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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Bahnhof ohne Eingang

Gior­gio de Chi­ri­cos »Melan­cho­lie einer Stra­ße« ist ein ein­präg­sa­mes Gemäl­de, dach­te ich. Es befin­det sich im Besitz der Ham­bur­ger Kunst­hal­le. So infor­miert mich mein »Kind­lers Male­rei Lexi­kon« von 1976. Aber war­um hängt es nicht in der Aus­stel­lung »Magi­sche Wirk­lich­keit«, die jetzt in Ham­burg aus den bekann­ten Grün­den nicht besucht wer­den kann (nur im Inter­net ist eini­ges zu sehen: www.hamburger-kunsthalle.de). Der Kata­log (Hirm­er Ver­lag, Mün­chen, 232 Sei­ten, 34.90 Euro) löst das Rät­sel. Der dama­li­ge Direk­tor der Kunst­hal­le, Alfred Hent­zen, war 1957 auf eine Fäl­schung her­ein­ge­fal­len. Der Kunst­händ­ler Wer­ner Rusche hat­te zuvor brief­lich die her­vor­ra­gen­de Pro­ve­ni­enz »aus der Samm­lung der geschie­de­nen Mme A. Bre­ton« versichert.

Rich­tig ist: Der Sur­rea­list Andrè Bre­ton war von de Chi­ri­co begei­stert, kauf­te ein Bild »Das Gehirn des Kin­des« (1914), das er vom vor­bei­fah­ren­den Bus aus in der Gale­rie von Paul Guil­laume in Paris ent­deckt hat­te. Nun als Nr. 1 in der Aus­stel­lung. Von dem Fäl­scher Oscar Dom­in­guez haben sich auch ande­re deut­sche Muse­en in den 50er Jah­ren täu­schen las­sen. Es exi­stie­ren knapp vier­zig gefälsch­te Wer­ke von Dominguez.

Die­se frü­he Pha­se der meta­phy­si­schen Bil­der – von 1909 bis 1919 – war die frucht­bar­ste und bekann­te­ste de Chi­ri­cos. Die Pari­ser Sur­rea­li­sten ver­übel­ten ihm, dass er danach – wie sie mein­ten – dem aka­de­mi­schen Stil hul­dig­te, sei­ne Kunst ver­riet. Der 1888 in Volos (Grie­chen­land) gebo­re­ne Gior­gio war ita­lie­ni­scher Her­kunft. Sein Vater Eva­ri­sto bau­te als Eisen­bahn­in­ge­nieur die Bahn­strecke zwi­schen Athen und Thes­sa­li­en, des­halb hat­ten sie sich in Volos nie­der­ge­las­sen, in einer Land­schaft der Sagen und Mythen, die Gior­gio und sei­nen jün­ge­ren Bru­der Alber­to präg­ten. 1906 ver­lie­ßen sie Grie­chen­land. Vor­her waren sie nach Athen gezo­gen, wo der Vater 1905 starb. Die Mut­ter Gem­ma zog mit den Söh­nen nach Mün­chen, wo Alber­to, ein »Wun­der­kind«, sei­ne Musik­stu­di­en fort­set­zen will. Er hat­te sei­nen Namen geän­dert, nann­te sich nun Savi­nio, um sich abzu­set­zen vom Bru­der. Gior­gio wid­met sich der Kunst. Hier kommt er in Kon­takt mit den Bil­dern Arnold Böck­lins, die gro­ßen Ein­fluss auf ihn haben wer­den. Eben­so die Wer­ke von Max Klin­ger. Bei­de als Spät­ro­man­ti­ker im Gegen­satz zum impres­sio­ni­sti­schen Mal­stil der Zeit. Die Brü­der, die vie­les gemein­sam tun, ent­decken das spä­te Werk Fried­rich Nietz­sches, »Ecce homo« und »Also sprach Zara­thu­stra«, und das ver­än­dert ihre Denk- und Sehgewohnheiten.

Inzwi­schen sind sie nach Mai­land gezo­gen, Gior­gio reist nach Rom und Flo­renz. In sei­nen Noti­zen aus dem Jahr 1912 schreibt er von »Offen­ba­run­gen« und spon­tan auf­tre­ten­den »Visio­nen«, in denen ihm Kom­po­si­tio­nen künf­ti­ger Bil­der erschei­nen. Ein Pro­phet also? Schon 1911 hat­te er in einem Brief an einen Freund über eine geplan­te Aus­stel­lung in Mün­chen geschwärmt, es wer­de »eine Ent­hül­lung für die gan­ze Welt sein«. Sei­ne Bil­der nennt er selbst »Rät­sel«. Sei­ne inten­si­ve Nietz­sche-Lek­tü­re bringt de Chi­ri­co nach Turin, die Stadt, die auch der Phi­lo­soph besuch­te, bevor der Wahn­sinn ihn traf. De Chi­ri­co beginnt, die Welt als System von Zei­chen zu ver­ste­hen. So fin­den sich in sei­nen Bil­dern die­se Sym­bo­le immer wie­der – wie Mar­ken­zei­chen: zwei Arti­schocken aus Eisen, vom Künst­ler geträumt und sogar in Gedich­te ver­wan­delt. Im Bild »Melan­cho­lie eines Nach­mit­tags« (1913) lie­gen sie da, real und groß wie mit­tel­al­ter­li­che Waf­fen, zackig und bedroh­lich: Mor­gen­ster­ne. Auf dem Gemäl­de »Die Erobe­rung des Phi­lo­so­phen« (1914) ragt ein Kano­nen­rohr ins Bild mit den bei­den Früch­ten, die kei­ne sind. Ganz im Hin­ter­grund – wie so oft – die klei­ne Eisen­bahn, Rauch aus­sto­ßend, der Atem der Loko­mo­ti­ve? Das Ein­zi­ge, was lebt, sich bewegt im Bild. Erin­ne­rung an den Vater? Oder Hin­weis auf den »Fort­schritt«, wie es Pao­lo Bal­d­a­c­ci, einer der Her­aus­ge­ber im Kata­log deu­tet. So auch die Schorn­stei­ne, Tür­me, gleich­zei­tig Zei­chen für das Männ­li­che – die Arka­den; Tor­bö­gen ste­hen für das weib­li­che Ele­ment, heißt es.

Gior­gio will Ita­li­en ver­las­sen, weil ihm als ita­lie­ni­scher Staats­bür­ger die Ein­be­ru­fung droht.1912 wird er nach Turin zum Mili­tär­dienst beor­dert. Er nahm den näch­sten Zug nach Paris, wo schon der Bru­der lebt, und wird zum Deser­teur erklärt. Dass bei­de den­noch nach Ita­li­en zurück­kehr­ten im Mai 1915, lag dar­an, dass die ita­lie­ni­sche Regie­rung Deser­teu­ren eine Amne­stie garan­tiert hat­te, wenn sie sich schnell­stens mel­de­ten. So kamen sie nach Fer­ra­ra. Da die Ärz­te sie für »unge­eig­net« ansa­hen, die »Kriegs­stra­pa­zen« zu ertra­gen, wur­den sie für Büro­dien­ste vorgesehen.

Durch die Ver­mitt­lung einer ein­fluss­rei­chen Fami­lie wird Geor­gio in ein Mili­tär­hos­pi­tal für Ner­ven­kran­ke bei Fer­ra­ra beor­dert, zusam­men mit sei­nem Freund, dem Maler Car­lo Car­rá. Dort sind sie sicher vor dem Krieg und kön­nen malen. Apol­lin­aire, der seit der Pari­ser Zeit mit den de Chi­ri­cos befreun­det ist, hat weni­ger Glück und wird 1916 durch einen Gra­nat­split­ter an der Schlä­fe ver­letzt. Wie­der gene­sen, erkrankt er an der Spa­ni­schen Grip­pe und stirbt dar­an im Novem­ber 1918. Gior­gio über­stand die Grip­pe und erhol­te sich in der Vil­la del Semi­na­rio, dem Mili­tär­spi­tal für Ner­ven­kran­ke, das nun als Kran­ken­haus dien­te für die Opfer der dama­li­gen Pan­de­mie. Die Kriegs­ver­wun­de­ten in die­sem Haus inspi­rier­ten ihn zu sei­nen Glie­der­pup­pen ohne Arme, die Stüt­zen brau­chen, um zu ste­hen. Und die Köp­fe ohne Gesichts­zü­ge, alles Mensch­li­che aus­ge­löscht durch den Krieg, den er hass­te, wie Pao­lo Bal­d­a­c­ci betont. Unver­ständ­lich dabei, dass er – vor allem sein Bru­der Alber­to – ein Freund­schafts­ver­hält­nis mit dem Kunst­kri­ti­ker Arden­go Sof­fi­ci und dem – ein­fluss­rei­chen – Schrift­stel­ler Gio­van­ni Papi­ni pfleg­te, die bei­de glü­hen­de Natio­na­li­sten waren und spä­ter Mus­so­li­ni ver­ehr­ten. De Chi­ri­cos Gemäl­de »Der Trou­ba­dour« ent­stand 1917, auch er ohne Gesicht und mit Stütz­stan­gen, die dem hoch­auf­ge­rich­te­ten Kör­per ohne Arme Halt geben. Wie ein Opfer wirkt er nicht. Genau­so wenig wie »Der gro­ße Meta­phy­si­ker« vom glei­chen Jahr, der in einer Land­schaft de Chi­ri­cos alles über­ragt. Gio­van­ni Lista inter­pre­tiert im Kata­log: Der Maler zei­ge dar­in einen »Aus­blick auf die Zukunft in hera­kli­tisch-futu­ri­sti­schem Sin­ne« und er deu­te »den Krieg als frucht­bar«. Sind die­se hoch­kant ste­hen­den Ver­schach­te­lun­gen Sär­ge, die sei­nen Kör­per bil­den? Ein Bei­spiel, wie viel­deu­tig und miss­ver­ständ­lich de Chi­ri­cos Kunst sein kann.

Die Ein­sam­keit und Melan­cho­lie der lee­ren Plät­ze sind uns heu­te ver­traut gewor­den. Uhren, die ste­hen blie­ben, irgend­wann, Bahn­hofs­ge­bäu­de ohne Ein­gang, die Züge fah­ren vor­bei. Schat­ten von Sta­tu­en, die unsicht­bar blei­ben. Immer wie­der der Mythos, Ari­ad­ne, schla­fend oder war­tend: unbe­weg­lich, starr. Eine Skulp­tur der Ari­ad­ne aus Gips, die der Künst­ler 1912 schuf, steht eben­so ver­las­sen da wie alle Bilder.

Ob die Aus­stel­lung jemals besucht wer­den kann, hängt vom Virus ab. Am 25. April jeden­falls ist Schluss. Die Leih­ga­ben müs­sen zurück.

Und die »Melan­cho­lie einer Stra­ße« kann die fer­nen Ori­gi­na­le nicht ersetzen.