Schon vor unserer Geburt und dann bis zu unserem letzten Atemzug sind körperliche Berührungen existentiell. Säuglinge brauchen Körperkontakt, um zu überleben; auch Erwachsenen nimmt es die Angst, wenn sie liebevoll gehalten werden; Demenzkranke, die die Fähigkeit zum Sprechen verloren haben, verstehen immer noch die Sprache der Berührung. Oft setzen Berührungen Gefühle frei, die lange unterdrückt oder noch länger vermisst wurden: Die Sehnsucht nach Wahrnehmung, nach Geborgenheit. Und Berührungen stärken nicht nur unser körperliches und seelisches Immunsystem, sie verbessern auch unser Sozialverhalten. Unsere Bereitschaft, zuzuhören. Der Mangel an positiver Berührung wiederum macht krank – und führt dazu, dass Menschen sich ungeliebt und wertlos fühlen.
Berührung oder fehlende Berührung ist ein persönliches, ein psychologisch-medizinisches, aber auch ein zentrales politisches Thema. Ob im Privatleben oder in der Medizin, ob im Behördenalltag oder am Arbeitsplatz, ob in der Kunst oder in der Politik: Die zwischenmenschliche Interaktion wird zunehmend in eine körperlos-virtuelle Welt verlagert. Hier können wir Nähe simulieren und zugleich Distanz halten; hier können wir uns mittendrin fühlen und sind dennoch allein. Kommunikation ohne tatsächliche Gegenwart.
Wir sehnen uns nach Berührung, aber wir schotten uns auch ab. Gegen Berührung im körperlichen wie im metaphorischen Sinn. Abkapselung aus Angst vor Gefühlen oder Krankheit oder Konkurrenz, aus Angst vor der Überforderung durch die Vielzahl an bedrohlichen Nachrichten. Diese berührungslose, unnahbare Gesellschaft ist in weiten Teilen der Bevölkerung Realität. Gemeint ist nicht nur die körperliche Berührung, sondern ebenfalls die seelische oder die geistige Berührung. Doch wie soll eine Gesellschaft funktionieren, in der uns die Fähigkeit abhandengekommen ist, zu berühren und uns berühren zu lassen? Wie können wir mit abgestumpften Gefühlen und den durch zu viele glatte Oberflächen verkümmerten Tastsinn unsere Um-Welt noch begreifen und gestalten?
Die moderne Neurobiologie weiß, dass der primäre Trieb des Menschen, dass seine biologische Grundmotivation die Aussicht auf soziale Gemeinschaft und auf die Zuwendung anderer Menschen ist. Ohne Gemeinschaft und Anerkennung, ohne Wärme und Berührungen werden Menschen aggressiv, einsam und manipulierbar. Sie verlieren die Fähigkeit zum Mitgefühl, die Fähigkeit zu vertrauen – und die Fähigkeit, zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden. Wir befinden uns in einer gesellschaftlichen Krise der Berührung, der Nahbarkeit, die schon lange vor Corona begonnen hat; eine Krise, die unser Körpergefühl, unsere Weltwahrnehmung und unsere Fähigkeit zur Kommunikation verändert – von Empathie ganz zu schweigen.
Wir sehen die Entwicklung einer neuen Klassengesellschaft: hier die hygienisch sauberen Digital-Arbeitsplätze, dort die »schmutzigen Dienstleister« in der Pflege oder im Reinigungsgewerbe; hier die Gesundheitsfanatiker der Mittelschicht, die sich beim berührungslosen Applaus für die »Helden des Alltags« nur selbst beklatschen, dort der wachsenden Ekel vor Krankheit und Alter, vor den »Rändern« der Gesellschaft; hier die Erziehung zur angeblich lebensrettenden Distanz, die uns täglich mehr zur Gewohnheit wird, dort die tödliche Distanz zu den Massen von Rechtlosen und Namenlosen an den Grenzen der Festung Europa, deren Leben wir jeden Wert absprechen, deren Körpern wir jeden Schutz verweigern.
Der Umgang mit der Corona-Pandemie, die hysterische Dauerwarnung, dass unsere Körper sich gegenseitig vergiften, befördert die Entwicklung zu einer berührungslosen und berührungsängstlichen Gesellschaft. So wie die Pandemie auch die Bereitschaft befördert, unsere Kontakte, unser Leben überwachen zu lassen. Halten wir uns an die Nichtberührungsregeln? Halten wir genügend Distanz? Sind unsere Umgangsformen mit anderen Menschen »gesund« und hygienisch vertretbar?
Derzeit geht es in der öffentlichen Diskussion immer wieder um die Frage, ob es nach der Corona-Pandemie im unbefangenen Umgang der Menschen miteinander eine Rückkehr zur »alten Normalität« geben wird – oder ob wir in Zukunft mit einer »neuen Normalität« leben müssen.
Aber gab es vor Corona denn noch einen unbefangenen Umgang miteinander? Für diejenigen, die im sozialen Umfeld der gebildeten Mittelschicht Kinder großziehen, gehört es schon längst zur Regel, andere Eltern vor Krankheitszeichen bei den eigenen Kindern zu warnen oder sie gleich von den anderen Kindern fernzuhalten. Das gleiche Verhalten gilt auch für eigene Erkrankungen. »Lieber keine Umarmung, ich bin immer noch erkältet.« Zwischenmenschliche Beziehungen werden in diesen Kreisen durch das absolut gesetzte Prinzip reguliert, andere Menschen nicht anzustecken oder von ihnen angesteckt zu werden. So gesehen sind die aktuell geltenden Paradigmen zur Vermeidung von Ansteckung – die Einhaltung der sozialen Distanz, die zu unterlassenen Berührungen – nur eine Fortsetzung der »alten Normalität«. Während früher ein gesundes und langes Leben noch als Glück und erstrebenswertes Ziel für den Einzelnen gesehen wurde, wird nun jeder, der sich nicht an die Regeln für ein »gesundes Leben« hält, als Schädling für die Gemeinschaft beschimpft. Von einer (grünen) Mittelschicht, die für sich beansprucht, das bessere, richtigere Leben zu führen. Das lustvolle Risiko ist immer mehr verpönt: Die kulinarische Völlerei, Alkohol, Zigaretten, spontane sexuelle Abenteuer. Alles unterliegt einer statistischen Risikoabschätzung, und damit hat die Lust auch schon jeden Reiz verloren. Wer aber auf die Zahlen und Direktiven der Gesundheitsdiktatoren und damit auf die lustlose Lebensverlängerung pfeift, gilt als asozial.
Doch mitten im Getümmel, im Stadion, in der überfüllten Kneipe, beim gemeinsamen Jubeln, Schlemmen, Trinken, Flirten und Streiten kommen wir anderen Menschen in glücklich machender Enthemmung nah. Wir hören sie, wir riechen sie, wir lachen mit ihnen, wir berühren sie. Wir genießen den Rausch.
Mit der Angst vor der lebensverschwendenden Hingabe verlieren wir eben die Hingabe selbst, die uns nach Nähe streben und nicht aus Angst vor Ansteckung schlottern lässt.