Das 1872 in Bremen geborene künstlerische Multitalent, Johann Heinrich Vogeler, Mitbegründer der Künstlerkolonie Worpswede und Sozialist, entflieht zu Beginn der 1920er Jahre der scheinbaren Idylle am Rande des Teufelsmoores und verbringt knapp sieben Jahre in Berlin, unterbrochen von längeren Reisen. Er ist auf dem Weg, seinem Leben eine grundlegende Wende zu geben, auf Dauer ins Land der Oktoberrevolution zu übersiedeln.
Das Berliner Klima dieser Jahre ist einzigartig, die Presselandschaft steht in üppiger Blüte, das gesellschaftliche Leben pulsiert, und zu jeder Nacht- und Tageszeit werden Zeitungen ausgerufen: Extra-Ausgabe! – Berliner Morgenpost – Vossische Zeitung – Berlin am Mittag – Berliner Tageblatt – Berliner Volkszeitung – Berlin 16 Uhr-Ausgabe – Die Welt am Abend – Berlin am Abend – 8 Uhr Abendblatt – Nachtausgabe! – Extrablatt! … Es erscheint auch Franz Pfemferts erst viel später berühmt gewordene Zeitschrift Die Aktion (1911-1932), aber in verschwindend kleiner Auflage mit bisweilen nicht mehr als 100 Abonnenten. Vogeler steuerte dem Blatt zwischen 1918 und 1920 Arbeiten bei, bevor er um 1923/24 nach Berlin geht und zu Aufenthalten nach Moskau und Reisen in die Sowjetrepubliken aufbricht.
Der 1. Weltkrieg endet 1918 mit peinsamer Niederlage für Deutschland, auch die deutsche November-Revolution ist eigentlich missglückt. Der Kaiser hat zwar abgedankt – gedankt aber hat er nie. In der Berliner Revue-Republik herrscht ansteigend bittere Armut, die Seit’ an Seit’ mit den Glücksrittern solcher Zeiten geht. Zugleich ist da aber auch entfesselte, kulturelle Aufbruchsstimmung, in einer zudem politisch hoch aufgeladenen Stadt. Im Tingeltangel der kleinen & großen Künste – zwischen »Café Größenwahn« und dem Kabarett »Schall & Rauch« – tobt sich ein lebenshungriges Berlin aus: Streichhölzer! Tzigarren, Tzigarren, Kokain! Das ist Berlin…, schmettert der später im KZ ermordete Kurt Gerron (i. e. Kurt Megerle von Mühlfeld) im Cabaret »Wilde Bühne«. Die Nazis haben bereits 1923, nach dem Hitlerputsch, eine Liste mit Namen der Leute in ihrer Schublade, die später, nach der Machtergreifung (eigentlich Machtübergabe), sofort zu verhaften seien. Bertolt Brecht stand auf Platz 5 der Liste.
Als Heinrich Vogeler im September 1924 nach Berlin kommt, geht Kurt Tucholsky noch ganz froh nach Paris, zum erklärten »Erbfeind« Deutschlands, und Vogeler will eigentlich nur kurz in der Stadt bleiben, um nach Moskau weiterzureisen. Er war zuvor schon einmal in Moskau und reist in diesen Jahren noch mehrmals in die seit 1922 bestehende Sowjetunion. Er plant von Berlin aus den endgültigen Absprung nach Moskau und aus seinem bisherigen Leben, dass es auch auf ein Ende des Künstlerlebens hinauslaufen wird, das dürfte ihm nicht klar gewesen sein.
Aber warum vom stillen Worpswede ins laute Berlin? Warum nicht nach München, Hamburg, Köln, Dresden oder Leipzig? Warum ausgerechnet Berlin? Ganz einfach: Der von den Umbrüchen in Russland angezogene Vogeler fand nirgendwo in Deutschland einen Ort, an dem russische und exilrussische Selbstvergewisserung von Geist, Kunst und Kultur so frei artikuliert wurde, eine so große Rolle spielte, wie gerade in Berlin.
Auffällig viele deutsche Künstler und Intellektuelle sind in den Jahren von Moskau angezogen, etwa Walter Benjamin, der 1926 dorthin reist und 1927 zwanzig Moskauer Stadtbildnotizen in der ersten christlich-jüdischen Zeitschrift Die Kreatur veröffentlicht. Von der Großstadt Moskau ist die Großstadt Berlin nur noch einen Großkatzensprung entfernt. Hier laufen die Fäden bedeutender russischer Schriftsteller, Maler, Theater- und Filmleute zusammen, die sich in Berlin aufhalten: Vladimir Nabokov, Marina Zwetajewa, Andrei Bely, Boris Pasternak, Maxim Gorki, Ossip Mandelstam, Ilja Ehrenburg, Wassily Kandinsky, El Lissitzky, Kasimir Malewitsch. Berlin ist 1921/22 quasi die zweite geistige russische bzw. sowjetische Hauptstadt. Hier entsteht eine Fülle der Berlin-Texte Nabokovs, Zwetajewas und Pasternaks. Wer den Weg nach Russland sucht, geht zumeist über Berlin dorthin.
Heinrich Vogeler, der sich vom Juni 1923 bis September 1924 in Moskau aufhält, hat inzwischen kulturell und politisch weniger Verbindungen in Worpswede als in Berlin. Im Oktober 1924 wird er Gründungsmitglied der »Roten Hilfe Deutschland« (1924-1936), die inhaftierte Mitglieder linker Organisationen, Gewerkschafter, auch Parteilose unterstützt und Rechtsberatung leistet. Die sogenannte »Novembergruppe«, ein Kreis fortschrittlich gerichteter Künstler aller Sparten, mit einem handfesten Manifest, ist schon seit 1918 aktiv. Überhaupt werden von den unterschiedlichsten Gruppen in dieser Zeit Manifeste in Massen verfasst, und entsprechend spottet der Dichter und Übersetzer Ferdinand Hardekopf in der Zeitschrift Die Aktion: »Man immer manifeste druff!«
Der Schriftsteller Andrei Bely schildert seine Berliner Erfahrungen: »Berlin ist ein organisierter, systematisch realisierter Alptraum, dargeboten in der unschuldigen Form des normalen, gesunden (bourgeoisen) Menschenverstands: Sinn wird Widersinn. (…) der Berliner ist durch nichts zu überraschen (…); dem ›nüchternen‹ Leben muss man nach der Berliner Kontrastmethode eben nur den umgekehrten Sinn geben: um zu verstehen – da herrscht Betrunkenheit.« (A. Bely: »Wie schön es in Berlin ist«)
Im September 1924 besucht Käthe Kollwitz den aus Moskau Zurückgekehrten und fünf Jahre jüngeren Heinrich Vogeler in seinem Berliner Atelier. Sie notiert in ihrem Tagebuch: »Vormittag im Atelier Vogeler. Er kommt aus Moskau, arbeitet dort in der Kunstabteilung. Erzählt von der Vehemenz des Lebens dort. Von der barbarischen Art des Kunstbetreibens, das aber nichts von Müdigkeit kennt, neue Inhalte in neue Formen gießt und ›brennt‹ vor Intensität. (…) Vogeler sagte, er war in Deutschland so müd und hoffnungslos geworden, in Russland hat das Leben ihn wieder gepackt.«
Im Spätsommer 1924 oder 1925 wird Heinrich Vogeler Mitglied der KPD, es kursieren zwei Daten über den Beitritt. Im Dezember 1924, zu den Reichstagswahlen, bringt der mit Vogeler befreundete Regisseur Erwin Piscator, im Auftrag der KPD, die Revue »Roter Rummel« auf die Bühne, mit tagespolitischen Bezügen: Werkstatt, Fabrik und Straße, und begründet sein dialektisch-polemisch, gesellschaftlich verankertes Revue-Theater, dessen ästhetische Mittel schließlich, drei Jahre später, in der Drei-Groschen-Oper von Brecht/Weill eingesetzt werden, die es ohne diese Entwicklungen so gar nicht gäbe. Brecht war 1927 in Piscators Bühnen-Kollektiv tätig.
Vom November 1925 bis März 1926 ist Vogeler wieder in Moskau und reist anschließend vom Juli 1926 bis Januar 1927 über Taschkent, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan bis nach Baku/Ukraine. Er gerät im Verlauf der Jahre bis 1931 in eine immer schwierigere persönliche und materielle Lage. Um überhaupt etwas zu verdienen, arbeitet er vom Sommer 1927 bis Sommer 1930 als Zeichner und Maler in der Arbeitsgemeinschaft »Die Kugel«, einem Architekturbüro in Berlin-Wilmersdorf, das Modelle und Pavillons für Industrieausstellungen gestaltet. 1928 wird Vogeler Mitbegründer der »Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands« (ARBKD, SSO), der wichtigsten Organisation kommunistischer bildender Künstler der Weimarer Republikjahre.
1929 erscheint Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz«, der 1930 ins Russische übersetzt erscheinen soll. Aber das »Internationale Büro für revolutionäre Literatur« legt dagegen Protest ein, weil ein Schriftsteller, der auf derartig freche Art die proletarische Literatur Deutschlands beleidigt, kein Anrecht darauf habe, von den Arbeitern der Sowjetunion gelesen zu werden. Das Buch wird daraufhin aus dem Verlagsplan gestrichen, berichtet die Zeitschrift Linkskurve 1930. Dieser Vorgang kennzeichnet das Kulturverständnis einer Welt, in die sich Vogeler ein Jahr später mit all seinen Hoffnungen begeben wird. Das Desaster kündigt sich im Zuge der ultralinken Wende von 1929 an, die in allen kommunistischen Nebenorganisationen zu massiven Ausschlüssen führt, besonders in der »Roten Hilfe«. Vogeler muss sich damit abfinden, dass auch er aus der KPD – nach nicht mal vier Jahren – ausgeschlossen wird. Er hat es gewagt, die Wiederherstellung der Einheitlichkeit und Überparteilichkeit der Roten Hilfe einzufordern, die ausgeschlossenen und gemaßregelten Genossen zurückzuholen. Er tat das, in seiner politischen Naivität, als guter Mensch, der es wagte, sich gegen die führende Parteibürokratie und ihre »revolutionäre Phraseologie« zu wenden. Unter den Genossen finden sich Namen, die noch lange Klang haben werden und später zu den Führungspersönlichkeiten der DDR gehören: u. a. Johannes R. Becher, Erich Weinert, die Brüder Kurella, Wilhelm Pieck.
Vogeler ist, auch wenn es ihm nicht hilft, hellsichtig. Das belegt eine Bemerkung in einem Brief vom Mai 1930, wo er von der »blöden Taktik« der KPD spricht, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen, was nur eines bewirken würde, nämlich den Machtgewinn der Nazis. Er hingegen wird als »Parteiabweichler« und »Agent des Faschismus« beschimpft, findet keine wirkliche Heimat mehr.
Er gehört von nun an nirgendwo mehr hin, das ist für einen Künstler, der sich und sein Werk stets aktiv gesellschaftlich verknüpft hat, der im weitesten und besten Sinne als »Gebrauchskünstler« gesehen werden kann, von tiefer Tragik. Sinnbildlich dafür scheint mir, dass Vogeler das zu zerstören beginnt, was er zuvor im grandiosen, montageartigen Entwurf geschaffen hat, seine sogenannten »Komplexbilder«. Diese Bilder fügen zum einen komplexe Aspekte der Welt auf einer großen Fläche zu einem Ganzen, zum anderen zeigen sie den Zerfall, die Fragmentierung von Gegenwart, die sie auf diese Weise thematisieren. Der Künstler und sein Werk arbeiten im Bereich der Zwischentöne, die wahrzunehmen noch wenige imstande sind. 1930, im selben Jahr, in dem Tucholsky der Weltbühne vom schwedischen Exil seine immer seltener werdenden Beiträge schickt, ehe er ganz verstummt, ist Vogeler von einer Mutlosigkeit befallen, von der er schon Anfang der 1920er Jahre mit Käte Kollwitz gesprochen hat.
In Berlin kommt zu Beginn der 1930er Jahre bezeichnenderweise das Modewort: »Quick« auf, dort ist und muss alles »quick« sein: die technischen Entwicklungen, das Tempo in den Straßen, die hektische Schnitttechnik des Tonfilms, der den Stummfilm über Nacht ablöste, atemlose Kurzlebigkeit, alles kumuliert in diesem Wort QUICK. Zum Ende des Rausches und Trubels, nach Weltwirtschaftskrise und Schwarzem Freitag, zeichnet Kurt Tucholsky im schwedischen Exil, krank und gründlich ernüchtert, ein Bild seiner Stadt im Chanson »Augen in der Großstadt«. Ein melancholischer Abschied angesichts heraufziehender Großwetterlagen, die nicht nur ihm die Sprache gänzlich verschlagen und in den Tod treiben wird: »vorbei, verweht, nie wieder«.
1933-1941 – Zeitkritische Menschen, Linke, Kommunisten, Sozialisten, Juden, Sinti und Roma, Schwule, alle, die in die verkündete »Große Zeit« nicht so recht passen, sie kommen nicht mehr weg, können nur noch vor die Hunde gehen, wie es ein Romantitel Erich Kästners – »Fabian oder Der Gang vor die Hunde« – schon 1931 treffend benennt. Ob in Nazi-Deutschlands Lagern oder an den Grenzen Europas, auch viele der in die Sowjetunion Geflüchteten gehen auf tragische Weisen vor die Hunde, wie Heinrich Vogeler, der zwar als Arbeitsemigrant (Dank des Einsatzes einiger Genossen) in die Sowjetunion geht, aber dort nach 1933 zu einem höchst gefährdeten deutschen Exilierten wird.
Im September 1941, die deutsche Wehrmacht fällt nach dem Polenfeldzug auch in die Sowjetunion ein, wird Vogeler mit anderen Künstlern nach Kasachstan zwangsevakuiert. Er steht auf den Fahndungslisten der Nazis und ihm droht die Exekution. Der gesundheitlich stark angeschlagene und fast siebzig Jahre alte Mann ist gezwungen, an einem Staudamm mitzuarbeiten. Er verarmt, hungert und stirbt schwerkrank am 14. Juni 1942 an Schwäche. Ein Grab gibt es nicht.
Worpswede feiert vom 27.3. bis 6.11. 2022 Heinrich Vogeler. Siehe https://qrco.de/WorpswederMuseenDigital oder www.worpswede-museen.de.