Wenn nach der Ratifizierung des Briand-Kellogg-Pakts die Unterzeichnerstaaten und ihre Repräsentanten zum ersten Mal in der Geschichte zu ihren feierlichen Versprechungen und Schwüren auf Gott gestanden hätten, wäre es weder zum II. Weltkrieg noch zu denen Millionen Opfer fordernden Kriegen in der zweiten Hälfte des 20. und zu denen des 21. Jahrhunderts gekommen. Auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der in den Mainstreammedien als das Schrecklichste nach dem II. Weltkrieg zelebriert wird, hätte nicht Realität werden können.
Bis 1928/1929 galt – als Ausdruck höchster Souveränität des Staates – das ius ad bellum, also das zweifelhafte Staatsmachtsrecht, Kriege gegen andere Staaten und Völker führen zu dürfen, also Völkerunrecht. Dies sollte angesichts der Millionen Tote und Kriegskrüppel, zerstörter Städte und Fabriken, verwüsteter Umwelt nach dem I. [sic] Weltkrieg (1914-1918) ein für alle Mal der Vergangenheit angehören. Zu den Unterzeichnern des Vertrages gehörten auch Japan und Deutschland. Bereits zwei Jahre nach Inkrafttreten des Kriegsächtungspaktes wurde dieser von Japan durch den Überfall auf China gebrochen, ohne dass der Aggressor geächtet, geschweige denn zur Verantwortung gezogen worden wäre. Das war der Sündenfall des einzig akzeptablen modernen Völkerrechts, welches auf dem Prinzip der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten beruht. Die Vertragstinte war noch nicht ganz trocken, als das ius ad bellum wieder aus dem fruchtbaren Schoß gekrochen war. Für Hitler und Mussolini gab es deshalb kein völkerrechtliches Halten mehr, keine völkerrechtlichen Barrieren. Diese erste Inkonsequenz führte zu einer progredienten Schwächung völkerrechtlicher Kriegsächtungsnormen. Dem imperialen Großmachtdenken Deutschlands, das auch Japan und Italien in dieser neuen Weltordnung eine Rolle zugedacht hatte, wurde völkerrechtliche Weltmacht nicht entgegengesetzt, so dass deren Aggressionen zum Weltbrand II führten. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ließ die großspurigen völkerrechtlichen Verheißungen Makulatur werden. Wieder einmal siegten imperiale Interessen, Konkurrenz zwischen Staaten und global agierenden Kapitalverbänden über völkerrechtliche Normen des ideellen Gesamtkapitalisten, der oder zumindest ein Teil von ihm erkannt hatte, dass globale Menschheitsvernichtung auch Kapitalinteressen zunichtemachen dürfte.
In der Absicht, sich weiteres Versagen nicht vorwerfen zu lassen, formierte sich während des Zweitens Weltkrieges bekanntlich die Anti-Hitler-Koalition, die sich dem wahnwitzigen Ziel des deutschen Faschismus, die Weltherrschaft zu erobern, entgegenstellte, aber nicht im Interesse allgemeiner Menschlichkeit, des Schutzes von Leben und Gesundheit aller Menschen auf diesem Planeten oder gar der Beseitigung von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern vor allem um den Erhalt der eigenen imperialen Einflusssphären. Dennoch ist die Entschlossenheit der Alliierten, die Schuldigen am Weltbrand und der mit ihm einhergehenden Menschlichkeits- und Kriegsverbrechen zu bestrafen, wie sie in zahlreichen Erklärungen ihren Niederschlag gefunden haben, nicht geringzuschätzen.
Alle Völkerrechtsdokumente werden in den Annalen der Menschheitsgeschichte Bestand haben, trotz nachfolgender Pervertierungen. Der bedeutendste Rechtsakt zur Verfolgung und Bestrafung derartiger Verbrechen war die Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943, die vom Vereinigte Königreich, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Namen von zweiunddreißig Vereinten Nationen der Weltöffentlichkeit verkündet wurde. Den drei Alliierten lagen bereits seinerzeit erdrückende Beweise über Gräueltaten, Massaker und kaltblütige Massenexekutionen vor. Den Tätern wurde in Aussicht gestellt, was sie erwartet, wenn man ihrer habhaft wird: »Sie werden an den Schauplatz ihrer Verbrechen zurückgebracht und an Ort und Stelle von den Völkern, denen sie Gewalt angetan haben, abgeurteilt.« Sowohl das Potsdamer Abkommen als auch das Londoner Statut nahmen auf diese Erklärung des wieder aufkeimenden und an Gestaltungskraft gewinnenden Antikriegsrechts ausdrücklich Bezug. Die internationalen Gerichtshöfe in Nürnberg und Tokio waren die zwingende Konsequenz und Lehre aus dem Versagen, dass die japanische Aggression gegen China folgenlos geblieben war.
Auf der Grundlage des Londoner Viermächte-Abkommens vom 8. August 1945 und des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof vom selben Tag wurden die Hauptkriegsverbrecher, die höchsten Funktionäre faschistischer Staatlichkeit, im Jahrhundertprozess von Nürnberg zur Verantwortung gezogen. Der zentrale Anklagepunkt lautete: »Verbrechen gegen den Frieden: nämlich: Planen, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge, Abkommen und Zusicherungen«. Von den 22 Angeklagten wurden 12 zum Tode verurteilt. Ohne Zweifel liegt die welthistorische Bedeutung dieses Prozesses darin, dass sich die gesamte damals noch lebende höchste Führungsschicht eines Landes wegen des von ihr entfesselten Angriffskrieges und der während seiner Vorbereitung und Ausführung verübten Verbrechen zu verantworten hatte.
Seit dem denkwürdigen Urteilsspruch vom 1. Oktober 1945, also vor 76 Jahren, gab es diese notwendige, unabdingbare und auch gerechte Konsequenz nicht mehr. Den Trümmerhaufen der Inkonsequenz, der nicht am Völkerrecht liegt, sondern an den Herrschenden dieser Welt, sehen wir heute, ganz nah, ganz unmittelbar, stündlich in den Medien. Darüber kann auch der heuchlerische Ruf nach dem Völkerrecht, der jetzt auf einmal ganz oben auf der Agenda steht, nicht hinwegtäuschen. Vor dem vielzitierten vergifteten Becher mussten die Staatsoberhäupter von Großmächten nach 1945 keine Angst haben. Aggressionen wurden mit Lügen begründet oder gar nicht. Die Toten, ob Zivilisten oder Soldaten, ob Mütter, Väter, Greise und Kinder, waren und bleiben offensichtlich in den Augen der Herrschenden eben nur »Kollateralschäden«.
Die Völkerrechtsbrüche begehen immer die anderen. Dabei haben die jeweiligen Mainstreammedien Hochkonjunktur. Der jeweils andere ist immer und eindeutig der Böse. Der selektive Blick bleibt das Verhängnis des Völkerrechts. Eine Allianz der Kriegswilligen findet sich schnell. Ein paar Anrufe zwischen den willigen Staatsoberhäuptern genügen, und der Krieg ist im Gange. Von einer Allianz der friedenswilligen Staatsoberhäupter ist »leider nie die Rede«. In Abwandlung von Galileis Antwort auf die Frage des Kleinen Mönchs muss es heißen, dass sich nur so viel Völkerrecht durchsetzt, »als wir durchsetzen«; »der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.«