Er war der Zauberer der Farbe und des Lichts. Das Straßenbild der Großstadt Berlin bei Tag und bei Nacht, bei Regen und bei Sonnenschein war ein bevorzugtes Motiv der Malerei um 1900. Doch keiner konnte so wie Lesser Ury regennasse Asphaltstraßen malen, die den Schein der abendlichen Beleuchtung spiegeln. Ob er die Leipziger Straße, den Nollendorfplatz, wo er seit 1902 wohnte, den Bahnhof Friedrichstraße oder Unter den Linden mit dem Blick auf das Brandenburger Tor einfing, stets setzte Ury atmosphärische Effekte wie Licht, Dampf und Nebel ein, hob Lichtreklamen und Autoscheinwerfer aus dem Dunkel der Nacht wie katzenhafte Lichtkegel hervor. Selbst die nächtlichen Straßenszenen des Berliner Regenwetterimpressionisten triefen vor Wasser, denn er braucht den Spiegel des nassen Straßenpflasters und Asphalts für den Abglanz des Laternen- und Scheinwerferlichts. Erst der Berliner Expressionismus sollte dann die Großstadtstraße als Sinne und Nerven in Vibration versetzendes psychisches Reizmittel und Faszinosum entdecken und daraus ein zentrales Motiv gewinnen.
Den aus kleinbürgerlichen jüdischen Kreisen stammenden Lesser Ury mit Max Liebermann, Sohn wohlhabender jüdischer Eltern, in Verbindung zu bringen ist ein Wagnis und eine längst fällige Notwendigkeit zugleich. Ein Wagnis, weil Liebermann nach anfänglicher Förderung des 14 Jahre Jüngeren zu einem Gegner Urys wurde, als dieser behauptete, die Lichteffekte in dessen Bild »Flachsscheuer in Laren« (1887) seien von ihm, Ury, gemalt worden. Liebermann antwortete nur mit Noblesse, aber beide wollten seitdem nichts mehr miteinander zu tun haben. Solange Liebermann Vorsitzender der Berliner Sezession war, hatte es Ury schwer, sich in Berlin durchzusetzen. Erst als Lovis Corinth die Sezessions-Nachfolge antrat, wurde er bekannt.
Martin Faass, von 2006 bis 2018 Direktor der Liebermann-Villa am Wannsee, hatte bereits die Absicht, die impressionistischen Berlin-Ansichten Liebermanns und Urys – sie unterscheiden sich thematisch wie stilistisch – miteinander zu vergleichen. Diese Absicht setzt nun der neue Direktor Daniel Spanke in Zusammenarbeit mit Alice Cazzola um.
Seit dem Bezug des elterlichen Hauses am Pariser Platz war Liebermann der lichterfüllte Tiergarten in unterschiedlichen Variationen und Techniken Inspirationsquelle. Aber schon das Gemälde »Kinderspielplatz im Berliner Tiergarten« (1882) mit Kindern und ihren Ammen im sonnendurchfluteten Dickicht sollte ihm als Vorbild bis in die 1930er Jahre dienen. Der wiederholte Blick auf den Tiergarten ist gelegentlich aber auch von einer großen leeren Fläche geprägt (»Blick aus dem Atelier des Künstlers auf den Königsplatz und die Siegessäule«, 1897). Liebermanns Großstadtbilder zeigen das moderne, mondäne Straßenleben auf den großen Prachtboulevards. Die tonige Malerei, die in seinem Werk dominiert, hebt sich deutlich genug von der Maltechnik Urys, aber auch der französischer Impressionisten ab. Liebermann war niemals ein Mann des eruptiven Experiments, der rücksichtslosen Eroberung von Neuland und des gestalterischen Risikos, des »Alles oder nichts«. Seine Schöpfungen nahmen einen fast »kammermusikalischen« Klang an, und ab 1894 machte sich ein »impressionistisches« Element in seinem Schaffen geltend. Er wandte sich nunmehr dem Problem von Licht und Sonneneinwirkung in der Landschaft zu, wobei er häufig die Stimmung unter dem grünen Laubdach der Bäume beobachtete. Nun beginnt sich die konkrete Form aufzulösen, das Skizzenhafte und das Spiel der Lichteffekte dominieren, die Fluktuation des Lichtes verlangt eine Leuchtkraft der Farbflecke. Schon hier exerziert er seine »Kunst des Weglassens« und des Vereinfachens. Liebermann bekannte: »Nur das unter dem frischen Eindruck der momentanen Phantasie flüssig ineinander gemalte Stück hat inneres Leben.«
Der Kunstschriftsteller Lothar Brieger bezeichnete Ury 1921 als »Malerradierer«, der Begriff kann auch für die jetzige Schau beibehalten werden. Erst im Alter, nach dem 60. Lebensjahr, hat sich Ury der Lithografie und der (Kaltnadel-)Radierung zugewandt. Hier greift er die Themen der frühen Gemälde der 1880er Jahre auf, doch in neuer Form und in anderer stilistischer Intention. Er will die mit Pinsel und Farbe erreichten Effekte auch in Schwarz-Weiß hervorbringen. So bearbeitet er viele seiner Straßen- und Caféhausszenen in grafischem Sinne aufs Neue. Mit sparsamen Mitteln vermag er auch grafisch, das Flimmern und Aufleuchten des Lichts, die atmosphärische Wirkung und das Ineinanderfluten der Flächen sowie den Bewegungsrhythmus zum Ausdruck zu bringen. Man vermisst gar nicht die Farbe, denn Ury suggeriert sie durch die Nuancierung der Tonwerte. Und er versteht es, in rein skizzenhafter Weise, mit flüchtigen und nur andeutenden Strichen höchste Lebendigkeit zu erzielen. Hier scheint es denn auch wieder eine gewisse formale Annäherung an Liebermann zu geben.
So lässt diese exquisite Schau den Betrachter vielfältige Entdeckungen und überraschende Vergleiche ziehen.
»Max Liebermann und Lesser Ury. Zweimal Großstadt Berlin«, Liebermann-Villa am Wannsee, Colomierstraße 3, 14109 Berlin, tägl. außer dienstags 10-18 Uhr, bis 26. August, Katalog 18 Euro.