Wer die gegenwärtige Krisen- und Kriegslage verstehen will, lese Conrad Schuhlers »Das neue Amerika des Joseph R. Biden«, quasi die Fortsetzung von »Wie weit noch bis zum Krieg«, mit dem sich Schuhler vor einem Jahr zu Wort meldete (siehe Ossietzky 1/2021). Das »Amerika first« hat Biden von Donald Trump übernommen und noch verschärft. Er verfolgt diese Linie nur mit anderen Methoden als sein Vorgänger. »Für immer« sollen die USA die führende Kraft in der Welt sein, ist das erklärte Ziel. Der wachsenden Spaltung im eigenen Land will Biden mit »nationaler Versöhnung« und »Respekt« vor den benachteiligten Minderheiten begegnen.
Das sind schöne Worte, ohne dass wirklich etwas bei denen ankommt, die schon längst zur Mehrheit geworden sind. Bidens Konzept, durch »mehr Sozialstaat« die Spaltung in immer weniger Gewinner der Globalisierung und eine wachsende Schar von Verlierern erträglicher zu machen, wird scheitern. So lautet die Prognose von Conrad Schuhler. Ebenso wird die Ausrufung eines neuen Kalten Krieges zwischen den »Demokratien« und den »Autokratien«, wie die US-Regierung die neue Systemrivalität nennt, den weiteren Aufstieg Chinas nicht verhindern können. Dies auch, weil z. B. Deutschland wirtschaftlich nichts Gutes zu erwarten hat von einer Politik, die nicht einmal in Worten noch das Prinzip der »friedlichen Koexistenz« anerkennt. Zunächst aber fügen sich die EU-Länder in der gegenwärtigen Ukraine-Krise den amerikanischen Vorgaben. Das Buch entstand bei Beginn der Aufregung, die von den US-Medien um Truppenbewegungen auf dem russischen Territorium künstlich ausgelöst wurde.
Biden versichert drohend »den Europäern und aller Welt«, man stünde vor der Wahl zwischen dem staatlichen Dirigismus und Zwang chinesischer Prägung und der Freiheit und Kreativität des Menschen nach dem Vorbild der USA. Für Schuhler stellt sich die Frage: Wie kann Washington daran gehindert werden, seine verbleibenden Machtressource, das Militär, einzusetzen und ein Inferno auszulösen?
Der erste Kontrollpunkt für Bidens Politik wird der Ausgang der gegenwärtigen Krise in Osteuropa sein, der zweite die Kongresswahlen im November 2022. Sollten die Demokraten ihre Mehrheit im Senat verlieren – der Verlust eines Sitzes würde genügen –, wäre die Biden’sche »Reformpolitik« gescheitert. Die Reaktion im Biden-Lager – wozu heute noch neben den genannten Medien auch viele Gewerkschaften auch manche Medien des liberalen und linken Spektrums wie Politico, Jacobin und LA Progressive zählen, die sich Kritik an Biden allesamt verkneifen aus Angst vor dem größten aller Übel: Trump – wird womöglich sein, dass Biden sich noch »geschmeidiger« zeigen müsse gegenüber den Forderungen von rechts. Schuhler ist sich sicher: »Dies wiederum wäre die fast sichere Gewähr, dass ins Weiße Haus wieder die alten Bewohner einziehen.« Er sieht die Gefahr des Faschismus in den USA.
Schuhler geht zurück auf die Vorbereitung der gegenwärtigen Dauerschlacht im Kalten Krieg, jener um die Ukraine. In der Nato-Gipfelerklärung vom Juni 2021 werden China und Russland zunächst als Monster der Kriegstreiberei und Menschenrechtsverletzung hingestellt, als formuliere man die Präambel einer Kriegserklärung. China »bedroht« oder »unterminiert« die kollektive Sicherheit, es gibt von ihm »cyber, hybride und andere asymmetrische Bedrohungen, einschließlich Desinformationskampagnen und den bösartigen Gebrauch von immer ausgeklügelteren Zerstörungstechnologien« (laut Nato vom 14.06.2021) Auch im All entstehen neue Techniken gegen »unsere Sicherheit«. Dazu treten die Weitergabe von Massenvernichtungsmitteln und die Erosion der Waffenkontrolle. Die Nato werde sich stärken »als kollektive Verteidigung der Euro-Atlantischen Zone, gegen Drohungen aus allen Richtungen«.
Dann zitiert Schuhler den Schlüsselsatz, der erstens die ganze Welt zum Einsatzgebiet der Nato erklärt und zweitens den Indo-Pazifik hervorhebt als einen künftigen Schwerpunkt: »Die Fähigkeit der Nato wird verstärkt, die regelbasierte internationale Ordnung durchzusetzen in Gebieten, die wichtig sind für die Länder der Allianz, und sie wird deshalb den Dialog und die praktische Kooperation suchen mit unseren jetzigen Partnern, was die EU- und die Anwärterstaaten einschließt, ebenso wie unsere Partner in Asien-Pazifik – und wir werden unser Engagement verstärken mit globalen Schlüsselakteuren und anderen neuen Gesprächspartnern jenseits der Euro-Atlantik-Zone, inklusive Afrika, Asien und Lateinamerika.« Die Nato erklärt also unverblümt die ganze Welt zu ihrem Einsatzgebiet, und die internationalen Regeln, wie sie den »westlichen Werten« entsprechend aufgestellt wurden, sind die Leitschnur ihres Handelns. Die Nato solle demnach als globale Polizei fungieren, die für das Einhalten der westlichen Werte sorgt, das heißt für die Durchsetzung der westlichen Interessen. »So definiert die Nato ihren Teil des Menschenrechtsimperialismus, der kennzeichnend ist für die Biden-Doktrin von der systemischen Rivalität zweier Blöcke« (S. 140).
Furchterregender noch als China werde dessen Partner Russland dargestellt. Russland ist »aggressiv« und »unverantwortlich«, es hat »80 % seiner strategischen Atomwaffen modernisiert«. Schuhler: Was denn sonst, möchte man meinen, soll es sein Waffenpotential verfallen lassen? Das wäre dann offenbar weniger »unverantwortlich«, aber auch wenig hilfreich gegen einen höher gerüsteten Wüterich, dessen wüste Beschimpfungen einen besorgt fragen lassen, ob hier ein militärischer Angriff vorbereitet werden soll. Mit Russland, heißt es bei der Nato wörtlich, könne es »keinen politischen Dialog« mehr geben, wenn es in den strittigen Fragen – Ukraine, Krim, Weißrussland, Georgien, Moldawien – kein Eingehen auf die besagten internationalen Regeln gäbe.
Die Nato erklärte im Juni 2021, sie suche »nicht die Konfrontation mit Russland, und sie stellt keine Bedrohung für Russland dar«. Im Satz zuvor heißt es aber drohend: »Wir werden auf die sich verschlechternde Sicherheitslage weiterhin antworten, indem wir unsere Abschreckungs- und Verteidigungskraft verbessern, einschließlich einer Vornepräsenz im östlichen Teil der Allianz.«
Die Nato operiert weit im Osten an der Grenze zu Russland, führt riesige Manöver durch, die auch als Probe zum Überfall auf Russland gedeutet werden können, und nennt Russland einen permanenten Störer der »regelbasierten internationalen Ordnung«. Im Manöver »Defender Europe 2021« übten 28.000 SoldatInnen aus 26 Nato-Ländern die schnelle Truppenverlegung an die Grenze zu Russland, und zwar an der sensibelsten Stelle im Südosten des Kontinents, am Balkan und am Schwarzen Meer (laut Neues Deutschland, 12.5.2021). Schuhler stellt fest, Putin und seine Selbstbereicherungsclique seien das eine Übel an der Lage in Russland. Die den Konflikt anheizende und aggressive Position der Nato ist das andere.
Seinen ersten Punkt auf der europäischen To-do-Liste habe Biden erreicht: Die USA sitzen fest im Sattel als Leader der größten Militärorganisation der Welt. Der Indo-Pazifik und China gehören zum Kampfgebiet der Nato. Russland ist als Schurke im Welttheater gebrandmarkt. Die anderen Ziele der US-Mission sind schwerer zu erreichen. Biden will den Sieg über die »autoritären Systemrivalen« – bis alles in Scherben fällt?
Vor einem Jahr schrieb Schuhler noch Hoffnungsvolles in seinem Buch »Wie weit noch bis zum Krieg?« Diese zarte Hoffnung ist zweifellos kleiner geworden. Besorgniserregend sei aus Sicht von Friedensaktivisten die alte und neue Unterwürfigkeit der deutschen Politik gegenüber den USA, die unter Trump bisweilen in Frage gestellt wurde. Jedoch aus dieser Gemengelage, aus dieser Gefahr könne auch das Rettende wachsen, so Schuhler vor einem Jahr: »Die Woge des globalen Protestes gegen Klimakatastrophe und Umweltverschmutzung gibt Hoffnung. Ob Krieg, Klima oder der Horror, der Flüchtlinge aus ihrem Land treibt – die Ursache liegt in den Imperativen der globalen Kapitalverwertung. Wenn die sozialen Bewegungen daraus die Konsequenz ziehen, gemeinsam zu kämpfen, haben wir eine Chance auf Zukunft.«
Conrad Schuhler: Das Neue Amerika des Joseph R. Biden, PapyRossa Verlag, Köln 2021, 163 S., 13,90 Euro, und ders.: Wie weit noch bis zum Krieg? Die USA, China, die EU und der Weltfrieden, PapyRossa Verlag, Köln 2020, 143 S., 12,90 Euro.