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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Berührung

Schon vor unse­rer Geburt und dann bis zu unse­rem letz­ten Atem­zug sind kör­per­li­che Berüh­run­gen exi­sten­ti­ell. Säug­lin­ge brau­chen Kör­per­kon­takt, um zu über­le­ben; auch Erwach­se­nen nimmt es die Angst, wenn sie lie­be­voll gehal­ten wer­den; Demenz­kran­ke, die die Fähig­keit zum Spre­chen ver­lo­ren haben, ver­ste­hen immer noch die Spra­che der Berüh­rung. Oft set­zen Berüh­run­gen Gefüh­le frei, die lan­ge unter­drückt oder noch län­ger ver­misst wur­den: Die Sehn­sucht nach Wahr­neh­mung, nach Gebor­gen­heit. Und Berüh­run­gen stär­ken nicht nur unser kör­per­li­ches und see­li­sches Immun­sy­stem, sie ver­bes­sern auch unser Sozi­al­ver­hal­ten. Unse­re Bereit­schaft, zuzu­hö­ren. Der Man­gel an posi­ti­ver Berüh­rung wie­der­um macht krank – und führt dazu, dass Men­schen sich unge­liebt und wert­los fühlen.

Berüh­rung oder feh­len­de Berüh­rung ist ein per­sön­li­ches, ein psy­cho­lo­gisch-medi­zi­ni­sches, aber auch ein zen­tra­les poli­ti­sches The­ma. Ob im Pri­vat­le­ben oder in der Medi­zin, ob im Behör­den­all­tag oder am Arbeits­platz, ob in der Kunst oder in der Poli­tik: Die zwi­schen­mensch­li­che Inter­ak­ti­on wird zuneh­mend in eine kör­per­los-vir­tu­el­le Welt ver­la­gert. Hier kön­nen wir Nähe simu­lie­ren und zugleich Distanz hal­ten; hier kön­nen wir uns mit­ten­drin füh­len und sind den­noch allein. Kom­mu­ni­ka­ti­on ohne tat­säch­li­che Gegenwart.

Wir seh­nen uns nach Berüh­rung, aber wir schot­ten uns auch ab. Gegen Berüh­rung im kör­per­li­chen wie im meta­pho­ri­schen Sinn. Abkap­se­lung aus Angst vor Gefüh­len oder Krank­heit oder Kon­kur­renz, aus Angst vor der Über­for­de­rung durch die Viel­zahl an bedroh­li­chen Nach­rich­ten. Die­se berüh­rungs­lo­se, unnah­ba­re Gesell­schaft ist in wei­ten Tei­len der Bevöl­ke­rung Rea­li­tät. Gemeint ist nicht nur die kör­per­li­che Berüh­rung, son­dern eben­falls die see­li­sche oder die gei­sti­ge Berüh­rung. Doch wie soll eine Gesell­schaft funk­tio­nie­ren, in der uns die Fähig­keit abhan­den­ge­kom­men ist, zu berüh­ren und uns berüh­ren zu las­sen? Wie kön­nen wir mit abge­stumpf­ten Gefüh­len und den durch zu vie­le glat­te Ober­flä­chen ver­küm­mer­ten Tast­sinn unse­re Um-Welt noch begrei­fen und gestalten?

Die moder­ne Neu­ro­bio­lo­gie weiß, dass der pri­mä­re Trieb des Men­schen, dass sei­ne bio­lo­gi­sche Grund­mo­ti­va­ti­on die Aus­sicht auf sozia­le Gemein­schaft und auf die Zuwen­dung ande­rer Men­schen ist. Ohne Gemein­schaft und Aner­ken­nung, ohne Wär­me und Berüh­run­gen wer­den Men­schen aggres­siv, ein­sam und mani­pu­lier­bar. Sie ver­lie­ren die Fähig­keit zum Mit­ge­fühl, die Fähig­keit zu ver­trau­en – und die Fähig­keit, zwi­schen Freun­den und Fein­den zu unter­schei­den. Wir befin­den uns in einer gesell­schaft­li­chen Kri­se der Berüh­rung, der Nah­bar­keit, die schon lan­ge vor Coro­na begon­nen hat; eine Kri­se, die unser Kör­per­ge­fühl, unse­re Welt­wahr­neh­mung und unse­re Fähig­keit zur Kom­mu­ni­ka­ti­on ver­än­dert – von Empa­thie ganz zu schweigen.

Wir sehen die Ent­wick­lung einer neu­en Klas­sen­ge­sell­schaft: hier die hygie­nisch sau­be­ren Digi­tal-Arbeits­plät­ze, dort die »schmut­zi­gen Dienst­lei­ster« in der Pfle­ge oder im Rei­ni­gungs­ge­wer­be; hier die Gesund­heits­fa­na­ti­ker der Mit­tel­schicht, die sich beim berüh­rungs­lo­sen Applaus für die »Hel­den des All­tags« nur selbst beklat­schen, dort der wach­sen­den Ekel vor Krank­heit und Alter, vor den »Rän­dern« der Gesell­schaft; hier die Erzie­hung zur angeb­lich lebens­ret­ten­den Distanz, die uns täg­lich mehr zur Gewohn­heit wird, dort die töd­li­che Distanz zu den Mas­sen von Recht­lo­sen und Namen­lo­sen an den Gren­zen der Festung Euro­pa, deren Leben wir jeden Wert abspre­chen, deren Kör­pern wir jeden Schutz verweigern.

Der Umgang mit der Coro­na-Pan­de­mie, die hyste­ri­sche Dau­er­war­nung, dass unse­re Kör­per sich gegen­sei­tig ver­gif­ten, beför­dert die Ent­wick­lung zu einer berüh­rungs­lo­sen und berüh­rungs­ängst­li­chen Gesell­schaft. So wie die Pan­de­mie auch die Bereit­schaft beför­dert, unse­re Kon­tak­te, unser Leben über­wa­chen zu las­sen. Hal­ten wir uns an die Nicht­be­rüh­rungs­re­geln? Hal­ten wir genü­gend Distanz? Sind unse­re Umgangs­for­men mit ande­ren Men­schen »gesund« und hygie­nisch vertretbar?

Der­zeit geht es in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on immer wie­der um die Fra­ge, ob es nach der Coro­na-Pan­de­mie im unbe­fan­ge­nen Umgang der Men­schen mit­ein­an­der eine Rück­kehr zur »alten Nor­ma­li­tät« geben wird – oder ob wir in Zukunft mit einer »neu­en Nor­ma­li­tät« leben müssen.

Aber gab es vor Coro­na denn noch einen unbe­fan­ge­nen Umgang mit­ein­an­der? Für die­je­ni­gen, die im sozia­len Umfeld der gebil­de­ten Mit­tel­schicht Kin­der groß­zie­hen, gehört es schon längst zur Regel, ande­re Eltern vor Krank­heits­zei­chen bei den eige­nen Kin­dern zu war­nen oder sie gleich von den ande­ren Kin­dern fern­zu­hal­ten. Das glei­che Ver­hal­ten gilt auch für eige­ne Erkran­kun­gen. »Lie­ber kei­ne Umar­mung, ich bin immer noch erkäl­tet.« Zwi­schen­mensch­li­che Bezie­hun­gen wer­den in die­sen Krei­sen durch das abso­lut gesetz­te Prin­zip regu­liert, ande­re Men­schen nicht anzu­stecken oder von ihnen ange­steckt zu wer­den. So gese­hen sind die aktu­ell gel­ten­den Para­dig­men zur Ver­mei­dung von Ansteckung – die Ein­hal­tung der sozia­len Distanz, die zu unter­las­se­nen Berüh­run­gen – nur eine Fort­set­zung der »alten Nor­ma­li­tät«. Wäh­rend frü­her ein gesun­des und lan­ges Leben noch als Glück und erstre­bens­wer­tes Ziel für den Ein­zel­nen gese­hen wur­de, wird nun jeder, der sich nicht an die Regeln für ein »gesun­des Leben« hält, als Schäd­ling für die Gemein­schaft beschimpft. Von einer (grü­nen) Mit­tel­schicht, die für sich bean­sprucht, das bes­se­re, rich­ti­ge­re Leben zu füh­ren. Das lust­vol­le Risi­ko ist immer mehr ver­pönt: Die kuli­na­ri­sche Völ­le­rei, Alko­hol, Ziga­ret­ten, spon­ta­ne sexu­el­le Aben­teu­er. Alles unter­liegt einer sta­ti­sti­schen Risi­ko­ab­schät­zung, und damit hat die Lust auch schon jeden Reiz ver­lo­ren. Wer aber auf die Zah­len und Direk­ti­ven der Gesund­heits­dik­ta­to­ren und damit auf die lust­lo­se Lebens­ver­län­ge­rung pfeift, gilt als asozial.

Doch mit­ten im Getüm­mel, im Sta­di­on, in der über­füll­ten Knei­pe, beim gemein­sa­men Jubeln, Schlem­men, Trin­ken, Flir­ten und Strei­ten kom­men wir ande­ren Men­schen in glück­lich machen­der Ent­hem­mung nah. Wir hören sie, wir rie­chen sie, wir lachen mit ihnen, wir berüh­ren sie. Wir genie­ßen den Rausch.

Mit der Angst vor der lebens­ver­schwen­den­den Hin­ga­be ver­lie­ren wir eben die Hin­ga­be selbst, die uns nach Nähe stre­ben und nicht aus Angst vor Ansteckung schlot­tern lässt.