Es begann mit dem Erbe meines älteren Bruders Wilfried, der 2008 verstorben ist. Er hatte mir schon längere Zeit vor seinem Tod Ergebnisse seiner Recherchen zum Militärdienst unseres Großvaters von 1914 bis 1916 in Frankreich geschickt: Etwa 200 digitalisierte Fotos und Postkarten von der Front. Später erfuhr ich, dass das Fotografieren auf deutscher Seite genauso verboten war wie auf französischer, aber die deutschen Soldaten hielten sich nicht daran (im Gegensatz zu den französischen), und die Vorgesetzten haben es geduldet. Heute sind die Franzosen sehr dankbar für die Fotos, die die Deutschen damals gemacht haben.
Der Chemin des Dames ist eine Geländekante von etwa 40 km Länge im Dreieck Reims, Laon und Soissons. Er hat seinen Namen von Prinzessinnen aus der Zeit Ludwigs XV., die dorthin eine Lustreise unternahmen. Und in der Tat ist die Aussicht immer wieder berauschend schön. Im 1. Weltkrieg besetzten die Deutschen den oberen (nördlichen) Teil dieser Kante und konnten ihn lange halten. Die Franzosen waren in der militärisch ungünstigeren Lage. Es gibt dort eine Höhle, »Drachenhöhle« genannt. Sie entstand im Mittelalter, als man dort die Steine für die Kathedrale von Soissons brach. Im Krieg war sie zunächst umkämpft, wurde dann aber zu einem Ort, an dem sich die Soldaten erholen konnten.
Mein Großvater Friedrich Wilhelm Büntzli (1881-1957) war, als er zum Krieg eingezogen wurde, bereits verheiratet und hatte zwei Kinder (mit y musste sich erst mein Vater nach seiner Hochzeit schreiben, weil der Standesbeamte seinen Namen so festgehalten hatte). Die Tatsache, dass er zu Beginn des Krieges schon über 30 Jahre alt war, bewahrte ihn offenbar vor dem Schlimmsten: Er kam in eine Reserveeinheit, die am Chemin des Dames offenbar nicht allzu viel zu tun hatte. Er konnte sogar seinen Beruf als Uhrmacher ausüben und sich in einem Haus in dem kleinen Dorf Corbény seine eigene Werkstatt einrichten. Noch vor den großen Schlachten von 1917, die dem Chemin des Dames erst zu trauriger Berühmtheit verholfen haben, wurde er aus der Gegend wegbeordert und kam daher mit dem Leben davon.
Viel später lernte ich ein Lied von Bert Brecht kennen. Es handelt von einer Demonstration, die noch während des Krieges in Potsdam stattgefunden hatte, mit einem Sarg, der durch die Straßen getragen wurde und die Aufschrift trug »Jedem Krieger sein Heim«. Das war eine Anspielung auf ein Versprechen des Kaisers, der allen Soldaten zugesichert hatte, nach ihrer Rückkehr aus dem Krieg würden sie alle vom Staat die Möglichkeit erhalten, ihr eigenes Heim zu besitzen. In sarkastischer Weise wiesen die Demonstrierenden darauf hin, dass der Krieg nur noch den Sarg als »Heim« zuließ. »Das war zum Angedenken an manchen toten Mann«, reimte Brecht, »geboren in der Heimat, gefallen am Chemin des Dames«. Was aber ist der Chemin des Dames, fragten wir uns, als wir dieses Lied sangen. Wir erfuhren zunächst nichts als: Eine Frontlinie im 1. Weltkrieg. Wo genau diese Frontlinie verlief, das erfuhr ich erst, als ich mich näher mit den Fotos und Postkarten meines Großvaters beschäftigte.
Diese Dokumente sind nichts Rares, im Internet werden solche Karten zu Tausenden gehandelt. Die Postkarte ist übrigens gar nicht lange vor dem 1. Weltkrieg erfunden worden, im Zuge der Massenherstellung von Fotografien. Vor einigen Jahren sah ich in Hamm eine Ausstellung mit solchen frühen Postkarten, oftmals Karikaturen. Sie zeigten motivisch mehrere Phasen auf: Zu Beginn lagen alle Zeichnungen ganz auf der Linie der Kriegsbegeisterung und Propaganda. Im Verlaufe des Krieges erschienen realistischere Darstellungen des Kriegsalltags in den Schützengräben; und gegen Ende gibt es offene Auflehnung gegen ein Weiterführen des Schlachtens. Unter den Karten meines Großvaters haben mich besonders jene zum Weihnachtsfest und Jahreswechsel angesprochen. Sie äußern in erstaunlicher, oft humorvoller Weise (Galgenhumor!) immer wieder den Wunsch nach Frieden.
Sehr interessant, aber zum Teil zynisch fand ich Fotos mit Soldaten vor Trümmern, erläutert durch den Hinweis, die Zerstörungen seien von französischen Geschützen verursacht (also nicht etwa von deutschen). Natürlich, was sollten die Franzosen machen, nachdem die Deutschen die Höhe erobert hatten? Ihnen blieb nichts anderes übrig, als von unten her anzugreifen und ihre eigenen, inzwischen evakuierten und von den Deutschen besetzten Dörfer ins Visier zu nehmen. Solche Karten hat mein Großvater nicht verschickt, sondern offenbar verwahrt und seiner Frau erst nach seiner Heimkehr gezeigt. Denn die Rückseiten dieser Karten sind nicht beschriftet.
Auffällig waren die vielen privaten Fotos, die offenbar von einem oder mehreren Kameraden meines Großvaters aufgenommen wurden. Sie zeigen alltägliche Situationen, Gruppen von Soldaten, auch Befestigungswerke, Schützengräben. Mein Großvater ist wiederholt abgelichtet, unter anderem vor einem Haus in Corbény mit einem Schild im Fenster: »Uhren Büntzli«.
Bei den Postkarten waren natürlich die darauf vermerkten Botschaften entscheidend. Meine Großmutter hatte die beschrifteten Karten so in das Album eingeklebt, dass sie umzuklappen waren und man den Text lesen konnte. Ich habe später eine Form entwickelt, die Texte in eine Diapräsentation einzubauen. Man sieht zuerst die Vorderseite der Postkarte, das Foto, dann die Rückseite und schließlich dieselbe Rückseite mit dem Text in Druckschrift.
Die Texte sind zum großen Teil recht kurz, so, wie man sich auf einer Karte eben ausdrücken kann, enthalten aber trotzdem immer wieder wertvolle Hinweise über die damaligen Lebensumstände. Meistens sind es Grüße an die Kinder, Hinweise auf Briefe, die angekommen sind oder geschrieben wurden, Dank für Lebensmittelpakete und die Versicherung »Mir geht es gut«. Das war natürlich das Wichtigste, jede Karte war ein Lebenszeichen.
Ich war fasziniert von den vielen Ortsnamen, die auf den Postkarten erwähnt werden: Corbény, Aubigny, Bouconville, Chevreux, St. Thomas etc., und entschloss mich, diese Orte zu besuchen. Das war nicht immer einfach. Das Dorf Craonne beispielsweise hatte schon zu Beginn des Krieges schwere Zerstörungen erlitten, war im Verlaufe des Krieges vollständig vernichtet worden und wurde später nicht an derselben Stelle wieder neu aufgebaut. Das erfuhren wir im Oktober 2014 bei einem Besuch des Ortes. Noël Genteur, der damalige Bürgermeister, war der sachkundigste Fremdenführer, den wir finden konnten. So schrecklich wie Craonne hatte es während des Krieges kaum eine andere Siedlung getroffen. M. Genteur konnte uns Geschichten dazu erzählen, etwa dass er noch immer jedes Jahr auf seinem Acker Granathülsen im Boden findet; wo einstmals die Kirche stand, und dass an dieser Stelle ein Gedenkstein mit einer Inschrift zu sehen ist. Sie besagt in lateinischer Sprache: »Zum ewigen Gedächtnis«.
Dass die Kathedrale von Reims von den Deutschen beschossen und in Brand gesteckt worden war, wusste ich noch aus dem Schulunterricht. Dass aber auch die Kathedrale von Soissons unter dem Krieg gelitten hatte, und zwar noch mehr als die von Reims, das stellten wir erst bei einem Besuch dort fest.
Auf unserem Programm stand auch eine Fahrt nach Laon und natürlich eine zum Museum der »Drachenhöhle«. Ich begleitete dort eine Führung für eine Schulklasse. Besonders verstört hat mich die Information, dass die feindlichen Armeen, die verschiedene Teile der weit verzweigten Höhle besetzt hatten, ihren Krieg sogar innerhalb der Höhle mit Giftgas weiterführten, bis die deutsche Partei schließlich eine Mauer baute, um feindliche Überfälle zu unterbinden. Dass ein Ort wie die »Drachenhöhle« dazu verführt, sich mit vielen Einzelheiten der Kriegsführung zu beschäftigen, weil man dort viele Überbleibsel – Gasmasken, Gewehre, Helme, etc. – gefunden hat, war mir klar. Leider vermisste ich bei der Fülle der ansonsten engagiert und kompetent vorgetragenen Details ein Wort über Ursachen und Folgen des Krieges. Wenigstens als Denkanstoß hätte es den Schülerinnen mit auf den Weg gegeben werden müssen.
Der Journalist Eric Jonneau, der uns bei unserem Besuch in zuvorkommender Weise Kontakte verschafft hatte, äußerte uns gegenüber sein Bedauern, dass der 1. Weltkrieg als historisches Ereignis in Deutschland weit weniger präsent sei als in Frankreich; in einem Artikel für die Zeitung L’Aisne Nouvelle schrieb er sogar von einer »ignorance quasi dédaigneuse« (fast verächtlichen Ignoranz) der deutschen Geschichtsschreibung. Das rührt gewiss daher, dass sich dieser Krieg dem kollektiven Gedächtnis der Franzosen besonders intensiv eingebrannt hat: Er fand zum großen Teil auf französischem Territorium statt, er war besonders blutig, und die Franzosen haben ihn schließlich gewonnen.
Aber wie soll man Ignoranz oder Gedächtnis messen? Eigentlich geht das nur über die kollektiven Gedächtnishandlungen wie Feiertage oder Denkmäler. In Deutschland findet man so gut wie in jedem Dorf Monumente mit Namenslisten der Gefallenen aus beiden Kriegen, gelegentlich auch noch welche mit Opfern der Kriege von 1870/71 oder früher. In den Städten sind diese Gedenkorte eher an den Rand gedrängt worden, aber sie existieren ebenfalls noch. Des Weiteren gibt es im November gleich zwei Sonntage, an denen der Kriegsopfer gedacht wird, allerdings weiß ich nie, welcher davon der kirchliche und welcher der staatliche ist.
Auch das Militär ist sehr bestrebt, die Tradition des Totengedenkens aufrechtzuerhalten. Solche Veranstaltungen stoßen jedoch regelmäßig auf den Protest von Personen, die dabei eine prinzipielle Haltung gegen den Krieg vermissen. Mich erinnert das an eine Äußerung meiner Mutter, die, sehr katholisch und keineswegs rebellisch gegen Autoritäten, angesichts der jährlichen Sammlung für die Kriegsgräber sich immer weigerte, etwas zu geben. Ihr Argument: »Sollen sie keine Kriege mehr machen, dann brauchen sie auch keine Kriegsgräber zu pflegen.«