Die kleine Szene, deren Zeuge ich am Donnerstag, den 28. Januar, auf dem Fußgängerüberweg an der Karl-Marx-Allee, direkt gegenüber dem Kino International in Berlin-Mitte, wurde, erschien zunächst ganz lustig. Eine Mutter und ihre etwa fünfjährige Tochter stehen bei Rot an der Ampel und warten, während drei riesige Traktoren um sie herum auf der Allee wenden, um sich auf der Gegenspur in eine bereits gebildete Schlange von anderen Traktoren einzureihen. »Guck mal, Mama«, ruft die Kleine. »Der Trecker hat ’ne Piratenfahne vorne dran. Sind das etwa Piraten?« Ihr Mund bleibt vor Entzücken offen. »Nee«, gibt die Mama zur Antwort, »Piraten auf Treckern. So ein Quatsch!« »Sieht aber hübsch aus«, meint das Töchterchen noch, als es an der Hand ihrer Mutter über die zweite Hälfte des Fußgängerüberwegs gezogen wird.
Als ich zur Fahne schaue, trifft mich dann fast der Schlag: Zum ersten Mal sehe ich im Original die Landvolk-Flagge, die auf schwarzem Grund einen weißen Pflug zeigt, den ein senkrecht kreuzendes blutrotes Schwert »ziert«. Vor zehn Jahren ungefähr hatte ich Hans Falladas Roman »Bauern, Bonzen, Bomben« gelesen, in dem der Kampf der von Pfändungen und Steuerlast bedrohten Bauern in Hinterpommern gegen die Weimarer Landwirtschaftspolitik am Ende der 20er Jahre geschildert wird. Neben Darstellungen aus dem Redaktionsleben einer pommerschen Provinzzeitung und einem Fememord beschreibt Fallada, der selbst in jener Zeit kurz Gutsverwalter gewesen war, in einer sehr anschaulichen Szene, wie eben diese Fahne den Bauern von säbelschwingenden Schupo-Einheiten während einer Demonstration gewaltsam entrissen wird. Fallada hatte sich in seinem Roman an Geschehnissen orientiert, die sich allerdings nicht in Pommern, sondern im schleswig-holsteinischen Dithmarschen zutrugen. Die sich hier um zwei Bauernführer scharenden Landwirte hatten aus einer agrarpolitischen Krise heraus ihren berechtigten Protest mit zunehmend aggressiver Blut-und-Boden-Rhetorik aufgeladen. Die »Landvolk-Bewegung« gilt aus Sicht heutiger Geschichtsforschung als demokratiefeindliche, antisemitische und national-völkische Protestbewegung gegen Ende der Weimarer Republik. So weit, so gut; so weit, so schlecht. Warum aber, so frage ich mich am nächsten Tag, Freitag, als ich in der Leipziger Straße abermals mit dieser Fahne auf noch viel mehr Traktoren konfrontiert werde, fühlen sich offensichtlich nicht wenige der oft noch jüngeren Landwirte auf ihren Fendt-, Claas-, McCormick- oder Deutz-Maschinen bemüßigt, in ihren Protesten gegen verschärfte Düngemittelverordnungen, Pestizidmessungen oder Tierhaltungs-Auflagen diese zweifelhafte Fahne zu zeigen? Wie auch die Reichkriegsflagge des Deutschen Kaiserreiches, ist die Flagge der Landvolkbewegung nicht explizit verboten. Nur fällt eben auf, dass die hier und heute protestierenden Besteller des sprichwörtlichen Nährbodens unserer Republik mit ihrer rechtslastigen Flagge den demokratischen Boden unseres politischen Gemeinwesens in offensichtlich historisch gewollter Umdeutung ihre Ackerflächen zu nationalen Schollen zu verunreinigen suchen. »Fair Trade für die deutsche Landwirtschaft«, so heißt es hier. Und, sinnigerweise, in abgewandelter Form eines weithin bekannten Ausspruches eines Cree-Häuptlings: »Erst wenn der letzte Bauer, der letzte Handwerker zugrunde gerichtet ist, werdet ihr erkennen, dass Youtuber, Influencer und Klimaschützer nichts produzieren.«
So fügen sich einige Losungen an den Geräteaufhängungen der Trecker tendenziell ein in den nationalistischen Reigen einer oft gerade ländlich geprägten Kapitalismuskritik, die sich wieder einmal gegen »Die da oben«, »Die in Brüssel«, die vom »Deep-State«, die Klimaspinner oder wen auch immer richtet. »Wer Bauern quält, wird abgewählt«. »Fridays for Future ist No-Future«. Und so weiter und so fort. Wogegen jedoch richtet sich der Zorn der protestierenden Landwirte, deren Großteil, trotz vereinzelter Teilnahme von Süddeutschen oder Hessen, aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein zu stammen scheint?
Tatsächlich fürchten viele Bauernhöfe von Dithmarschen bis hinunter ins Allgäu die sie existenziell bedrohenden Gewinneinbußen durch Abnahmepreisdumping von Supermarktketten und die kurzfristig nicht umsetzbaren Standards für biologisch kontrollierten Anbau. »Lebensmittel sind keine Ramsch-Ware« – dieses Plakat ist völlig zutreffend, kommt aber im Kontext finanzmarktgebundener Spekulationen mit Getreide oder Saatgut als eher moralinsaures Statement daher. Wer ist der Adressat? Die durch die aktuelle Corona-Krise sich verschärfende Spaltung unserer Gesellschaft in jene, die sich ausschließlich von teuren, weil zertifizierten Bio-Lebensmitteln ernähren können, und jene, die auf die immer gnadenloser angebotenen Tiefpreis-»Schnäppchen« der Discounter angewiesen sind, lässt die Fortexistenz familiär geführter Bauernhöfe immer gefährdeter erscheinen. Wenn die Nitratwerte des Grundwassers in landwirtschaftlichen Nutzflächen zu hohe Werte aufweisen und deshalb die Bundesregierung, allen voran Julia Klöckner als Bundeslandwirtschaftsministerin und Svenja Schulze als Bundesumweltministerin, die Einhaltung der EU-Richtlinien zur Subventionsförderung gefährdet sehen, hat das direkte Auswirkung auf die Landwirte, die gegenwärtig besonders in der Schweine- und Rinderhaltung massive krisen- und krankheitsbedingte Verdienstausfälle hinzunehmen haben. Diese Entwicklungen polarisieren die Bauern. Einige Landwirte sehen eine Agrarkrise riesigen Ausmaßes auf die Bundesrepublik zukommen. Internationale Abnehmervereinbarungen stehen ebenso auf dem Spiel wie der Dialog der Landwirte mit den Politikern. »Liebe Regierung, ich habe fertig mit dir.« Der Spruch auf dem John-Deere-Traktor mit Ostholsteiner Kennzeichen zeugt von einem massiven Vertrauensverlust in die bundesdeutsche Agrarpolitik.
Andere Landwirte, die auf den Protestveranstaltungen hier in Berlin wohl weniger vertreten sind, sehen in der Nähe des größten agrarwirtschaftlichen Lobbyvereins, des Deutschen Bauernverbandes, zum CDU-geführten Agrarministerium das eigentliche Problem. Solange die EU-Agrarsubventionen zugunsten intensivierter Pflanzenproduktion und Tierhaltung auf immer größeren, teilweise auch spekulativ erworbenen Nutzflächen von Agrarunternehmen fließen, haben Familienbetriebe überhaupt keine Chance, ihre Höfe wirtschaftlich tragfähig umzugestalten, weil die hierfür von Klöckners Ministerium bereitgestellten Subventionen nicht ausreichen. Die »Landvolk«-Protestierenden sehen zwar zu Recht ihre direkten Feinde in den sie letztlich bezahlenden Großhandelsketten. Doch ihre Forderung an die Agrarpolitiker nach mehr Geld und danach, etwas »zu machen«, scheint eher einfalls- und kraftlos, auch wenn hier und da im Bundesgebiet die Traktoren die Zuliefereinfahrten von Discountern blockieren. Denn statt auf eine staatlich gelenkte Verbraucherpreispolitik im Bereich der Lebensmittel zu dringen, statt ein klares Statement des Bauernverbandes zum Klimaschutz zu fordern und dieses mit dem Ruf nach politischem Druck auf die Preisgestaltung der Supermarktketten zu verbinden, tappen die Landwirte der Landvolk-Beflaggung einmal wieder in die unsägliche Falle eines reaktionären, nationalistischen und letzten Endes antidemokratischen Selbstverständnisses. Und schädigen das Ansehen ihres Berufsstandes, der sich traditionell eigentlich einer sehr hohen Achtung in der Bevölkerung erfreut.