Die Rede von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier am 28.10.2022 zur Lage unseres Landes in Zeiten von Krieg und weiteren immer brisanteren internationalen Spannungen nannte die FAZ eine Blut- und Schweiß-Rede. Diese Einordnung erinnert daran, dass die Rede des britischen Premierministers Winston Churchill aus der Frühphase des Zweiten Weltkrieges als Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede in die Geschichte einging. Der Bezug zur Zeit des Zweiten Weltkrieges drückt die Dramatik aus, auf die Frank Walter Steinmeier die Bevölkerung einzustimmen beabsichtigte.
Steinmeier benutzte die Worte »Frieden« und »Friedensdividende« in seiner Rede siebenmal. Das erinnert an Bert Brechts Gedicht »Wenn die Oberen von Frieden sprechen«: »Wenn die Oberen vom Frieden reden, weiß das gemeine Volk, dass es Krieg gibt. Wenn die Oberen den Krieg verfluchen, sind die Gestellungsbefehle schon ausgeschrieben.«
Steinmeier begann seine Rede mit einem Blick zurück auf friedlichere Zeiten: »Die Jahre vor dem 24. Februar waren (…) geprägt vom Glücksmoment der Deutschen Einheit, vom friedlichen Abzug der sowjetischen Truppen, vom Ende der Blockkonfrontation und dem Zusammenwachsen Europas. Es waren Jahre der Friedensdividende, von der wir Deutsche in der Mitte des vereinten Europas reichlich profitiert haben.« Er stellt die Jahre der Nato-Osterweiterung als friedliches Zusammenwachsen dar.
Die Kritik des US-Strategen der Nato-Strategie des Kalten Krieges George F. Kennan an der Eskalation der Spannungen in Europa von Anfang 1997 macht deutlich, dass diese Darstellung Propaganda ist: Er schrieb in der New York Times: »Eine Erweiterung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg.« Sie werde »die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung anheizen« und entsprechend »negative Auswirkungen auf die Entwicklung der russischen Demokratie haben«. In der Konsequenz werde sie, »die Atmosphäre des Kalten Kriegs in die Ost-West-Beziehungen zurückbringen und die russische Außenpolitik in Richtungen treiben, die uns entschieden missfallen werden«.
Eine weitere Mär ist Frank Walter Steinmeiers Vorwurf, Russland habe am 24. Februar »die europäische Sicherheitsordnung in Schutt und Asche gelegt. In seiner imperialen Besessenheit hat der russische Präsident das Völkerrecht gebrochen, Grenzen in Frage gestellt, Landraub begangen. Der russische Angriff ist ein Angriff auf alle Lehren, die die Welt aus zwei Weltkriegen im vergangenen Jahrhundert gezogen hatte.«
Auch das ist reine Propaganda: Der Vertrag zur Deutschen Einheit von 1990 erteilt Deutschland und den Alliierten des Zweiten Weltkrieges die Aufgabe, auf eine Friedensordnung hinzuwirken, die die Sicherheitsinteressen »eines jeden Staates«, also auch die Russlands und der Ukraine, berücksichtigt.
Die von George F. Kennan kritisierte Nato-Politik hat genau das getan, was Frank Walter Steinmeier auf Russland abzuwälzen versucht. Es ist unbestritten, dass der Krieg auch in seiner beidseitigen Zerstörung ziviler Ziele Kriegs- und somit Völkerrecht bricht. Doch die Schwarz-Weiß-Darstellung einer Alleinschuld für die Katastrophe hält keiner Überprüfung stand, da dieser Krieg, wie alle, nicht ohne seine Vorgeschichte zu verstehen ist und ohne ein Verständnis der Vorgeschichte nicht zu lösen sein wird.
Bundespräsident Steinmeier kündigt zudem eine ganz neue Eskalation an, nämlich die des US-/Nato-Blocks gegenüber der Großmacht China: »Chinas wirtschaftlicher und politischer Machtanspruch ist darin ein zentraler Faktor. Dieses Ringen wird die Zukunft der internationalen Beziehungen auf lange Sicht prägen.« Was der Bundespräsident hier macht, das erinnert an ein Papier des US-Kongresses vom Januar 2022 zur Großmacht-Konkurrenz: Dort ist die Rede von einem neuen »Schwerpunkt auf China und/oder Russland, von »Nuklearwaffen, nukleare Abschreckung und nukleare Rüstungskontrolle«, von »Fähigkeiten zur Führung der sogenannten hoch-entwickelten konventionellen (nichtnuklearen) Kriegsführung«. Dieses Papier liegt der internationalen Diplomatie seit Ende Januar 2022 vor.
Bundespräsident Steinmeiers Position, die Friedensdividende sei »aufgezehrt« in einer »Epoche im Gegenwind«, setzt voraus, dass es vor dem 24.2.2022 eine solche Friedensdividende noch gegeben hatte. Das trifft genauso wenig zu, wie Steinmeiers einseitige Zuschreibung der Verantwortung für die Katastrophe auf Russland.
Er meint, die Deutschen auf militärische Konflikte vorbereiten zu müssen; er vermeidet dabei den Begriff »Krieg«, sondern spricht stattdessen von Deutschlands Verantwortung in der Nato, die eine Militärorganisation ist: »Wir müssen konfliktfähig werden, nach innen wie nach außen. Wir brauchen den Willen zur Selbstbehauptung, und wir brauchen auch die Kraft zur Selbstbeschränkung. Wir brauchen keine Kriegsmentalität – aber wir brauchen Widerstandsgeist und Widerstandskraft! Dazu gehört zuallererst eine starke und gut ausgestattete Bundeswehr – aber die Bundeswehr braucht auch eine Gesellschaft, die ihr den Rücken stärkt. (…) Die Welt seit dem Epochenbruch ist eine andere – und das bedeutet, dass wir von alten Denkmustern und Hoffnungen Abschied nehmen müssen. Das gilt ganz besonders für unseren Blick auf Russland. (…) Unsere Länder stehen heute gegeneinander.«
Die Nato ignorierte die Warnungen westlicher Experten wie George F. Kennan und ging das Risiko eines großen Krieges wissentlich ein: Der Guardian schrieb am 28.02.2022: »Viele sagten voraus, dass die Erweiterung der Nato in einem Krieg münden würde. Diese Warnungen wurden ignoriert.« Übersetzung aus dem Text: »Russlands Militäroffensive gegen die Ukraine ist ein Akt der Aggression (…). Der neue kalte Krieg des Westens mit Russland ist heiß geworden. Wladimir Putin trägt die Hauptverantwortung für diese jüngste Entwicklung, aber auch die arrogante, rücksichtslose Politik der Nato gegenüber Russland während des letzten Vierteljahrhunderts hat daran einen schwergewichtigen Anteil. Analysten warnen seit mehr als einem Vierteljahrhundert davor, dass eine weitere Ausweitung des mächtigsten Militärbündnisses der Geschichte auf eine andere Großmacht nicht gut ausgehen würde. Der Krieg in der Ukraine bestätigt das endgültig.« Insofern ist Bundespräsident Steinmeiers Darstellung, Russlands Krieg sei »ein Angriff auf das Recht, auf die Prinzipien von Gewaltverzicht und unverletzlicher Grenzen, (…) ein Angriff auf alles, wofür auch wir Deutsche stehen«, ein durchsichtiger Versuch, die Nato von ihrer Eskalationspolitik weißzuwaschen.
Des Bundespräsidenten Einstimmung auf bittere Zeiten der Entbehrungen bei gleichzeitiger Steigerung der Hochrüstung appelliert an den Urinstinkt des Menschen, sich gegen Gefahr zu verteidigen: »Wir leben eben nicht in einer idealen Welt, wir leben im Konflikt. Und dafür brauchen wir Konfliktinstrumente. Und ja, Sanktionen haben Kosten, auch für uns. (…) Es ist doch unser Interesse, dass wir uns mit unseren Partnern Russlands Rechtsbruch entgegenstemmen.«
Die Dämonisierung Russlands als Element der Schwarz-Weiß-Propaganda sieht den guten Willen im Westen und das Böse im Osten: »Einige glauben, es fehle an ernsthaften Bemühungen unsererseits, ja, gar an Bereitschaft zum Verhandeln. Ich kann Ihnen versichern: Niemandem, der bei Sinnen ist, fehlt der Wille. Aber die Wahrheit ist: Im Angesicht des Bösen reicht eben guter Wille nicht aus.«
Im Gegensatz dazu stehen die Fakten vor dem Kriegsbeginn am 24.2.2022: Russland forderte von der Nato und von den USA Sicherheitsgarantien, die der Idee der gemeinsamen Sicherheit nach der KSZE-Schlussakte von 1975 und der Charta von Paris von 1990 entsprachen. Die Nato wies diese Anforderungen prompt zurück, unter anderem mit der Formulierung, dass Russland keinen Einfluss auf die Frage habe, wer ihr beitritt. Das ist ein flagranter Widerspruch zur Friedensordnung der gemeinsamen Sicherheit.
Kriegspropaganda spielt immer die nationale Karte, so auch hier: Frank Walter Steinmeier erklärt, es sei »für uns Deutsche eine Zerreißprobe. Der Gegenwind bläst tief hinein in unser Land. Die neue Zeit fordert uns heraus wie lange nicht.«
An der Stelle erwähnt der Bundespräsident zwar das Erfordernis der Ökologie, wohl um Bündnisgrüne für seine Strategie zu gewinnen: »Ohne den Kampf gegen den Klimawandel ist alles nichts.« Aber dann kommt der Bundespräsident auf die Deutschen zurück: »Reich und Arm, Jung und Alt, Stadt und Land: Verbindungen stärken, über Generationen und vor allen Dingen Lebenswelten hinweg – darum geht es mir jetzt. (…) Ja, wir werden durch eine Zeit der Belastungen und der Unsicherheiten gehen, bevor wir neue Sicherheiten und wieder ganz festen Grund unter den Füßen haben. Ich wünsche mir, dass wir uns bei all den Mühen nicht aus den Augen verlieren, dass wir unsere Kraft jetzt nicht im täglichen Gegeneinander vergeuden. (…) Wir bewahren unsere Freiheit, unsere Demokratie. Wir machen Deutschland zu einer neuen Industrienation – technologisch führend, klimaverantwortlich, in der Mitte Europas. Vernetzt, aber weniger verwundbar. Wehrhaft, aber nicht kriegerisch.«
Frank Walter Steinmeier zeichnet in seiner Rede ein bei Nationalisten idealisiertes Bild eines einheitlichen Deutschlands. Er übergeht dabei, wie einst Kaiser Wilhelm in seiner Rede zum Ersten Weltkrieg, in der er nur noch Deutsche und keine Parteien mehr kannte, Realitäten der sozialen Ungerechtigkeiten, die einen sozialen Sprengstoff darstellen, den keine Rede aus der Welt schaffen kann.