Das Bild kenne ich seit 57 Jahren – da hing es als billige Reproduktion in der Studentenbude meines Freundes Otto, mit dem ich bis heute lebe. Es ist das Gemälde »Odysseus und Kalypso«, während des Krieges 1943 in der Emigration in Amsterdam gemalt. Es schmückt heute als Titel den Katalog zur Ausstellung: »Max Beckmann – weiblich – männlich« (bis zum 24. Januar 2021 in der Hamburger Kunsthalle; Katalog: Prestel Verlag, 240 Seiten, 29 Euro).
Beckmann wollte der berühmteste deutsche Maler werden – so die Kuratorin Karin Schick –, und er wird es auch. Als Künstler »mit klaren Karrierezielen«, informiert der Wandtext, baute er »schon früh ein Netzwerk an männlichen und weiblichen Förderern auf«. Und er malte sie. Oft im schmalen Hochformat, das die Eleganz der Damen hervorhob. So Käthe von Porada, seine langjährige Mäzenin, die Beckmann 1924 im roten Kleid porträtierte. Ihr Kopf vor einem Spiegel, dessen goldener Rahmen ihr einen Heiligenschein verpasst. Zu Recht. Die Journalistin mit großem Bekanntenkreis war wohl die Frau, die am meisten für ihn tat. Sie organisierte und finanzierte Ausstellungen des Malers, suchte eine Wohnung in Paris, chauffierte ihn und fungierte als Sekretärin. 1939 war das vorbei, als ihr, der mit einem Polen verheirateten Jüdin, der polnische Pass auch nicht mehr half, der ihr Reisen durch Europa ermöglicht hatte.
1937, als in München die Schandausstellung »Entartete Kunst« gezeigt wurde – auch zehn Gemälde und zwölf Grafiken von Beckmann darunter –, verließen Max und Mathilde (Quappi) Deutschland, emigrierten nach Amsterdam. 1933 war Beckmann als Professor an der Städelschule in Frankfurt am Main entlassen worden. Das Paar zog nach Berlin. Klaus Mann warf im Vorwort zu seinem Buch »Escape to life« dem Maler vor, Deutschland erst dann den Rücken gekehrt zu haben, als es ihm wirtschaftlich schlechter ging – er war Mitglied der Reichskunstkammer und genoss Vergünstigungen.
An dieser Stelle muss die andere große Gönnerin genannt werden, die Beckmann schon früh kennengelernt hatte, Lilly von Schnitzler, Ehefrau von Georg, dem Vorstandsmitglied der IG-Farben – in Nürnberg als Kriegsverbrecher anerkannt und verurteilt. Auch Beckmann und seine Frau »verkehrten mit Mitgliedern der gehobenen Nazikreise«, schreibt Barbara Copeland Buenger im Katalog. Die Beckmanns hatten immer wieder mit den Hanfstaengls zu tun, der Kunstverlegerfamilie aus München, deren dritter Sohn Ernst (Putzi) Hanfstaengl bis 1937 einer der engsten Vertrauten Hitlers war.
Lilly von Schnitzler unterhielt »romantische Liebschaften« mit dem klerikalfaschistischen Journalisten Karl Anton Rohan, mit Mies [van der Rohe], Beckmann und anderen. Sie spielte eine »wichtige Rolle für Beckmanns Kunst, seine Laufbahn und sein Privatleben«, resümiert Copeland Buenger. Leider ist von Lilly kein Gemälde in der Ausstellung, nur eine Bleistift-Zeichnung (etwa 1940) mit erhobenem rechtem Zeigefinger, der Rätsel aufgibt. Beckmann legte Wert auf die Sprache der Hände in seinen Bildern.
Auf einem großen Gemälde von 1935 – nicht in Hamburg – sind alle fünf für Beckmann wichtigen Frauen versammelt, auch Lilly im gelben Abendkleid mit Hermelin-Stola. Und Käthe von Porada, die düster von hinten hervorsieht. In der Mitte Mathilde (Quappi) mit Fächer, die zweite Ehefrau von Max und 20 Jahre jünger als er. Sie war die jüngste Tochter des berühmten Münchner Malers Friedrich August von Kaulbach. Mathilde hatte Musik studiert. Sie heiratete Max 1925. Vorher musste er sich von seiner ersten Frau Minna Tube scheiden lassen, die er auf der Kunstschule kennengelernt hatte. Minna ist vorn auf dem Frauenbild, auf einem Kissen kniend zu sehen, im blauen Kleid, mit einem Spiegel in der Hand, der vielleicht den Sohn Peter zeigt. Rechts hinten Beckmanns Geliebte, die Wirtschaftswissenschaftlerin Hildegard Schmidt-Melms, Naïla genannt, in einen Pelz gehüllt. Ihre schwarz-behandschuhte Hand weist weg aus dem Bild, als wolle sie alle anderen herauskomplimentieren. Sie diente dem Maler oft als Modell. Wer das Pastellkreide-Porträt (um 1928) von ihr sieht, versteht die Anziehungskraft, die von ihr ausging.
Das Motiv »Siesta« lässt einen Vergleich zu, einmal als Kaltnadelradierung (1923), dann als Gemälde (1931). Auf der Radierung liegt Minna mit übereinandergeschlagenen Beinen vor dem Betrachter Max. Auf dem Gemälde ist aus Minna Quappi geworden, das Gesicht übermalt. Sie wird wie auf dem Tablett serviert, mit gut sichtbaren Brustspitzen – ein kleiner Hund als Beigabe.
Das Thema der Ausstellung: »Weiblich – männlich« soll ein neues Bild auf den Maler werfen: Mir zeigte er sich männlich-selbstbezogen, kraftstrotzend – so wie er sich sehen wollte auf den über 100 Selbstporträts – meist mit Zigarette. Einige in der Ausstellung. Sein berühmtes Bild im Smoking (1927) konnte, coronabedingt, nicht nach Hamburg kommen. »Selbstbildnis in Schwarz«, im Amsterdamer Exil 1944 gemalt, sein Gesicht fast im Dunkel.
Eine nur halb zu lesende Schrift der SPD-Zeitung Vorwärts im Gemälde »Frauenbad« führt zurück zum Jahr 1919. Ein Bild nur mit Frauen, die Männer sind im Krieg umgekommen. Ein kleines nacktes Kind auf dem Arm der Mutter böse greinend, auf seinem Kopf ein Zeitungshut. Es kann noch nicht lesen. Aus der frühen Zeit sind Grafiken verschiedener Serien ausgestellt: aus »Die Hölle«, Blatt vier, die Lithografie »Das Martyrium« (1919). Im Mittelpunkt Rosa Luxemburg, ihre Arme wie ans Kreuz geschlagen. Umgeben von einer Horde grinsender Männer, elegant oder in Uniform, das Gewehr schwingend, ihr die Beine auseinanderreißend. Ein politischer Maler war Beckmann nicht. Der Katalog stellt die Frage, ob der Körper Luxemburgs nur »religiös überhöht« wird oder auch »als Projektionsfläche für männliche Gewaltfantasien dient«.
Warum drücken Beckmanns Bilder, die er 1947 malte, alle Schrecken aus? Der Krieg war vorbei, die Emigration in Amsterdam auch. Er hatte neue Beziehungen in die USA geknüpft – Ende August reisten Max und Mathilde mit dem Schiff dorthin, voller Hoffnung – oder befürchteten sie einen Alptraum? Im Aquarell »Die Hunde werden größer« bedrängen sie ein weibliches Wesen. Im »Dream«, einer Federzeichnung, ist es das Weib, das auf dem wehrlos daliegenden Mann hockt, um ihn auszusaugen. Ein brauner Knabe mit schwarzen Flügeln kniet auf einem weißen Weib, das sichtlich genießt. Dieser »Vampir« in Öl ist männlich. Das große Gemälde »Die Erschrockene« gibt Rätsel auf. Sieht sie in die Zukunft oder auf das Zurückliegende? Alles 1947.
Die großen Triptychen sind in Hamburg nicht zu sehen, aber andere mythologische Bilder. »Mars und Venus« (1939): Der Kriegsgott hat sie gepackt, die aufreizend sinnlich das Bild ausfüllt. Vom Mars ist nur die Hand zu sehen, das Gesicht wird verdeckt vom heruntergezogenen Visier. »Raub der Europa« (1933): Sie hängt kopfunter über dem Rücken des Stieres – während »Prometheus (Der Hängengebliebene)« von gleich zwei angeblich »papageienähnlichen Vögeln« angepickt wird (1942). Prometheus, in der Pose von Jesus am Kreuz – hier wohl in einer Höhle. Unter ihm ein Gelage im Wasser. Die »Messingstadt« (1944) – das sind Türme, vom Halbmond gekrönt. Vorn im Bild ein nacktes Paar, nebeneinanderliegend wie nach dem Geschlechtsakt. Dolch und Pfeile grenzen alles zum Betrachter – zur Welt – hin ab. Was entstand noch im Amsterdamer Exil? »Odysseus und Kalypso« im Jahr 1943. Der Krieger, nackt, aber mit Helm und Schienbeinschützern wird von Kalypso bezirzt. Die Schlange, ein katzenähnliches Tier und ein Kakadu – in Indien ein erotisches Symbol – ergänzen die Bedrängung. Beckmann sah sich selbst als Odysseus – laut seinem Tagebuch.
Schon 1925 hat sich Beckmann mit gnostischen altindischen und theosophischen Lehren beschäftigt. Siebenmal las er die über 2000 Seiten der »Geheimlehre« von Helena Blavatzky – wie er in seinen Tagebüchern vermerkte – zwischen 1934 und 1950, seinem Todesjahr. Diese esoterischen Ideen finden sich in seinen Werken wieder. Und schlimmer noch, seine intensive Lektüre der frauenfeindlichen und antisemitischen Schriften von Otto Weininger wie »Geschlecht und Charakter«.
Beckmanns Bronze »Mann im Dunkeln« (1934) ist wohl auch seinem esoterischen Suchen geschuldet, vielleicht sogar die »Kriechende Frau« (1935). Der Steinguss »Adam und Eva« (1936) ist irritierend. Die Eva hält er wie ein winziges Kind auf der Hand, an seine Brust gedrückt. Die Schlange – sie könnte auch seine Nabelschnur sein – umspielt seine Schenkel und sieht hinter der Schulter hervor. Adam – ein androgynes Wesen? Das entspricht Beckmanns Weltbild über die Entstehung des Männlichen und Weiblichen als Androgynem aus der Eiform. Einige Zeichnungen und das Aquarell »Frühe Menschen – Urlandschaft« (1939, überarbeitet 1947/48) zeugen davon. Dazu die merkwürdige Tuschzeichnung »Mirror«, auch »Champagne Fantasy« genannt (1945). Die Kuratorin sieht darin keinen Spiegel, sondern eine Lupe. »Was zunächst wie prickelnder Schaumwein anmutet, ist in Wahrheit eine Ursuppe aus Embryonen und Gestaltfragmenten, eine vormenschliche Welt.«
Hinweis des Museums: Besucher haben die Möglichkeit, die Ursuppe zu probieren in Seminaren zur »Verkostung von Champagner, dem Lieblingsgetränk Beckmanns«.