Trotz aller Reformversprechen im Agrarbereich nimmt die Anzahl der Bauernhöfe in Deutschland und Europa Jahr für Jahr stetig ab. Und die »Bauern« (die Bäuerinnen sind hier mitgemeint) »sterben« nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch buchstäblich. Seit Jahren, das zeigen Untersuchungen aus Frankreich, Österreich, der Schweiz und den USA (in Deutschland sind keine offiziellen Zahlen ermittelbar), ist die Selbstmordrate unter Landwirten deutlich höher, um 20 bis 30 Prozent, als in der Gesamtbevölkerung; gescheiterte Selbstmordversuche sind hier nicht mitgezählt. Viele Familienbetriebe stehen derart unter Druck, dass deren Betreiber manchmal nur noch den finalen »Ausweg« sehen. Und dieser Druck entsteht nicht in erster Linie durch veränderte Umweltbedingungen – vermehrte Dürren, Unwetter – oder verschärfte Düngeverordnungen, es sind die sogenannten »freien Marktgesetze«, an denen die Landwirte zugrunde gehen. Tod durch Kapitalismus.
Unverhüllt offenbaren sich diese Gesetze in dem seit nunmehr 30 Jahren praktizierten Börsenhandel mit Nahrungsmittelrohstoffen. Das ist nichts anderes als eine systematische, geschäftsmäßig betriebene Verantwortungslosigkeit. Installiert wurde das Getreide-Monopoly von der US-Investmentbank Goldman Sachs, die 1991 ihren »Goldman-Sachs-Commodity-Index« erfand, worin die Preisentwicklung von 25 verschiedenen Agrarrohstoffen, darunter deren wichtigste: Weizen, Soja, Mais und Zucker, abgebildet wurde. Auf der Grundlage dieses Überblicks ließen sich nun Rohstoffzertifikate vermarkten, indem man, wie beim Roulette, auf rot oder schwarz wettet. Im sogenannten Future-Markt verkaufen die Produzenten ihre Ernten vorab zu einem festen Preis. Liegt am Fälligkeitstag der Marktpreis unter den Future-Konditionen, profitiert der Anbieter, liegt der Preis darüber, macht der Käufer einen Gewinn. Um »Ernährung« geht es dabei selbstverständlich nicht.
Mit ihren über die Weltwirtschaft glänzend informierten Analysten strich Goldman Sachs mit solchen Deals schnell Milliardengewinne ein und rief damit andere Großbanken wie Morgan Stanley, die Schweizer UBS oder die Deutsche Bank auf den Plan, die sich fortan an den Getreidespekulationen ebenso beteiligten wie die mächtigen Akteure im Agrarhandel mit ihrem buchstäblich kostbaren Spezialwissen. Aber was hier betrieben wird, hat mit einem »Marktgeschehen« nicht mehr viel gemein, sondern ist ein Beispiel dafür, wie die Gier weniger Satter ganz Viele hungrig macht.
Dass etwa die Nachfrage den Preis bestimmt, ist ja zunächst einmal nichts weiter als eine Binsenweisheit, die mehr verschleiert als erklärt. Denn die Nachfrage steigt zum Beispiel auch, weil die westlichen Regierungen den Anbau von »Energiepflanzen« mit Milliardensummen fördern, um ihre Abhängigkeit vom sich stetig verteuernden Öl zu verringern. Auf immer größeren Anbauflächen wachsen daher zum Beispiel Raps, Mais oder Zuckerrohr als Treibstoffbasis für die Biosprit-Produktion. Landet das Getreide aber im Tank, statt auf dem Teller oder im Trog, verteuern sich eben die Nahrungs- und Futtermittel.
Längst treiben auch Spekulanten und Großanleger, wie Altersvorsorgefonds und Pensionskassen, die »Nachfrage« künstlich hoch, indem sie, sobald sie einen Preisanstieg erwarten, große Mengen Getreide an den Terminbörsen ankaufen. Sie erwerben natürlich nicht wirklich Sojabohnen, Weizen oder Mais – was sollten sie damit anfangen? –, sondern »Terminkontrakte«, in denen Menge, Preis und Liefertermin genau festgelegt sind. Wenn das Getreide dann tatsächlich teurer wird, lässt sich, bei überschaubarem Risiko, weil die Nachfrage nach Agrarrohstoffen in absehbarer Zeit ganz gewiss nicht zurückgehen wird, eine ansehnliche Rendite erzielen.
Steigende Preise nützen so den Kapitaleignern, setzen aber natürlich, indem die Grundnahrungsmittel teurer werden, den Armen zu. Und dass höhere Preise dazu führen würden, dass sich der Nahrungsmittelanbau dadurch ja auch für die kleinen Bauern wieder lohnen könnte, ist zynische Proseminar-Ökonomie. Zum einen haben billige, subventionierte Lebensmittelimporte viele Landwirte in den ärmeren Ländern schon in die städtischen Slums gezwungen, wo sie sich und ihre Familien nun als Tagelöhner durchzubringen hoffen. Zum anderen lässt sich eine lahmgelegte landwirtschaftliche Produktion nicht von heute auf morgen wieder in Gang setzen. Die Pflanzen müssen wachsen, und das Saatgut muss vorab bezahlt werden.
Nein, die »Geschäfte« an den Rohstoffbörsen »bereinigen« den Markt höchstens insofern, als sie in vielen Regionen der Welt akute Hunger-Katastrophen verursachen. Das ist eine moralische, ökonomische und politische Herausforderung, der wir uns endlich stellen müssen, nicht nur, weil »wir«, also die reichen Länder, diese Situation maßgeblich mit herbeigeführt haben, sondern weil massenhaftes Elend auch die Stabilität »unserer« Gesellschaften bedroht; die weltweiten Flüchtlingsbewegungen sind auch ein Symptom dieser »Krankheit«. Ein System, bei dem sich alles immer schneller um immer größere Summen dreht, von dessen Raserei aber nur die ohnehin schon Reichen profitieren, fliegt uns irgendwann um die Ohren. Und zwar zu Recht.
Und mit dem »System« meine ich hier keineswegs nur die windigen und mörderischen Wetten auf Nahrungsmittelpreise. Das ist lediglich die Spitze des Eisbergs. Nein, die Industrialisierung der Landwirtschaft insgesamt, die zunehmende Entkoppelung und Entfremdung von Produktion und Konsum, die durch aberwitzig billige, weil hochsubventionierte Transportkosten ermöglicht wird, ist eine Gefahr für uns alle. Einem stetig wachsenden Teil der Agrar-Produzenten geht es längst nicht mehr um Ernährung im weitesten Sinne, es geht auch nicht um Ernte-, sondern einzig und allein um Kapitalerträge. So ist es kein Wunder, dass das Anlagekapital insgesamt, Fonds, Versicherungen, Investoren, die Landwirtschaft als »Spielwiese« mit Rendite-Potential für sich entdeckt hat, nicht nur an der Börse, auch auf dem Feld. Die größten »Bauern« heute, die, nebenbei bemerkt, auch das Gros der Agrar-Subventionen abschöpfen, sind landwirtschaftsferne Anleger-Gemeinschaften, die auf subventionsgeförderte Größe setzen und deshalb auch gern zugreifen, wenn sie den einen oder anderen Hektar günstig dazukaufen können, weil sich kleine und mittlere Betriebe zur Aufgabe – oder Produzenten gar zum Selbstmord – gezwungen sehen.
Ausgerechnet diejenigen, die Bäuerinnen und Bauern, die über alles Wissen und alle Fähigkeiten verfügen, unsere Ernährung auf nachhaltige, die natürlichen Grundlagen bewahrende Weise sicherzustellen, geraten dadurch zunehmend unter Druck, dem manche von ihnen am Ende nicht gewachsen sind. Die industriell bearbeiteten, großen Anbauflächen und Mastbetriebe werden heute hauptsächlich von außerlandwirtschaftlichen »Bauern« dominiert, die an nichts anderem interessiert sind als an der Vermehrung ihres eingesetzten, vagabundierenden Kapitals. Solches Investment im Agrarbereich ist auch deshalb reizvoll, ich erwähnte es bereits, weil es durch staatliche Subventionen, also durch das Geld der Steuerzahler, besonders gut abgesichert ist; ein Verlust ist kaum zu befürchten.
Was angebaut wird, hängt dabei längst nicht mehr vom Bedarf ab, schon gar nicht von den Bedürfnissen der weltweit Hungernden. Viel wesentlicher ist die Preisentwicklung des wachsenden Rohstoffs, der zu erwartende Kapitalertrag. Unter welchen Bedingungen Tiere gehalten werden und wie viel Natur den Palmöl- oder Soja-Plantagen weichen muss, spielt für Investoren keine Rolle, solange die Rechnung am Ende aufgeht. Und die geht, dank politischer Mithilfe, umso besser auf, je mehr Anbaufläche bewirtschaftet wird, je mehr Schweine, Hühner oder Enten gemästet und je mehr Kühe gemolken werden.
An dieser fatalen Entwicklung ändert, Experten zufolge, auch die »große« EU-Agrarreform nichts, auf die man sich im Herbst des vergangenen Jahres nach zähem Ringen geeinigt hat. Der Teufel »scheißt weiterhin auf die größten Haufen«. Aber auch dieser Aspekt beschreibt das Problem noch längst nicht vollständig. Unerwähnt bleibt hier (das wird sich in einem der nächsten Ossietzky-Hefte ändern) die zentrale Rolle der mächtigen Agrarhändler und der großen Einzelhandelsketten, deren Preispolitik den Erzeugern der Nahrungsmittel wahlweise Tränen in die Augen steigen oder das Messer in der Tasche aufgehen lassen, etwa weil sie die Milch für einen Preis abzugeben gezwungen sind, der nicht einmal mehr deren Produktionskosten deckt. Da kann sich manche oder mancher – Verzeihung! – nur noch den Strick nehmen.
Das vermeintliche »Wachstum«, das hier weiterhin angestrebt und von Politikern, von Volkswirten und Lobbyisten – wie beispielsweise auch dem vorgeblich die bäuerlichen Interessen vertretenden Bauernverband – wie ein Mantra gepredigt wird, war zwar lange der Motor unseres Wohlstands, kann mittlerweile jedoch als die Ursache all unserer Probleme gelten. Der anhaltende, vor allem die neoliberale Spätphase der (finanz-)industriellen Epoche prägende Hang zur Gigantomanie läuft deshalb erkennbar auf ein Finale zu, dessen noch offener Ausgang nicht zuletzt auch darüber entscheiden wird, ob die Schülerinnen und Schüler, die freitags auf die Straße statt in die Schule gehen, um uns »Erwachsene« zum Handeln aufzurufen, eine Zukunft haben werden oder nicht.