Der 1. März eines jeden Jahres galt in der Deutschen Demokratischen Republik bis 1990 als »Tag der Nationalen Volksarmee«. Dieses Datum, aus der Vor- und Entstehungshistorie beider deutscher Staaten betrachtet, bringt öffentlich Verdrängtes in der Bonner und Berliner Politik zum Vorschein.
Der Weg zum föderalen deutschen Bundesstaat im Westen wurde ohne die UdSSR bereits 1947 per Beschluss der Westalliierten bestimmt. Erst nach deren Einverständnis trat das Grundgesetz in Kraft. Im Text von 1949 stand nichts über Wiederbewaffnung, Militär oder Aufrüstung. Erst mit der Gründung der Bundeswehr wurde 1955 der Artikel 12a hinzugefügt.
Die USA, Großbritannien und Frankreich behielten sich als Besatzungsmächte in Bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin Sonderrechte vor. Die UdSSR hingegen betonte 1954 in ihrer Erklärung über die Souveränität der DDR »die Funktionen, die (…) sich aus den Verpflichtungen ergeben, die aus den Vier-mächteabkommen erwachsen«. Ihre volle Souveränität erhielten beide deutsche Staaten jedoch erst 1990 nach Abschluss des 2-plus-4-Vertrages.
Die Bundesrepublik unter und nach Adenauer sah sich über Jahrzehnte als privilegiert an, allein für Deutschland als Ganzes zu sprechen. Der DDR wurde jede demokratische Legitimität abgesprochen und deren westliche Staatsgrenze als »innerdeutsche Grenze« instrumentalisiert. Dass es sich um eine höchst brisante Trennlinie zwischen zwei konträren politischen und militärischen Bündnissen handelte, wurde – den Zweck heiligend – negiert. Alle Gesprächs- und Verhandlungsvorschläge des Ostens, hier besonders die Stalin-Note von 1952, wurden abgelehnt. Selbst nach dem Grundlagenvertrag zwischen beiden Staaten 1972 und beider UNO-Mitgliedschaft sowie auch nach der Konferenz von Helsinki 1975 und dem Besuch Honeckers in Bonn blieb es bei der Fiktion »innerdeutsch«.
Listenreich wie eifrig offerierte Adenauer den Westalliierten die Wiederbewaffnung: gebührend antisowjetisch vernebelt, eine vertiefte Spaltung Nachkriegsdeutschlands billigend in Kauf nehmend. Noch 1949 hatte er nach der Gründung der NATO wörtlich gesagt: »Die Bundesregierung erklärt ihre feste Entschlossenheit, die Entmilitarisierung des Bundesgebietes aufrechtzuerhalten und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Neubildung eigener Militärstreitkräfte zu verhindern.«
Seinem Leitspruch »Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?« treu bleibend, betrieb er am Kabinett vorbei längst die Remilitarisierung. Willige und geschätzte Helfer waren hochrangige Generale Hitlers wie Franz Halder, Reinhard Gehlen, Adolf Heusinger, Hans Speidel, Heinz Trettner und zig andere. Offiziell gilt seither der 12. November 1955 als Gründungstag der Bundeswehr.
Erstes Todesopfer der Remilitarisierung war der 21jährige Student und Kommunist Philipp Müller. Er starb am 11. Mai 1954 in Essen, als die Polizei auf eine Demonstration gegen die Wiederbewaffnung schoss. Es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Demonstrant durch die Polizei getötet wurde.
Im Januar 1956 folgte logischerweise auch in der DDR die offizielle Gründung regulärer Streitkräfte. Ein am Rhein provokant kalkulierter Kollateralschaden mit Langzeitwirkung. Somit dürfte die Nationale Volksarmee (NVA) ausgerechnet Adenauer zu ihren Geburtshelfern rechnen.
2019 erschien bei Rowohlt der erhellende Titel »Republik der Angst – eine andere Geschichte der Bundesrepublik« aus der Feder von Frank Riess. Hier ist zu lesen: »Der Antikommunismus war tief in der katholischen Weltanschauung von Bundeskanzler Konrad Adenauer verankert.« Sein Credo: Deutschland und Europa bleiben christlich oder werden kommunistisch werden. Für ihn war ein neutrales Deutschland zwischen Ost und West der politische Albtraum schlechthin. Staatsprägender Antikommunismus und Antibolschewismus stellten die Weichen – in Vergangenheit wie Gegenwart.
Seit 1990 sonnt sich die Bundesrepublik mit dem »Beitritt« des ungeliebten anderen deutschen Staates im Glanz eines Siegers. Unwahrheiten, historische Verdrehungen und hämische, abschätzige Wortwahl setzen bis in die Gegenwart den vormaligen Kalten Krieg in Politik, Medien und Geschichtsschreibung mit anderen Mitteln fort. Bundespräsident Köhler präsentierte Leipziger Gerüchte über NVA-Panzer und Leichensäcke als Wahrheit. Der ehemalige Pastor Gauck verordnete »unserer glücksüchtigen Gesellschaft« beim Antrittsbesuch als Bundespräsident an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg gar wieder, Gefallene zu ertragen und Krieg als Mittel der deutschen Politik zu akzeptieren.
Bei Matthäus 26, 52 heißt es zwar: »Da sprach Jesus zu ihm; Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.« Die Bibel legt der »Antikommunist von Gottes Gnaden« (so Der Tagesspiegel am 7. Juni 2010 zu Gauck) nach seinem Ratschluss aus. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Im Kontext durfte deshalb die Bemerkung nicht fehlen, dass die NVA »die ›Volksarmee‹ hieß, und es nicht war«.
Bevor sich die Einheitsjubelorgien zum ersten Male jährten, gab Justizminister Klaus Kinkel, zum FDP-Liberalen mutierter Ex-Geheimdienstchef des BND, auf dem 15. Deutschen Richtertag am 23. September 1991 die Richtung vor: »Sie, meine Damen und Herren, haben als Richter und Staatsanwälte bei dem, was noch auf uns zukommt, eine ganz besondere Aufgabe (…): Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es (…) einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland. (…) Politische Straftaten in der früheren DDR dürfen nicht verjähren. Die Entscheidung darüber liegt allein bei den Gerichten (…). Der Gesetzgeber kann aus rechtsstaatlichen Gründen wegen des Problems der Rückwirkung nicht tätig werden.«
Welcher Staatsanwalt oder Richter hätte es bei Strafe eines Karriereknicks gewagt, die Lex Kinkel nicht zu befolgen? Rechtsstaat nach Gutsherrenart. Die Urteile der Schauprozesse offenbaren schlichte Unkenntnis des DDR-Rechts sowie konstruierte Interpretationen mit reichlichen falls, hätte und könnte. Der nahezu gleiche Text zum Waffeneinsatz in den »Schießbefehlen« beider Staaten wurde entsprechend uminterpretiert (vgl. Erich Buchholz: »Der dritte Akt der Totalliquidierung – Rechtsbrüche und Unrechtsurteile am laufenden Band«, GNN-Verlag Schkeuditz, 2012).
Die Beteiligung des Hitler-Generalstäblers Heusinger an den Blitzkriegsplanungen und deren Umsetzung gegen Polen, Norwegen, Dänemark und die UdSSR blieb juristisch ungesühnt. Ein UdSSR-Auslieferungsantrag an die USA wurde abgelehnt. Er avancierte gar zum ersten Generalinspekteur der Bundeswehr sowie von 1961 bis 1964 zum Vorsitzenden des Militärausschusses der NATO in Washington D.C. und war Mitinitiator der ab 1967 angewandten NATO-Atomstrategie. Sie wird als Vorwärtsstrategie nach wie vor mit der militärischen Einkreisung der Russischen Föderation umgesetzt. Seit 4. August 1967 erhält jährlich ein Teilnehmer des Generalstabslehrgangs an der Führungsakademie der Bundeswehr für hervorragende Leistungen den General-Heusinger-Preis. Also steht, entgegen anderslautender Behauptungen, die Bundeswehr weiterhin in der Tradition der in Kriegsverbrechen involvierten Wehrmacht.
Bei der Nationalen Volksarmee konnte bei Licht betrachtet unter solchem Aspekt niemals Milde walten. Allein das Spitzenpersonal, die Verteidigungsminister, war nie ebenbürtig: Willi Stoph, Maurer und Unteroffizier; Heinz Hoffmann, Spanienkämpfer und Sowjetfreund; Heinz Keßler, gar Deserteur; Theodor Hoffmann, Sohn eines Pferdeknechts und Matrose der »Zonen«-Seepolizei.
Europa durfte sich bis zur Mitternacht des 2. Oktober 1990 seiner längsten Friedensperiode erfreuen, zu der die Deutsche Demokratische Republik ihren Teil beitrug. Seither »befriedete« die Neu-Bundesrepublik Ex-Jugoslawien und »verteidigt« sich nicht nur am Hindukusch.
Festzuhalten bleibt: Als erste und einzige deutsche Armee war die Nationale Volksarmee an keinem Krieg beteiligt. Das war, ist und bleibt ihr historisches Verdienst und das ihrer Soldaten.