Kunst war für Barlach »eine Sache allertiefster Menschlichkeit«! Bekannt wurde der vielseitig begabte Künstler vor allem durch seine ausdrucksstarken Holzskulpturen. Man meint, den »Singenden Mann« zu hören, man spürt die Kälte des »Frierenden Mädchens« und fühlt die Not der »Verhüllten Bettlerin«. Und welch elementare Kraft steckt in der Holzskulptur »Der Rächer«; mit größter Entschlossenheit und Wut stürmt er nach vorn. Zu bewundern sind Barlachs Arbeiten: Holzskulpturen, Graphiken, Zeichnungen, Taschenbücher; auch literarisch anspruchsvolle Briefe, Prosawerke und Dramen stammen von ihm.
Im Dresdener Albertinum gibt es eine sehenswerte, wohl bisher einmalige Barlach-Retrospektive. Begleitet wird sie durch einen hervorragend gestalteten, umfangreichen Katalog »Ernst Barlach … was wird bis Übermorgen gelten?« (48 Euro).
Ernst Barlach, geboren 1870, studierte in Hamburg, Dresden und Paris. Die Pariser Jahre waren für ihn »merkwürdig unfruchtbar«. Seit 1920 lebte und arbeitete er in Güstrow. Das Erlebnis seiner für ihn wichtigen Russland-Reise (1906) hat Themen und Stil seiner Arbeiten entscheidend geformt. Für ihn war das – nach vom Jugendstil und einer akademischen Ausbildung geprägten Anfängen – ein ästhetischer und thematischer Neubeginn. Angeregt vom Verleger Cassirer konzentrierte er sich mehr und mehr auf die Bildhauerei. Es entstanden unter anderem Steinzeugarbeiten wie eine »Bettlerin mit Schale«. Die erschütternde Armut einfacher Menschen wird auch in anderen hölzernen und bronzenen Figuren erlebbar. Es gelang Barlach überzeugend, Gemütszustände darzustellen. Die Holzskulptur »Lesender Klosterschüler« zeigt einen in sich versunkenen Mann mit geschlossenen Augen; nichts kann ihn von seinen tiefen Gedanken ablenken.
Die Ausstellung ist großzügig gestaltet und erlaubt dem Betrachter, jedes Kunstwerk, jedes Dokument in Ruhe aufzunehmen. Immer wieder bewundert man die Taschenbücher mit Skizzen, die den unermüdlich beobachtenden und suchenden Künstler zeigen und einen Einblick in seine Schaffensweise geben. Erstaunlich, was da von den Museumsleuten zusammengetragen wurde!
Im Güstrower Dom ist Barlachs »Schwebender Engel« zu sehen, das bekannte Mahnmal für die Opfer des Ersten Weltkrieges, eine überlebensgroße bronzene Figur mit den Gesichtszügen seiner Künstlerkollegin Käthe Kollwitz. Das »Magdeburger Mal«, eine Holzskulptur, zeigt ergreifend das Unfassbare, die Trauer und das stille ehrende Gedenken an die Gefallenen. Beide Denkmale wurden von den Nazis beseitigt. Barlach wurde ein Opfer der faschistischen Kunstideologie, sein Schaffen war nun »entartete Kunst«, einige Skulpturen wurden zerstört, die Aufführung seiner Dramen (zum Beispiel »Der tote Tag«) verboten. Schon 1932 zerschlugen Nazis die Scheiben seines Güstrower Hauses. Doch Barlach blieb in Deutschland, er starb 1938 in einem Rostocker Krankenhaus. In der Ausstellung wird auf eine Autobiografie Barlachs »Ein selbsterzähltes Leben« aufmerksam gemacht – und auf seine Holzschnitte zu Schillers »Ode an die Freude«. Auch Otto Pankoks Holzschnitt »Bildnis Ernst Barlach« ist zu sehen. Angeboten werden Führungen und Veranstaltungen zur Ausstellung.
Barlach widerstrebte es, auf eine konfessionelle, christlich-mystische Interpretation seiner Werke festgelegt zu werden, wie sie sich nach 1945 in Westdeutschland etablierte. Ein neuer Blick auf Barlachs Kunst ist wichtig und notwendig. Dazu trägt die Ausstellung bei. In ihrem abschließenden Teil wird die Rezeption seines Werkes in beiden deutschen Staaten untersucht. Wieland Försters Porträtkopf »Franz Fühmann« weist auf die Novelle »Barlach in Güstrow« hin. Mit Fritz Cremers bronzenem Bildnis »Bertolt Brecht« wird an Brechts Worte erinnert, die er 1951 anlässlich der Eröffnung einer Barlach-Ausstellung sprach: »Ich halte Barlach für einen der größten Bildhauer, die wir in Deutschland haben. Der Wurf, die Bedeutung der Aussage, das handwerkliche Ingenium, Schönheit ohne Beschönigung, Größe ohne Gerecktheit, Harmonie ohne Glätte, Lebenskraft ohne Brutalität machen Barlachs Plastiken zu Meisterwerken.« (Katalog S. 465)
»Ernst Barlach zum 150. Geburtstag. Eine Retrospektive«, bis zum 10. Januar 2021, Albertinum (1.OG), Dresden, Georg-Treu-Platz 1, Montag geschlossen, Dienstag bis Sonntag 11 bis 17 Uhr, Eintritt 12/9 Euro. Zurzeit coronabedingt geschlossen, Online-Führungen unter: https://albertinum.skd.museum/ausstellungen/ernst-barlach-zum-150-geburtstag-eine-retrospektive/