Giorgio de Chiricos »Melancholie einer Straße« ist ein einprägsames Gemälde, dachte ich. Es befindet sich im Besitz der Hamburger Kunsthalle. So informiert mich mein »Kindlers Malerei Lexikon« von 1976. Aber warum hängt es nicht in der Ausstellung »Magische Wirklichkeit«, die jetzt in Hamburg aus den bekannten Gründen nicht besucht werden kann (nur im Internet ist einiges zu sehen: www.hamburger-kunsthalle.de). Der Katalog (Hirmer Verlag, München, 232 Seiten, 34.90 Euro) löst das Rätsel. Der damalige Direktor der Kunsthalle, Alfred Hentzen, war 1957 auf eine Fälschung hereingefallen. Der Kunsthändler Werner Rusche hatte zuvor brieflich die hervorragende Provenienz »aus der Sammlung der geschiedenen Mme A. Breton« versichert.
Richtig ist: Der Surrealist Andrè Breton war von de Chirico begeistert, kaufte ein Bild »Das Gehirn des Kindes« (1914), das er vom vorbeifahrenden Bus aus in der Galerie von Paul Guillaume in Paris entdeckt hatte. Nun als Nr. 1 in der Ausstellung. Von dem Fälscher Oscar Dominguez haben sich auch andere deutsche Museen in den 50er Jahren täuschen lassen. Es existieren knapp vierzig gefälschte Werke von Dominguez.
Diese frühe Phase der metaphysischen Bilder – von 1909 bis 1919 – war die fruchtbarste und bekannteste de Chiricos. Die Pariser Surrealisten verübelten ihm, dass er danach – wie sie meinten – dem akademischen Stil huldigte, seine Kunst verriet. Der 1888 in Volos (Griechenland) geborene Giorgio war italienischer Herkunft. Sein Vater Evaristo baute als Eisenbahningenieur die Bahnstrecke zwischen Athen und Thessalien, deshalb hatten sie sich in Volos niedergelassen, in einer Landschaft der Sagen und Mythen, die Giorgio und seinen jüngeren Bruder Alberto prägten. 1906 verließen sie Griechenland. Vorher waren sie nach Athen gezogen, wo der Vater 1905 starb. Die Mutter Gemma zog mit den Söhnen nach München, wo Alberto, ein »Wunderkind«, seine Musikstudien fortsetzen will. Er hatte seinen Namen geändert, nannte sich nun Savinio, um sich abzusetzen vom Bruder. Giorgio widmet sich der Kunst. Hier kommt er in Kontakt mit den Bildern Arnold Böcklins, die großen Einfluss auf ihn haben werden. Ebenso die Werke von Max Klinger. Beide als Spätromantiker im Gegensatz zum impressionistischen Malstil der Zeit. Die Brüder, die vieles gemeinsam tun, entdecken das späte Werk Friedrich Nietzsches, »Ecce homo« und »Also sprach Zarathustra«, und das verändert ihre Denk- und Sehgewohnheiten.
Inzwischen sind sie nach Mailand gezogen, Giorgio reist nach Rom und Florenz. In seinen Notizen aus dem Jahr 1912 schreibt er von »Offenbarungen« und spontan auftretenden »Visionen«, in denen ihm Kompositionen künftiger Bilder erscheinen. Ein Prophet also? Schon 1911 hatte er in einem Brief an einen Freund über eine geplante Ausstellung in München geschwärmt, es werde »eine Enthüllung für die ganze Welt sein«. Seine Bilder nennt er selbst »Rätsel«. Seine intensive Nietzsche-Lektüre bringt de Chirico nach Turin, die Stadt, die auch der Philosoph besuchte, bevor der Wahnsinn ihn traf. De Chirico beginnt, die Welt als System von Zeichen zu verstehen. So finden sich in seinen Bildern diese Symbole immer wieder – wie Markenzeichen: zwei Artischocken aus Eisen, vom Künstler geträumt und sogar in Gedichte verwandelt. Im Bild »Melancholie eines Nachmittags« (1913) liegen sie da, real und groß wie mittelalterliche Waffen, zackig und bedrohlich: Morgensterne. Auf dem Gemälde »Die Eroberung des Philosophen« (1914) ragt ein Kanonenrohr ins Bild mit den beiden Früchten, die keine sind. Ganz im Hintergrund – wie so oft – die kleine Eisenbahn, Rauch ausstoßend, der Atem der Lokomotive? Das Einzige, was lebt, sich bewegt im Bild. Erinnerung an den Vater? Oder Hinweis auf den »Fortschritt«, wie es Paolo Baldacci, einer der Herausgeber im Katalog deutet. So auch die Schornsteine, Türme, gleichzeitig Zeichen für das Männliche – die Arkaden; Torbögen stehen für das weibliche Element, heißt es.
Giorgio will Italien verlassen, weil ihm als italienischer Staatsbürger die Einberufung droht.1912 wird er nach Turin zum Militärdienst beordert. Er nahm den nächsten Zug nach Paris, wo schon der Bruder lebt, und wird zum Deserteur erklärt. Dass beide dennoch nach Italien zurückkehrten im Mai 1915, lag daran, dass die italienische Regierung Deserteuren eine Amnestie garantiert hatte, wenn sie sich schnellstens meldeten. So kamen sie nach Ferrara. Da die Ärzte sie für »ungeeignet« ansahen, die »Kriegsstrapazen« zu ertragen, wurden sie für Bürodienste vorgesehen.
Durch die Vermittlung einer einflussreichen Familie wird Georgio in ein Militärhospital für Nervenkranke bei Ferrara beordert, zusammen mit seinem Freund, dem Maler Carlo Carrá. Dort sind sie sicher vor dem Krieg und können malen. Apollinaire, der seit der Pariser Zeit mit den de Chiricos befreundet ist, hat weniger Glück und wird 1916 durch einen Granatsplitter an der Schläfe verletzt. Wieder genesen, erkrankt er an der Spanischen Grippe und stirbt daran im November 1918. Giorgio überstand die Grippe und erholte sich in der Villa del Seminario, dem Militärspital für Nervenkranke, das nun als Krankenhaus diente für die Opfer der damaligen Pandemie. Die Kriegsverwundeten in diesem Haus inspirierten ihn zu seinen Gliederpuppen ohne Arme, die Stützen brauchen, um zu stehen. Und die Köpfe ohne Gesichtszüge, alles Menschliche ausgelöscht durch den Krieg, den er hasste, wie Paolo Baldacci betont. Unverständlich dabei, dass er – vor allem sein Bruder Alberto – ein Freundschaftsverhältnis mit dem Kunstkritiker Ardengo Soffici und dem – einflussreichen – Schriftsteller Giovanni Papini pflegte, die beide glühende Nationalisten waren und später Mussolini verehrten. De Chiricos Gemälde »Der Troubadour« entstand 1917, auch er ohne Gesicht und mit Stützstangen, die dem hochaufgerichteten Körper ohne Arme Halt geben. Wie ein Opfer wirkt er nicht. Genauso wenig wie »Der große Metaphysiker« vom gleichen Jahr, der in einer Landschaft de Chiricos alles überragt. Giovanni Lista interpretiert im Katalog: Der Maler zeige darin einen »Ausblick auf die Zukunft in heraklitisch-futuristischem Sinne« und er deute »den Krieg als fruchtbar«. Sind diese hochkant stehenden Verschachtelungen Särge, die seinen Körper bilden? Ein Beispiel, wie vieldeutig und missverständlich de Chiricos Kunst sein kann.
Die Einsamkeit und Melancholie der leeren Plätze sind uns heute vertraut geworden. Uhren, die stehen blieben, irgendwann, Bahnhofsgebäude ohne Eingang, die Züge fahren vorbei. Schatten von Statuen, die unsichtbar bleiben. Immer wieder der Mythos, Ariadne, schlafend oder wartend: unbeweglich, starr. Eine Skulptur der Ariadne aus Gips, die der Künstler 1912 schuf, steht ebenso verlassen da wie alle Bilder.
Ob die Ausstellung jemals besucht werden kann, hängt vom Virus ab. Am 25. April jedenfalls ist Schluss. Die Leihgaben müssen zurück.
Und die »Melancholie einer Straße« kann die fernen Originale nicht ersetzen.