Wir nannten ihn nur Budzi, unseren Budzi. Den Professor, der mit schiefsitzender Fliege und einem zigarettengroßen Manuskript mit schnellen Trippelschritten auf dem Podium umherlief und uns mit sonorer, aber scharf akzentuierender Stimme die Weltpolitik und die Kommentare der Journalisten erklärte. Das war in den fünfziger und sechziger Jahren an der Fakultät für Journalistik der Leipziger Universität. Hermann Budzislawski war der Dekan dieser Fakultät, sein Auftrag: Ausbildung und Erziehung (!) junger aufgeschlossener Menschen zu sozialistischen Journalisten. Wir, die Studenten, waren alle Fans des kleinen lebhaften Mannes auf der Vortragsbühne. Wir wussten, dass er schon in den dreißiger Jahren ein bekannter Publizist war, Nachfolger des von den Nazis ermordeten Weltbühne-Herausgebers Carl von Ossietzky, ein Mann, der aus dem amerikanischen Asyl heraus den Nationalsozialismus und Hitlers Krieg bekämpfte, ein Freund von Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und vieler anderer Literaturgrößen, ein Mann mit Einsicht in die Weltläufe und mit großer publizistischer Erfahrung. Mehr wussten wir nicht.
Endlich liegt nun über ihn eine ausführliche, um nicht zu sagen allseitige Biografie vor, verdientermaßen und interessanterweise. Daniel Siemens, ein deutscher Historiker, der im englischen Newcastle lehrt und forscht, hat ein Buch geschrieben mit der unermesslichen Mühe eines um Objektivität bemühten Wissenschaftlers. Sein Thema und sein Held machen es ihm nicht leicht, denn Hermann Budzislawski war tatsächlich sein ganzes Leben lang eine ungewöhnliche Persönlichkeit als anpassungsfähiger Zeitpublizist, und seine Wirkungszeit und sein Leben sind in der Tataußergewöhnlich verschlungen.
Siemens hat alles ausgegraben, was aufdeckbar ist: die Nachlässe, die Briefe, die Rechnungen und natürlich die Artikel. Auch die Artikel mit Verdächtigungen und Anschuldigungen von Intimfeinden wie Schlamm oder Münzenberg, die ihn als einen sowjetischen Agenten oder zumindest als einen Superkommunisten darstellen wollten.
Budzislawskis Leben und sein professionelles Werk sind alles andere als einfach und einspurig. Siemens nimmt uns in seiner Biografie mit in die Kindheit und Jugend dieses ungewöhnlichen Talents, das 1901 als Sohn eines jüdischen Fleischers in Berlin geboren wurde, den gymnasialen Weg kleinbürgerlicher Kinder in schwierigen und später revolutionär-anarchistischen Zeit von Krieg und Nachkriegszeit durchlebte. Er arrangierte sich schon als Schüler auf der Revoluzzerseite, so dass er vom Vater in ein vermeintlich ruhigeres universitäres Provinzleben geschickt wurde. Dieser Plan ging auf.
Schon mit 22 Jahren verfasste und verteidigte er eine Dissertation auf dem Gebiet der – wie es damals hieß – Nationalökonomie. Allerdings sind uns Thema und Diktion heute recht befremdlich, es geht nämlich um Eugenik, nicht im Sinne der später von den Nazis übel praktizierten Rasselehre, aber als Abhandlung für eine eugenische kapitalistische Ökonomik. Es ist unklar, warum Siemens das so genüsslich ausufernd darstellt, zumal das Problem auch für die damalige Zeitpublizistik umfassender hinterfragt werden müsste. Budzislawski war diese Beschäftigung später selbst peinlich, und er ist eigentlich nie wieder darauf zurückgekommen. Hier steht es nun aber als Zeichen der ungeheuren geistigen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des jungen Mannes, was sich während der ganzen Weimarer Republik fortsetzte. Budzislawski begann zu schreiben, verordnete sich konsequent nach links, organisierte antikoloniale Unterstützung, zum Beispiel gegen die englische Unterdrückungspolitik in Indien, knüpfte nach allen Seiten hin journalistische Kontakte, warnte vor dem Faschismus. Schließlich führte ihn das in die Nähe und dann in das redaktionelle Lager von Ossietzkys Weltbühne, die er 1932 betrat. Als linker politischer Jude musste er Deutschland dann aber alsbald verlassen.
Wie es weiterging, hat Siemens in seinem Buch präzise nacherzählt. Budzislawski hielt das Banner des Antifaschismus hoch, machte die Neue Weltbühne erst in Prag dann in Paris zum Organ von Volksfront-Verbündeten, und das gegen viele Anfeindungen und trotz aller Mühen der Finanzierung. Alles ist genau aufgeführt, allerdings leidet darunter das Inhaltliche. Nachdrucke der Zeitschriften-Beiträge liegen ja als Sammelband vor, aber man hätte sich in dieser Biografie gerade über diese Phase der antifaschistischen Publizistik mehr Beispiele und inhaltliche Stoßrichtungen gewünscht.
Was man dann nach dem Eintreten Frankreichs in den Weltkrieg über die Odyssee des Emigranten Budzislawski lesen kann, mutet geradezu kolportagehaft an: Schlimmste Haftbedingungen in südfranzösischen Internierungslagern, Flucht und sensationelles Auffinden der Familie, anstrengende und abenteuerliche Flucht zu Fuß mit dem alten Vater über die Pyrenäen, Durchschlagen im Franco-Spanien, Finanzierung und Organisierung einer Schiffspassage von Lissabon nach Amerika. Das gelingt alles nur, weil der gewiefte Budzi seine Netzwerke und Beziehungen ausnutzen kann.
In Amerika angekommen, war zunächst nichts mit dem Weiterführen einer Neuen Weltbühne, auch saßen dort die Vorbehalte gegen einen linken Publizisten trotz Antifaschismus tief. Aber der Neu-Amerika-Emigrant hatte wieder Glück. Die bedeutende US-Publizistin Dorothy Thomson mit ihren Beziehungen zu höchsten US-Regierungskreisen wurde auf den renommierten und geschickten Analysten Budzislawski aufmerksam und nahm ihn in ihre Dienste für ihre politischen Kolumnen, die dutzendfach in ganz Amerika erschienen.
Nun agierte der deutsche Antifaschist als Ghostwriter zwar aus der zweiten Reihe, was nicht ganz seinem Ehrgeiz entsprach, aber es war politisch wirksam und für die Familie auch profitabel. Auch hier wäre wünschenswert gewesen, wenn mehr über die Budzislawski-Thompsonschen Angriffe auf das Naziregime und die Einschätzung der Kriegsereignisse eingefügt worden wäre. Als nach Ende des Krieges Budzislawskis Arbeitgeberin auf die Linie des Kalten Krieges umschwenkte, war Schluss mit gütlich, und man trennte sich in scharfer Polemik, wobei Budzislawski schadenfroh verkündete: »Ich war Amerikas berühmteste Frau«; seinen Antifaschismus ließ er nicht einfach in Antikommunismus umwandeln.
Was Hiesige an Siemens Biografie am meisten interessieren dürfte, ist dann die Rückkehr nach Deutschland und das schwierige Sich-zurecht-Finden in der DDR. Da ging es ihm wie anderen West-Remigranten auch: Unsicherheiten, Verdächtigungen, aber auch Privilegien, komplizierte Neuanfänge. Wiederum war kein Raum für einen Neuanfang mit der Weltbühne. Seine politischen und publizistischen Erfahrungen sollten vielmehr für den Aufbau einer sozialistischen Journalistikwissenschaft genutzt werden.
Budzislawski stellte sich dieser Aufgabe einerseits enthusiastisch, andererseits auch zögerlich. Dieses Kapitel wird von Siemens nicht gänzlich ausgeleuchtet und auch nicht voll verstanden – zumal schon viele Zeitzeugen fehlen. Am Engagement Budzislawskis war nicht zu zweifeln. Davon zeugen die vielen Funktionen, Reden und auch staatliche Auszeichnungen, die im Buch aufgezählt werden. Der erfahrene Internationalist mit seinen Kenntnissen und Verbindungen, der auch Mitglied der Volkskammer und von internationalen Gremien war, tat jedenfalls ein gutes Werk für die Anerkennung der DDR. Auf dem eigentlichen akademischen Arbeitsfeld tat er sich dagegen schwer. Die Mühen des Universitätsalltags waren nicht sein Ding. Auch sorgten Hardliner im jungen Lehrkörper nicht immer für gute Stimmung. Gleichwohl – wenn auch unter Drängen seiner ungeduldigen Mitarbeiter – suchte er nach einem Weg, das Leninsche Konzept von der sozialistischen Presse als Agitator und Propagandist mit dem Grundaufgaben jedes Journalismus, nämlich Widerspiegelung des aktuellen Geschehens zu sein, zu verbinden. Das wird in dem professionell nützlichen, wenn auch eklektizistischen Lehrbuch »Sozialistische Journalistik«, das 1966 unter seinem Namen erschien, trotz aller Parteilichkeit noch deutlich. Sein späterer Nachfolger und autoritärer Intimfeind Dusiska ließ es sofort nach Erscheinen sogleich auf den Index des Unbeachtetseins setzen. Damit endete die akademische Ära des schon gealterten und angeschlagenen Professors. Dieses Stück Wissenschaftsgeschichte fehlt bei Siemens ganz, ist aber wichtig für die biografische Beurteilung. Eine späte Genugtuung erfuhr der immer noch großartige Publizist, als er von 1967 bis 1971 noch einmal der Weltbühne, seinem Leibblatt, vorstehen durfte. Er nutzte es vor allem als außenpolitisches Erklärungsmedium, was ihm ja ohnehin am meisten lag.
Es gibt immer große Persönlichkeiten in der Politik, Literatur, Kunst, selten in der Publizistik. Siemens hat mit Budzislawski einen wichtigen Namen wieder entdeckt, sicherlich nicht in gleicher Augenhöhe zu sehen wie Ossietzky oder Tucholsky, aber einen, der mit seiner Begabung und Wendigkeit auch die Kompliziertheit und Zerfahrenheit des politischen Kampfes gegen den Faschismus widerspiegelt. Siemens stellt ihn wieder auf einen Sockel, zwar notwendigerweise mit Rostflecken und Narben, aber als bemerkenswertes Exempel linker Publizistik.
Es ist müßig darüber zu streiten, ob und wann in den verschiedenen Etappen seines zerrissenen Lebens Budzislawski linker Sozialdemokrat, westlicher Liberaler oder überzeugter Sozialist war. Auf jeden Fall war er immer kämpferischer Antifaschist und weltgewandter politischer Kopf. Budzislawski verstarb im Jahre 1978. Sein Grab befindet sich in der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde. Zu Recht.
Daniel Siemens: Hinter der Weltbühne. Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert, Aufbau-Verlage, Berlin 2022, 597 S., 28 €.
Der Autor Karl-Heinz Röhr war Anfang der 1960er Jahre als Assistent persönlicher Mitarbeiter von Hermann Budzislawski. Zuletzt war er Professor für die Grundlagen journalistischer Methodik an der Karl-Marx-Universität Leipzig.