don­ner und Pul­ver­dampf emp­fan­gen und mit den übli­chen nutz­lo­sen Gut­wün­schen für die Ver­wandt­schaft und die Freun­de aus­ge­stat­tet, war 2020 über uns her­ge­fal­len wie eine Stich­flam­me über ver­trock­ne­tes Getrei­de. Und wer gesund blieb, konn­te sich freu­en, zumal Gesund­heit sowie­so nichts ande­res ist als die Sum­me nicht ein­ge­fan­ge­ner, über­wun­de­ner oder ver­nach­läs­sig­ter Krank­hei­ten und Symptome.

Man­ches ver­lief wie gewohnt, so die welt­um­span­nen­de Beschwö­rung von Frie­den, Frei­heit, Men­schen­rech­ten und Demo­kra­tie par­al­lel zu regio­na­len Krie­gen und Ter­ror­ak­ten sowie das zeit­rau­ben­de Pala­ver aller mög­li­chen Gre­mi­en über und um alle nur denk­ba­ren Wich­tig- und Nich­tig­kei­ten. Davon hoben sich das bri­tan­ni­sche Brexit und die dar­auf aus­ge­rich­te­ten Begrün­dun­gen von Herrn John­son als beson­de­re rhe­to­ri­sche Höhe­punk­te ab.

Was hat sich noch ereig­net? Als nach eige­nem Zeug­nis bis­her erfolg­reich­ster USA-Prä­si­dent seit Win­ne­tou und Kolum­bus lief Donald Trump sei­nem Vor­na­mens­vet­ter Donald Duck den Rang ab und unter­stell­te den Demo­kra­ten die hin­ter­häl­ti­ge Fäl­schung von Wahl­re­sul­ta­ten. Trump errich­te­te eine län­ge­re Mau­er als wei­land Wal­ter Ulb­richt, beför­der­te bewähr­te inter­na­tio­na­le Ver­ein­ba­run­gen in den Schred­der der Geschich­te und initi­ier­te gegen­über den Medi­en einen for­schen Aus­tausch von Aggres­si­vi­tä­ten und Fakes. Die Pan­de­mie wur­de von ihm zunächst igno­riert, dann Chi­na in die Schu­he gescho­ben und letzt­lich als eige­ner Kamp­f­es­er­folg glo­ri­fi­ziert. Sei­ne inter­na­tio­na­len Akti­vi­tä­ten führ­ten – um es vor­sich­tig zu for­mu­lie­ren – häu­fig zu Unwäg­bar­kei­ten und erschwer­ten der inter­na­tio­na­len Poli­tik das Tak­tie­ren mit dem Ame­ri­ca-first-Vor­bild. Trumps Nach­fol­ger Joe Biden, der häu­fig im Senio­ren-Mara­thon­schritt zum Red­ner­pult hech­te­te, ist nicht um das Erbe sei­nes Vor­gän­gers zu beneiden.

Aber blei­ben wir noch etwas inner­halb der bun­des­deut­schen Gren­zen: Die hie­si­gen Par­tei­en tau­schen noch immer häu­fig und mit erstaun­li­chen Resul­ta­ten ihre Spit­zen­ka­der aus, der Luft­ver­kehr wur­de durch zu früh geschlos­se­ne, zu spät eröff­ne­te und zu hoch­gra­dig elek­tri­fi­zier­te Flug­hä­fen zum Kol­laps dis­qua­li­fi­ziert, und als sich dann noch Coro­na aus­brei­te­te, wur­den die Bür­ger vom frü­hen Lenz bis zum spä­ten Advent zu vita­len Test­kör­pern gestylt.

Apro­pos Advent: Das Wort kommt aus dem Latei­ni­schen, ist abge­lei­tet vom Verb »adve­ni­re« und ver­heißt – das ist aus dem lan­ge zurück­lie­gen­den Latein-Unter­richt selbst an mir hän­gen­ge­blie­ben –, dass irgend­et­was mit Gewiss­heit auf uns zukom­men wird. In der Über­lie­fe­rung ist es das Christ­kind, also Jesus, der als gott­ge­sand­ter Erlö­ser die Mensch­heit von ihren Sün­den befrei­en soll­te. Uto­pien gab’s halt schon immer. Wenn man heut­zu­ta­ge in die Tages­pres­se schaut oder gebannt auf den Bild­schirm starrt, weiß man, dass gegen­wär­tig immer wie­der neue schwer repa­ra­ble Defi­zi­te »fröh­li­che Urständ« fei­ern. Außer­dem sei im Zeit­al­ter sta­ti­stisch beun­ru­hi­gen­der Gewalt­tä­tig­kei­ten gegen­über dem schö­nen Geschlecht und über­be­leg­ter Frau­en­häu­ser die Fra­ge erlaubt, war­um aus­ge­rech­net ein »hol­der Kna­be« das Werk voll­brin­gen muss­te. Wäre es nicht end­lich ange­bracht, bei Krip­pen­spie­len ein unschul­di­ges Mäd­chen ins duf­ti­ge Heu zu packen und ihm die Erlö­sung zu über­tra­gen? Außer­dem wird oft ver­heim­licht, dass Klein-Jesus ein Flücht­lings­kind war, des­sen Geburts­kom­pli­ka­tio­nen sich dar­aus erga­ben, dass sich sei­ne leib­li­chen Eltern auf­grund einer behörd­lich ange­ord­ne­ten Volks­zäh­lung an ihren Her­kunfts­ort zu bege­ben hat­ten! Und das bei dem damals recht lücken­haft funk­tio­nie­ren­den öffent­li­chen Per­so­nen-Nah­ver­kehr und kurz nach dem übli­chen Fahr­plan­wech­sel im Dezem­ber! Ein Glück, dass dabei nicht noch ein Oze­an per Schlauch­boot zu über­win­den war! Man­ches ist eben viel aktu­el­ler als man glaubt.

Am Jah­res­en­de 2020 war es anstel­le des War­tens auf den Hei­land und die näch­ste Trump-Tira­de wohl eher das Hof­fen auf den Pan­de­mie-Impf­stoff, der den Völ­kern aller Natio­nen und den Bewoh­nern der Bun­des­län­der und Land­krei­se die Angst vor einer Infek­ti­on neh­men und die Erlö­sung brin­gen sollte.

Und was gab es am Coro­na-Jah­res­wech­sel für gute Rat­schlä­ge? Hört auf die Wor­te von Frau Mer­kel, Herrn Spahn, Herrn Mül­ler, Herrn Prof. Dro­sten und Herrn Lau­ter­bach! Benutzt Des­in­fek­ti­ons­mit­tel anstel­le von Par­fum, niest im Bedarfs­fall in die eige­ne Arm­beu­ge oder die eige­ne Knie­keh­le und ver­brei­tet beim Chor­sin­gen weder Töne noch Aero­so­le. Hal­tet andert­halb Meter Ent­fer­nung zu den schlum­mern­den Obdach­lo­sen oder dem flott­fing­ri­gen Kla­vier­spie­ler unter der Brücke am S-Bahn­hof Frank­fur­ter Allee, zu den quen­geln­den Enkel- und Uren­kel­kin­dern, zu den Nach­barn und zu Euch sel­ber und beweist Eure künst­le­ri­schen Fähig­kei­ten durch die Gestal­tung attrak­ti­ver und unver­wech­sel­ba­rer Gesichts­mas­ken. Bleibt zu Hau­se im beque­men Ses­sel, mailt oder tele­fo­niert ab und zu mit der Ver­wandt­schaft. Nehmt Euch für die selbst­ver­ord­ne­te Qua­ran­tä­ne die Zeit, end­lich den Ossietzky-Jahr­gang 2020 zu sich­ten und den einen oder ande­ren Bei­trag noch­mals kri­tisch zu über­den­ken. Und freut Euch auf das Wahl­jahr 21 und dar­auf, dass die neue Bun­des­kanz­le­rin wahr­schein­lich wie­der ein Mann sein wird.

Ent­schul­digt bit­te auch mei­ne unge­pfleg­te Fri­sur. Die ver­schärf­ten Lock­down-Maß­nah­men haben bewirkt, dass der vor­ge­se­he­ne Fest­tags­schnitt mei­ner üppi­gen Locken bis weit ins neue Jahr hin­ein locken­down blei­ben muss. Wenn ich wie­der mehr Durch­blick habe, wer­de ich viel­leicht auch in die­sem Ossietzky-Jahr­gang wie­der alt­klug – und unauf­ge­for­dert, denn unser­ei­nen fragt ja kei­ner – über alles her­zie­hen, was Regie­run­gen und Par­tei­en hät­ten nach­hal­tig anders machen müssen.