Nicht nur Viren machen krank und können tödlich sein. Auch die Arbeitslosigkeit. Dabei hält sich die Mär hartnäckig in der »Mitte der Gesellschaft«: Arbeitslose – das sind die Lebensuntüchtigen, die Unzuverlässigen oder die Sozialschmarotzer, faul und raffiniert zugleich. Sie trügen die Schuld an ihrer Lage selbst. Verbreitet ist die Auffassung vom satten und zufriedenen Arbeitslosen, der mit seinem Wagen vorm Arbeitsamt vorfährt, frohgelaunt seine »Stütze« empfängt und sich danach wieder ins erquickende Faulenzerdasein begibt. Doch der Eindruck vom beneidenswerten Arbeitslosen, der sich wohlversorgt und ausgestattet mit allen Annehmlichkeiten ein schönes Leben mache, ist nicht nur trügerisch. Er ist falsch. »Arbeit ist schwer, keine Arbeit ist die Hölle«, lässt der Regisseur Katja Mann im Fernsehfilm »Das Geheimnis der Freiheit« zu ihrem Sohn Golo sagen.
Trotz Pandemie und Wirtschaftskrise ist die Zahl der Arbeitslosen zuletzt kaum gestiegen. Mit 2,9 Millionen Personen – 6,3 Prozent aller Erwerbspersonen – war sie im Januar 2021 etwa genau so groß wie im Juli des Vorjahres. Immerhin aber über eine Million höher als Ende 1980 und um 475.000 höher als im Vorjahresmonat Januar. Die Krise hat Spuren auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen. Aber weshalb scheinbar so schwache? Weil die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen die Lage beschönigt. Die Statistik erfasst jene Arbeitslosen nicht, die sich bei den Behörden nicht mehr melden – keine Chancen auf eine Vermittlung, kein Anspruch auf Leistungen, haben sie sich entmutigt aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen. Auch Arbeitssuchende in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Umschulungen sowie 1-Euro-Jobber tauchen in keiner Arbeitslosenstatistik auf. Wie alle Personen, die älter sind als 58 Jahre, mindestens 12 Monate Arbeitslosengeld II – Hartz IV – bezogen und in dieser Zeit keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angeboten bekommen haben. Zusätzlich streicht die Bundesagentur für Arbeit alle aus der Statistik, die sich weigern, eine, wie es heißt, »zumutbare Beschäftigung« anzunehmen. Millionen Menschen sind von solcher »versteckten« Arbeitslosigkeit betroffen. Darunter die, die sich in Kurzarbeit befinden. »Kurzarbeit Null« – das ist Arbeitsausfall total. Wie der offiziell registrierte Arbeitslose ist der »Kurzarbeiter Null« zum Nichtstun verdammt. Er erhält Kurzarbeitergeld, gegenwärtig maximal 24 Monate, statt Arbeitslosengeld. Etwa 60 Prozent des Nettolohns. Im Frühjahr 2020 ersetzte die Bundesagentur für Arbeit den Unternehmern für sechs Millionen Menschen, so viel wie noch nie, das Kurzarbeitergeld. Bis Oktober ging die Zahl zurück, danach nahm sie wieder zu. Nach Schätzungen des ifo-Instituts ist die Kurzarbeit bis Januar 2021 wieder um 20 Prozent gestiegen. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit ist also millionenfach höher als die von den Ämtern ausgewiesene, berücksichtigt man ihre verdeckten Arten.
Ob offiziell oder inoffiziell, verdeckt oder offen – die Wirkungen der Arbeitslosigkeit sind verheerend. Wären enorme Einkommenseinbußen und Armut ihre einzige Folge, wäre das schlimm genug. Aber die menschliche Tragödie ist weit größer. Sie beginnt mit Selbstzweifeln, der großen Angst vor der unsicheren Zukunft, mit Resignation. Ohnmacht lähmt jene, die arbeiten wollen und nicht dürfen. Sie fühlen sich verloren und überflüssig. Dagegen helfen weder Arbeitslosengeld noch diverse Fortbildungen. Hunderte von Studien belegen, dass Arbeitslose stärker unter seelischen Belastungen leiden als Erwerbstätige. Aus einer Studie des Robert-Koch-Instituts geht hervor, dass der Gesundheitszustand der Arbeitslosen, ihrer Kinder und anderer Familienangehöriger deutlich schlechter ist als derjenigen, die arbeiten. Sie fühlen sich nicht mehr gebraucht, empfinden sich als wertlos und von der Gesellschaft verstoßen. Soziale Kontakte schwinden, gewöhnlich zuerst die zu den ehemaligen Kollegen. Persönlichkeit zersetzende Wirkungen, psychische und physische Krankheiten nehmen zu. Was wird aus dem kleinen Mann in den großen Erschütterungen der Welt, fragt Hans Fallada in »Kleiner Mann – was nun?« Viele kennen die Geschichte des Berliner Kleinbürgers in der großen Weltwirtschaftskrise, die nach dem »schwarzen Freitag« im Oktober 1929 an der New Yorker Börse ausbrach und jahrelang die ganze kapitalistische Welt im Fieber hielt. Es ist eine Geschichte zwischen der Angst, keine Arbeit zu finden und der Angst, sie wieder zu verlieren. Der Dichter zeigt den Arbeitslosen in seiner Verzweiflung, aber auch in der Hoffnung, ohne die er nicht weiterleben kann.
Auch im »modernen« Kapitalismus des 21. Jahrhunderts empfinden Menschen eine eigenartige Scham. Vielen Arbeitslosen fällt es schwer, Freunden und Bekannten, selbst Verwandten und dem Ehepartner zu erzählen, dass sie entlassen worden sind. Arbeitslose bringen längere Zeit im Krankenhaus zu als Berufstätige. Das betrifft alle Krankheiten. Die mit Abstand deutlichsten Unterschiede zeigen sich hinsichtlich stationärer Aufenthalte wegen psychischer Störungen: Arbeitslose Männer verbringen nahezu siebenmal mehr Tage mit einer entsprechenden Diagnose im Krankenhaus als Nicht-Arbeitslose, ermittelte das Robert-Koch-Institut. Arbeitslose gleiten ab in soziales, psychisches und familiäres Fehlverhalten. Familienzwist, Scheidungen, Alkoholmissbrauch, Verbrechen begleiten den Verlust an Selbstwertgefühl. Für arbeitslose Jugendliche bestehen im Vergleich zu den Erwerbstätigen gleichen Alters signifikant höhere Risiken, drogenabhängig zu werden. Die Gefahr ist besonders hoch bei männlichen Jugendlichen, bei denen, die sehr lange arbeitslos sind und bei Kindern und Jugendlichen arbeitsloser Eltern.
Das Vertrauen in die eigene Fähigkeit schwindet, Selbsthass, Angstgefühle, Minderwertigkeitsgefühle, Depressionen stellen sich ein. Und Arbeitslosigkeit bringt viele der von ihr Betroffenen früh ins Grab. Die Sterblichkeit, Selbstmorde und Morde, die Aufnahme in Gefängnisse und psychiatrische Kliniken – sie sind bei Arbeitslosen höher als bei Arbeitstätigen. Arbeitslosigkeit ist eine mörderische, soziale Krankheit. Hunderttausende sterben durch den sozialen Stress, den sie auslöst. Arbeitslose befinden sich in einem beängstigenden Kreislauf. Gesundheitlich Labile werden zuerst gefeuert. Sind sie ohne Arbeit, verschlimmern sich die gesundheitlichen Schäden und neue kommen hinzu. Durch das Sieb der Einstellungsuntersuchungen kommen vorwiegend gesunde Arbeiter. Die Darwinsche »natürliche Auslese« wird von den Kapitalisten gnadenlos praktiziert. Schon Engels schrieb in seiner »Dialektik der Natur«, dass die Auffassung der Geschichte als eine Reihe von Klassenkämpfen viel inhaltsvoller und tiefer sei als die »magre und einseitige Phrase vom Kampf ums Dasein« (MEW 20: 565 f.). Wahr ist, dass jene, die gesundheitlich angeschlagen sind, immer wieder ins Arbeitslosendasein gestoßen werden. Das ist kein Naturgesetz, sondern gesellschaftlich bedingt. Hunderttausende verzichten aus Angst um ihren Arbeitsplatz auf eine notwendige Kur und verheimlichen, dass sie krank sind. Aus Angst, als »Krankfeierer« denunziert zu werden, scheuen viele den Gang zum Arzt. Kraftfahrer Karl Maiwald in Max von der Grüns »Stellenweise Glatteis« erhält von der Betriebsleitung ein Schreiben, in dem ihm unterstellt wird, er habe nicht wegen seiner Abszesse krankgemacht, sondern weil ihm die zugeteilten Fahrten nicht zusagten. Solche Briefe wurden an alle verschickt, die innerhalb von zwölf Monaten dreimal erkrankten. »Viele ließen sich dadurch so einschüchtern, dass sie schon wieder arbeiteten, bevor sie gesund waren, es kam vor, dass Fahrer mit Fieber am Steuer saßen.«
Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) ermittelte, dass immer mehr Menschen krank zur Arbeit gehen. Etwa die Hälfte der Befragten habe angegeben, sich mindestens einmal im Jahr krank zur Arbeit geschleppt zu haben. Sie wollten im harten Konkurrenzkampf um die Arbeitsplätze nicht als Blaumacher dastehen (junge Welt v. 30.01.2020). Viele Arbeitslose, arme und kranke Menschen müssten nicht früh sterben, gäbe es diese Angst nicht und erhielten sie die Vergünstigungen und bevorzugten Behandlungen, die Betuchte für sich in Anspruch nehmen. Die makabre Wahrheit, die noch immer gilt: Weil du arm bist, musst du früher sterben.