Das erste Opfer eines Krieges, auch des gegenwärtigen, ist bekanntlich die Wahrheit. Die Protagonisten beider Seiten schönen die Berichte, die wahre Situation wird ständig verschleiert und ist selbst sogenannten Experten allenfalls teilweise bekannt. Das offizielle Ziel besteht anscheinend in der möglichst langen Fortführung des Krieges, bis eine Seite »gewonnen« hat, wenn man bei dem in jedem Krieg zu erwartenden Ausmaß an Zerstörung von »gewinnen« sprechen kann. Kritik am Krieg wird entweder verboten oder massiv eingeschränkt. Dies hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gerade wieder in einer Rede zum 3.10.2022 deutlich gemacht: In einer Demokratie könne es zwar ein gewisses Maß an Debatte geben, doch dann müsse man im Sinne des »großen Ganzen« geschlossen auftreten. Nur so könne man einem Feind, der bewusst mit Falschinformationen arbeite, widerstehen. Und nur so könne man dafür sorgen, dass die Kritik am Krieg im eigenen Land nicht »instrumentalisiert« werde.
In Wahrheit ist dies ein Freibrief für das Abwürgen von Kritik, ein Vorgang, der in einer Situation von existenzieller Bedeutung unakzeptabel ist. Verteidigt wird diese Einschränkung durch die Formel der »wehrhaften Demokratie«. Doch zur Demokratie gehört gerade die Meinungsfreiheit, die eben nicht dadurch geschützt wird, dass man sie einschränkt. Dabei stellt sich die Frage, ob überhaupt die Bereitschaft besteht, auf breiter Front gegen die derzeitige Katastrophenpolitik vorzugehen. Das Trommelfeuer der Medien, die Dämonisierung des Gegners, die Fokussierung auf das Militärische zeigen Wirkung.
Vieles erinnert an die Situation von 1914, von der später Schönredner und Weißwäscher in fahrlässiger Verharmlosung behaupteten, man sei in sie und den anschließenden Weltkrieg »hineingeschlittert«; angebliche »Schlafwandler« hätten uns, eigentlich unbeabsichtigt, an den Abgrund einer bis dahin unvorstellbaren Zerstörung geleitet. Doch nichts könnte irreführender sein als eine solche Sichtweise: In Wahrheit handelte es sich um jeweils einzelne Schritte, die gelegentlich rational erscheinen mochten, letztlich aber von einer hazardeurhaften Strategie zeugen. Das Destruktive des Krieges trat zwar immer deutlicher hervor, es gewann aber eine kaum noch zu bremsende Eigendynamik. Über die wahren Hintergründe und zugrundeliegenden Interessen des Krieges wurde damals (wie selbst heute noch oder wieder) geschwiegen. Im Fall des Ersten Weltkriegs dauerte es nahezu fünfzig Jahre, bis Fritz Fischers »Griff nach der Weltmacht« sie aufdeckte. Doch dies scheint mittlerweile wieder vergessen – oder es fällt einer revisionistischen Darstellung zum Opfer. Man hat den Eindruck, dass weder Interesse an einer kritischen Sicht der Vergangenheit noch an einer Verhinderung neuer Katastrophen besteht.
Tatsächlich deutet auch in diesen Wochen alles darauf hin, dass sich die (direkten oder verdeckt beteiligten) Kriegsparteien auf einen Abgrund zubewegen. Die Eskalation schiebt man auf den Gegner, der einem keine Wahl lasse, als mit einer weiteren Eskalation zu antworten. Worauf dies hinausläuft, ist abzusehen. Und doch regt sich bislang nur begrenzter Widerstand. Ein Grund dafür ist sicher, dass das Bewusstsein der Bevölkerung, einschließlich jener Kreise, die an konkreten Informationen interessiert sind, seit Jahren mit Phrasen und irreführenden Begriffen geradezu zugemüllt wurde. Die Kriege in Jugoslawien waren ein Vorspiel. Der schamlose Bezug auf Auschwitz anlässlich des völkerrechtswidrigen Angriffs auf Serbien stieß nicht auf die klare Verurteilung, die er verdient hatte. Der Afghanistankrieg wurde unter anderen damit gerechtfertigt, dass »unsere Freiheit am Hindukusch« verteidigt werde. Andere Kriege fanden zwar wegen der Weltwirtschaftskrise von 2007/2008 weniger Aufmerksamkeit, doch setzten sehr bald konzertierte Angriffe auf herkömmliche, durch Forschung abgesicherte Darstellungen der europäischen Geschichte ein. Beeinflusst namentlich von osteuropäischen (aber auch amerikanischen) Sichtweisen, brachte man sich spätestens 2019 in Stellung gegen Russland, dem man ein totalitäres Regime in der Tradition Stalins bescheinigte. Von den Opfern der Sowjetunion, die jahrelang einem bewusst so genannten und geführten Vernichtungskrieg widerstanden hatte, war kaum noch die Rede.
Für die deutsche Seite hatte eine solche Sicht der Dinge den Vorteil, dass die Aussicht bestand, sich endlich von diesem Teil der Geschichte befreien zu können. Auffällig ist dabei, dass gar nicht mehr zwischen der damaligen Sowjetunion und der Russischen Föderation nach 1991 unterschieden wird, so dass antikommunistische wie russophobe Vorurteile und Feindbilder tradiert werden können. Nach Jahren einer grassierenden Geschichtsamnesie hatte also eine Phase des Geschichtsrevisionismus eingesetzt, der einen Kurs begünstigte, der Russland isoliert und vormalige Teile – wie die baltischen Staaten oder die Ukraine – zu seinen Verbündeten macht. Fragt man Historiker oder Historikerinnen, wie man diesem Kurs auf bewusste Verzerrung und politischer Instrumentalisierung begegnen könne, schütteln sie meist den Kopf. Fast alle sehen sich isoliert und veranschlagen die Chancen, die geschichtliche Wahrheit zu Gehör zu bringen, als gering. Die Mainstreammedien drucken nur das, was ihnen genehm ist, und das ist zurzeit ein »alternativloser« Kriegskurs gegen einen totalitären, antiwestlichen, autokratischen Feind.
Die in der Öffentlichkeit zirkulierenden Begriffe stoßen ebenfalls auf wenig Opposition, obwohl sie längst Ausmaße wie in George Orwells »1984« angenommen haben. Man denke an einen Begriff wie »Sondervermögen«. Wer immer sich diesen Begriff ausgedacht hat, wollte vermutlich aus historischen wie taktischen Gründen den Begriff Kriegskredite vermeiden. Dabei ist das angebliche Sondervermögen natürlich kein (Geld-)Vermögen, das den Menschen zugutekommen könnte, sondern es sind Kredite, also Schulden, die wir alle zu bezahlen haben. Ein potentielles Vermögen stellen sie nur für die Rüstungskonzerne dar. Die Bewilligung solcher Kredite war übrigens immer ein entscheidendes Privileg des Parlamentarismus: Während des ersten Weltkriegs musste diese Bewilligung immer neu eingeholt werden; sie geriet zunehmend unter Beschuss, selbst in der damaligen SPD, die zunächst mit ihrer Zustimmung den Krieg ermöglicht hatte. Eine »Zeitenwende« wird ausgerufen, als handle es sich um den Beginn eines neuen, erfreulicheren Zeitalters. Dabei geht es, was sogar einigermaßen deutlich wird, um den Schwenk zu einer offenen (und nicht nur verdeckten) Militarisierung der Außenpolitik, wie sie von diversen Hardlinern aus Politik und Bundeswehr schon längere Zeit gefordert worden ist. »Verantwortung« übernehmen bedeutet ebenfalls schon länger, dass man sich den USA als Juniorpartner andient oder die neokoloniale Politik in Mali (oder sonst wo) nicht mehr länger allein den Franzosen überlassen will. Im Inneren bedeutet »Verantwortung übernehmen« zumeist, die eigenen Positionen so abzuschwächen, dass man in eine Regierung eintreten kann. Verantwortung ist also zumeist ein Synonym für Opportunismus und Machtbeteiligung. Man könnte geradezu ein Glossar anlegen, das die gängigen, das Bewusstsein vernebelnden Begriffe und Slogans übersetzt. Rationales Denken wird nur dann eine Chance haben, wenn es sich durch diesen Wust hindurcharbeitet und die wahren Verhältnisse freilegt.
Die Hauptformel für den gegenwärtigen (und vermutlich auch den nächsten) Krieg lautet: Die Demokratien müssten sich gegen die Autokratien wehren oder besser noch: sie zurückdrängen und besiegen, da sie destruktiv und gefährlich seien. Was Demokratien sind, darüber scheint Einigkeit zu bestehen. Damit ist der Westen gemeint, wie es abkürzend und undifferenziert heißt, mit westlich bestimmten Werten und Freiheitsrechten. Doch was sind Autokratien oder Autokraten? Gemeint sind – oft ohne konkreten Hintergrund – autoritäre Machthaber, die gern als »böse« gebrandmarkt werden, wenn sie sich dem westlichen Machtblock widersetzen. Doch ein Blick in die Geschichte sollte stutzig machen: 1914 war es das deutsche Kaiserreich, das als Autokratie hingestellt wurde, der Westen – das waren die alten Demokratien, also Frankreich, Großbritannien, die USA. Diese verbanden sich jedoch durch eine Reihe von Abkommen mit einer Autokratie, dem russischen Zarenreich. Von deutscher Seite bestritt man zwar nicht das Autokratische (obwohl selbst das Kaiserreich kaum weniger demokratisch war als der Westen, der über weltumspannende Kolonialreiche verfügte), doch man führte die große deutsche Kultur als zentralen Wert an, für den man zu kämpfen und zu sterben bereit sei. Die Mächte der westlichen Entente standen für eine abschätzig genannte Zivilisation, wozu natürlich auch der bürgerliche Parlamentarismus gehörte. Gleichzeitig waren die deutschen Machthaber gegen das Zarenreich, denn dieses unterstützte u.a. die panslawische Befreiungsbewegung (und damit das »aufsässige« Serbien). Das Zarenregime wurde auf breiter Front als brutale, barbarische Gewaltherrschaft hingestellt, womit man übrigens die anfangs kriegsskeptische, aber russlandfeindliche SPD »ins Boot« holen konnte.
Doch wer wagt heute einen Blick in die Geschichte? Natürlich wiederholt sie sich nicht (direkt), doch man kann aus ihr lernen, wenn man die richtigen Fragen stellt und die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Zusammenhänge herausarbeitet. Der Slogan »Autokraten gegen Demokraten« taugt jedenfalls auch heute nicht als Rechtfertigung eines Massensterbens – sei es in Europa, sei es in China, das als nächstes Kriegsziel gelten kann. Um dem Krieg den Krieg zu erklären, muss die Opposition überzeugend und vor allem wirksam auftreten. Dazu gehört, den Vorhang der mythologischen Verneblungen, den Wust der beschönigenden oder täuschenden Sprachregelungen zu zerreißen und stattdessen die politische Situation mit aller gebotenen Rationalität zu analysieren. Dazu gehört außerdem ein klarer Kurs auf den Frieden, das Ende der sinnlosen Zerstörung und der sich ständig steigernden militärischen und politischen Eskalationen. Ansonsten stehen wir – wieder einmal –, von angeblichen Schlafwandlern geleitet, am Abgrund.