Vor ein paar Wochen habe ich Bruno Travens Roman »Die Rebellion der Gehenkten« gelesen. Am Anfang musste ich mich überwinden, weil die Beschreibung der Lebensbedingungen der »Indios« in den mexikanischen Arbeitslagern zu Beginn des 20. Jahrhunderts, kurz vor der Revolution gegen Porfirio Díaz, nur schwer erträglich war. Der Alltag der indigenen Tagelöhner in der zentralamerikanischen Gesellschaft bestand aus Versklavung, Folter und Hunger. Das Unterdrückungsregime der Ladinos (so werden die »Mischlinge« aus Indios und Spaniern in Mexiko und Mittelamerika genannt) erinnert in den Methoden und in der Ideologie an das nationalsozialistische Repertoire. Zum Glück rebellieren am Ende die Indios gegen die spanisch-»blütigen« Herren und erkämpfen sich die Freiheit. Das lässt den Leser wieder zu Atem kommen. Das Buch endet mit dem allgemeinen Aufstand der Ex-Sklaven, die nun auch die Brüder und Schwestern in den anderen Arbeitslagern aus den Ketten der Gefangenschaft befreien wollen.
Wie wir wissen, hat die ehrenvolle Rebellion nicht das erhoffte Ende genommen. Nach wie vor kämpft die indigene Bevölkerung in Lateinamerika ums Überleben. Zwar gilt die Sklaverei inzwischen als abgeschafft, aber es herrschen weiterhin Unterdrückung und Armut – und durch diese »Hintertür« bleibt auch die Sklaverei so aktuell wie ehedem; das können auch sogenannte »Arbeitsverträge« nur mäßig kaschieren. Und das gilt nicht nur für Lateinamerika, sondern auch für unser ach so modernes, wohlhabendes, freiheitliches, soziales Europa.
Ende Juni ist ein afrikanischer Tagelöhner in einer Blechhütte auf dem Land in der Nähe von Foggia in Apulien verbrannt. Der Brand ist zwar zufällig entstanden, heißt es, aber die Ursachen dieses Todes sind in den Lebens- und Arbeitsbedingungen allzu vieler Arbeiter zu finden, die »wir« im Schatten unseres Wohlstands für den Fortbestand unserer Lebensweise ausbeuten.
Die süditalienische Landwirtschaft basiert ganz überwiegend auf der Arbeit einer Armee von Tagelöhnern, die für ein paar Cents den ganzen Tag unter der Sonne arbeiten. Meistens sind es Afrikaner ohne Aufenthaltsstatus, also illegal, aber es fehlt auch nicht an Beispielen aus der einheimischen Bevölkerung. Die Afrikaner werden von der lokalen Mafia rekrutiert und auf die Felder verbracht, den Hauptteil ihres Lohns behalten die »Vermittler«. Sie schlafen in Blechhütten, weit weg von den Augen der Öffentlichkeit, und verbringen ihre Tage unter unsäglichen Lebensbedingungen. Aber dieses »System« sorgt dafür, dass wir Verbraucher uns an billigen Tomaten und Orangen in den Supermärkten erfreuen können. Dafür ist nicht etwa dem lieben Herrgott oder der Natur zu danken, sondern den illegalen Migranten. Denn wenn sie legal wären, wären unsere Mahlzeiten erheblich teurer.
Das wirft in pragmatischer wie in moralischer Hinsicht ganz wichtige Fragen auf: Brauchen wir Illegale, die ein Sklavenleben führen? Ist das vielleicht eine notwendige Bedingung zur Aufrechterhaltung unseres Lebensstandards? Sind all die sozialen »Sonntagsreden« nicht eine einzige Kulissenschieberei, ein »Fake«? In anderen Worten: Braucht unsere Gesellschaften soziale Ungerechtigkeit, und wozu?
Wenn man durch die Straßen von Palermo spazieren geht, bekommen diese Fragen eine konkrete Dimension: Sizilien wurde 1943 von den Amerikanern befreit, die die Insel dank Unterstützung der Mafia praktisch widerstandslos besetzen konnten. Das heißt, die Befreiung vom nazifaschistischen Regime beginnt in Sizilien mit einem Kooperationsagreement mit der Mafia.
In der Nachkriegszeit wurde das politische Leben in Italien durch den Kampf zwischen zwei großen Parteien gekennzeichnet: Auf der einen Seite war die Christliche Demokratie, die sich der Unterstützung der Kirche und der USA sicher sein konnte; auf der anderen war die kommunistische Partei, die ihrerseits Unterstützung von der Sowjetunion bekam. Die kommunistische Partei kämpfte mit den Landarbeitern in Sizilien für die Auflösung des Großgrundbesitzes und die Verteilung des Bodens an die Bauern, die das Land bearbeiteten. Die Angst vor Landreformen oder einer Revolution war groß, und die Mafia war das bewaffnete Instrument der konservativen Reaktion. Sie kontrollierte das Land, die Städte und auch die Wählerstimmen. Das höchste Gebot war der Kampf gegen den Kommunismus, eine Allianz mit der organisierten Kriminalität erschien der etablierten Politik als das kleinere Übel. So regierten Mafia und Christliche Demokratie vierzig Jahre lang auf der Insel, die sowohl aus ihrer geopolitischen Lage im Zentrum des Mittelmeers als auch als größte Region Italiens eine wichtige Rolle in der nationalen und internationalen Politik spielte. Andreotti (mehrmals italienischer Regierungspräsident) oder Berlusconi (ebenfalls mehrfach wiedergewählt) konnten sich der Unterstützung der sizilianischen Kriminellen stets sicher sein. Selbst noch nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des kommunistischen Gegenparts blieb dieses Commitment bestehen.
So hat die italienische Politik in der Nachkriegszeit die Mafia als Manipulations- und Kontrollinstrument bis in die späten 1980er Jahre genutzt. Die organisierte Kriminalität machte ihre Geschäfte mit dem Drogenhandel, dessen Weltzentrum Palermo wurde, und mit der Bauspekulation. Wunderschöne Jugendstilvillen wurden gesprengt, um Hochhäuser zu bauen. Die Altstadt wurde zum Kampffeld von Mafiabanden und der Armut überlassen. Händler und Unternehmer flüchteten, weil sie durch Schutzgelder erpresst wurden.
Die Mafia hat Armut produziert, weil sie sie brauchte. Aus der Armee des palermitanischen Subproletariats hat sie ihre Söldner rekrutiert. Während legale Unternehmen keine profitablen Lebensgrundlagen in der Stadt fanden, wurde die Mafia zur wichtigsten Firma und konnte durch die Armut gedeihen und »Jobs« anbieten.
So gehe ich durch die Stadt spazieren und bewundere die letzten Jugendstilvillen in der Via Libertà, die aus dem »Sacco di Palermo« (so wird die Bauspekulation der 1950er und 1960er Jahre bezeichnet, die die architektonische Substanz der Stadt erheblich geschädigt hat) gerettet werden konnten. Von der Via Libertà komme ich in die Altstadt, die zum Glück in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren zu neuem Leben erwacht ist. Historische Häuser, Paläste und Plätze wurden renoviert. Künstler, junge, auch reiche Leute sind eingezogen, Stadtteile wurden zum Teil gentrifiziert. Neben den Palästen bleiben aber die engen und dunklen Wohnungen im Erdgeschoß, feucht und ungesund. Da wohnen Menschen, die seit Generationen in Armut leben. Aus der Gefangenschaft ihrer ökonomischen und sozialen Versklavung konnten sie sich noch nicht retten. Zum Überleben arbeiten sie schwarz als Parkplätzeverteiler, Supermarkthelfer, Dienstmädchen, fahrende Kleinhändler – oder sie dealen. Vor der Mafia wird immer ein Auge zugedrückt. Ihr lokaler Boss ist dein Arbeitgeber. Die Polizei ist ein Feind. Aber die Polizei, das ist – bei aller notwendigen Kritik an der Praxis seiner Institutionen – der Staat, die Polis, das Gemeinwohl, die Demokratie, die wir in anderen Zusammenhängen stets zu verteidigen vorgeben.
Aktuell wird in Italien darüber diskutiert, ob das RDC (»Reddito di cittadinanza«, eine Förderungsmaßnahme für Arbeitslose, ähnlich wie Hartz IV) abgeschafft wird. Die italienischen Unternehmer beklagen sich von den Alpen bis nach Sizilien, dass sie keine Arbeiter mehr finden. Denn die Leute ziehen das RDC einem miserablen Arbeitslohn vor, der unter der Überlebensgrenze liegt.
So kommt nun meine ernüchterte Antwort auf die Frage: Warum brauchen wir Armut und Sklaverei: Gestern in Mexiko ließen sie einige Europäer reich werden. Gestern in Sizilien dienten sie dazu, den Status quo aufrechtzuerhalten. Heute auf den Feldern und in den Städten werden sie immer noch aus denselben Gründen gebraucht. Ohne einen »Systemwechsel«, wie immer er heißen mag, wird sich daran auch in Zukunft nichts ändern. Wer sklavenähnliche Verhältnisse verhindern will, muss die Armut bekämpfen und die nurmehr surreale Kluft zwischen reich und arm entschieden verringern.