Mitte der siebziger Jahre gab es in Unna eine denkwürdige Lesung aus dem wohl besten Buch, das der »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« in seiner damals stark beachteten Fischer-Taschenbuchreihe herausgegeben hat. »Der rote Großvater erzählt« hieß dieses Buch und vereinigte Geschichten von Siegen und Niederlagen der Arbeiterbewegung, dargestellt an Einzelschicksalen.
Gleich drei Autoren dieses Bandes lasen ihre Geschichte in Unna vor. Da war zuerst Bruno Gluchowski, wichtiger Autor der »Dortmunder Gruppe 61«, dessen Romane »Blutiger Stahl« und »Der Honigkotten« nicht empfohlen werden müssten, wenn im Literaturbetrieb Bücher über die Arbeitswelt nur ein wenig Beachtung fänden. Gluchowski las seine Geschichte »Der Fliederbusch bleibt rot«, in der sich 1932 eine Arbeitersiedlung in Dortmund erfolgreich gegen eine Demonstration der Nazis zur Wehr setzte. Möglich war der Erfolg durch die Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten. Weil sie aber lokal begrenzt blieb und vor allem nicht für die Vorstände beider Parteien in Berlin galt, siegten die Nazis 1933 dann doch.
Der zweite war Paul Polte, der seinen Text über die Zusammenarbeit mit dem Brechtfreund Tombrock und seinen Widerstand gegen die Nazis vorlas, und der dritte war Anton Kalt. Bei diesem Namen wird auch ein Kenner der westfälischen Literatur stutzen. Anton Kalt, wer ist das denn? Er war ein Autor, der zwei Bücher geschrieben hat, von denen leider nur eines veröffentlicht wurde. Zusätzlich hat er Agitprop-Stücke für sein eigenes Kaspertheater und für Arbeiter-Varietés geschrieben, vor allem aber war Anton Kalt ein unglaublich beeindruckender Mensch, den niemand, der ihn je gekannt hat, vergessen wird.
Anton Kalt las einen Text vor, in dem er seine Beteiligung als Meldereiter bei der »Roten-Ruhrarmee« schilderte. 1920 hatten reaktionäre Kräfte gegen die junge Weimarer Republik geputscht. Kapp-Lüttwitz-Putsch heißt er nach seinen beiden treibenden Kräften, dem Bankdirektor Kapp und dem Befehlshaber von Ost- und Mitteldeutschland, General von Lüttwitz. Und weil den Arbeitern sofort klar war, dass das Ziel dieses Putsches die Abschaffung der sozialen Errungenschaften der jungen Republik war, kam es zum Generalstreik, der den Kapp-Lüttwitz-Putsch nach wenigen Tagen zu Fall brachte. Im Ruhrgebiet genügte den Arbeitern der Generalstreik nicht, sie bewaffneten sich und gingen mit Gewalt gegen die Putschtruppen vor. Hans Kalt, Antons Bruder, befehligte eine Abteilung der Roten-Ruhrarmee, die bei Schwerte und Wetter gegen die Putschtruppen Lichtschlag kämpften. Durch Aplerbeck wollten die Lichtschlag-Truppen nach Wetter ziehen, um dort anderen in Bedrängnis geratenen Putschtruppen zu Hilfe zu eilen. Hans Kalts Abteilung schnitt ihnen den Weg ab, die Lichtschlag-Truppe musste zurückweichen, biwakierte in der Nähe der Heilanstalt und wurde dort endgültig besiegt. Über 200 Gefangene machte die Rote-Ruhrarmee in Aplerbeck.
Die Kalt-Brüder waren Mitglied in der KPD, sie waren darin ihrem Vater gefolgt, der 1919, enttäuscht von der Kaisertreue der SPD, im 1. Weltkrieg, die Aplerbecker Ortsgruppe der KPD gegründet hatte. Kein Wunder, dass sie sich sofort der »Roten-Ruhrarmee« anschlossen. Anton sorgte als Meldereiter für die Verbindung zwischen den Truppenteilen. Sein Pferd stammte übrigens aus den beschlagnahmten Beständen der Lichtschlag-Truppen, was in einer Episode noch mal eine Rolle spielen sollte. Als der Putsch gescheitert war, kam es zum Bielefelder Abkommen, nach dem die Arbeiter ihre Waffen abgeben sollten. Die besiegten Putschtruppen selbst aber hielten sich nicht an den Frieden, sondern begannen, ihre jetzt unbewaffneten Gegner gnadenlos zu verfolgen. Den Kalt-Brüdern blieb nichts anderes übrig, als unterzutauchen.
Danach begann die Zeit, in der die Kalt-Brüder sich in der kommunistischen Kulturbewegung engagierten. Hans gründete eine Kabarett-Gruppe, die in ihren Programmen genau die Parteilinie vertrat. Anton spielte bei KPD-Festen Geige oder Gitarre und trat mit eigenen Kasperletheater-Programmen auf. Ernst Thälmann, KPD-Vorsitzender und Freund der beiden, hatte sie darin bestärkt, auf diese Weise die Parteiarbeit zu unterstützen. Natürlich sind sie nach der Machtwergreifung der Nazis in die berüchtigte Steinwache der Gestapo gebracht, die – am Nordausgang des Bahnhofs gelegen – heute eine Gedenkstätte ist, und anschließend ins KZ Esterwege verschleppt worden. Sie überlebten es, kamen am Ende des Krieges nach Hause. und jetzt war es Anton Kalt, der sein Heimatstädtchen Aplerbeck vor der Zerstörung rettete. Er kletterte auf das Kirchdach und hängte dort oben eine weiße Fahne auf, dann radelte er zur amerikanischen Kommandantur nach Sölde und brachte es fertig, dass nicht mehr auf Aplerbeck geschossen wurde. Sechs Wochen lang war er danach Bürgermeister von Aplerbeck, dann kamen die Engländer und setzten den Kommunisten ab.
Es war eine runde Geschichte, die Anton Kalt da vorlas und in der er, trotz Verfolgung und Lebensgefahr, immer auch die komischen Aspekte seiner Erlebnisse sah und betonte. Zum Schrecken über die Erlebnisse kam bei seinen Zuhörern deshalb immer gleich die Erleichterung durch Lachen. Typisch für ihn.
Nach dem Krieg wurde der frühere Bergmann Anton Kalt als Retter von Aplerbeck in die Dortmunder Stadtverwaltung aufgenommen. 20 Jahre lang war er Leiter des Fuhrparks, und als ihn nach dem KPD-Verbot 1956 sein Chef, Dortmunds Oberstadtdirektor Hansmann, ansprach, ob er nicht in die SPD eintreten wolle, er sei doch schließlich genauso wie sein Bruder ein politischer Mensch, da lehnte Anton Kalt höflich ab. Nein, er wollte seiner Gesinnung treu bleiben, sagte er, worauf Hansmann antwortete: »Jüngsken, hättest du was anderes gesagt, wärst du bei mir unten durch gewesen. Oder soll sich dein ehrlicher Vater im Grab rumdrehn?«
1962 erschien sein einziges Buch, »Hasenkuckuck«, in der Krügerschen Verlagsbuchhandlung. Inzwischen gibt es beide Krügerabteilungen nicht mehr, den kleinen Dortmunder Verlag und die große Buchhandlung, so dass Kalts Buch nicht mehr zu haben ist und – noch schlimmer – auch wenig Aussichten hat, noch einmal irgendwo aufgelegt zu werden. Verdient hätte es das Buch auf jeden Fall, denn es schildert, mit deutlich autobiografischen Zügen, das Leben eines Aplerbecker Bergmanns, der als Kleinkind zwei Tiere nicht unterscheiden kann und deshalb immer vom »Hasenkuckuck« redet, worauf er denn auch seinen Spitznamen hat.
Der Reiz des Buches liegt aber weniger im Thema als vielmehr in der humorvollen, besser derb-komischen Art, in der es erzählt wird. Es enthält bei der Gestaltung von Hasenkuckucks Lebenslauf herrlich komische, deftige Anekdoten und das alles, ohne die Realität des Lebens zu verschweigen.
Bei Hasenkuckucks Geburt zum Beispiel ist sein Vater schon sechs Wochen tot, verunglückt auf der Zeche. Die Betroffenheit beim Leser wird aber gleich durch die hilflos-komische Art ergänzt, wie Arbeitskollege Ernst Sauerbein der hochschwangeren Witwe diese Nachricht, nach quälenden Überlegungen während des Weges, mitteilt: »Guden Morgen, ick sall ink grüßen van inke Mann und hei wör daut.« Man kann gar nicht anders, als trotz der traurigen Situation zu lachen.
Nichts in »Hasenkuckuck« ist völlig frei erfunden. Viele skurrile Geschichten haben Anton Kalts Leben immer begleitet. Sogar bei seiner Tätigkeit als Meldereiter war das so. Als er zu einem liegengebliebenen Lastwagen mit Waffen reiten sollte, musste er eine Kutsche überholen, die von einer rossigen Stute gezogen wurde. Es ging um die lebenswichtige Sicherung des Lastwagens, die darüber mitentschied, ob die Schlacht gegen die Lichtschlag-Truppen gewonnen wurde oder nicht, da bedrängte Anton Kalts Hengst die Stute. Immer wieder sprang er auf die Deichsel der Kutsche, Kalt konnte sich nur mit Mühe auf dem Hengst halten, und erst als irgendwo in der Ferne ein Schuss ertönte, erinnerte sich der Gaul an seine militärische Erziehung. Augenblicklich ließ er von Kutsche und Stute ab, und der Lastwagen mitsamt Waffen konnte gesichert werden. Leben und Literatur, bei Anton gingen sie stets eine komische Verbindung ein.
Der Bericht über Anton Kalts literarisches Schaffen muss trotzdem mit einem traurigen Faktum enden. Kalt hatte eine Fortsetzung von Hasenkuckuck geschrieben, aber weil die Krügersche Verlagsbuchhandlung schon damals aufgelöst war, hatte er keinen Verlag dafür gefunden. So blieb das Manuskript in der Schublade liegen, und als Anton Kalt um 1980 herum starb, stellte seine Familie betroffen fest, dass es niemand gab, der seine Handschrift entziffern konnte. Für einen Graphologen hatten sie kein Geld, so ist dieser Band leider verloren gegangen. Anton Kalt würde das einerseits traurig, aber irgendwie auch komisch finden.