Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Alarmstufe Rot

Bereits in sei­ner Neu­jahrs­bot­schaft 2018 erklär­te der UN-Gene­ral­se­kre­tär Antó­nio Guter­res wört­lich: »Ich rufe Alarm­stu­fe Rot für unse­re Welt aus.« Guter­res erin­nert an die »Rück­kehr zur Angst vor einem Atom­krieg«, an den Kli­ma­wan­del, an die »wach­sen­de Ungleich­heit zwi­schen arm und reich«, an »zuneh­men­den Natio­na­lis­mus« und an »Frem­den­feind­lich­keit«.

Mit dem vom Inter­go­vern­men­tal Panel on Cli­ma­te Chan­ge (IPCC) am 9. August 2021 ver­öf­fent­lich­ten Bericht zur glo­ba­len Erwär­mung sag­te Guter­res (sich wie­der­ho­lend), die­ser Bericht sei nichts weni­ger als »die Alarm­stu­fe rot für die Mensch­heit. Die Alarm­glocken sind ohren­be­täu­bend, und die Bewei­se sind unwi­der­leg­bar.« Der neue Bericht wur­de von 234 Autoren aus 65 Län­dern ver­fasst und berück­sich­tig­te mehr als 78.000 Kom­men­ta­re. Manch einer mag sich fra­gen: Hat die IPCC-Arbeits­grup­pe die glo­ba­le Erwär­mung im Ver­gleich zum vor­he­ri­gen Sach­stands­be­richt von 2014 unter­schätzt? Die Ant­wort lau­tet auf­grund der Kom­ple­xi­tät des The­mas weder ja noch nein. Dazu muss man den grund­le­gen­den Ansatz zur glo­ba­len Erwär­mung und die Kor­rek­tu­ren gegen­über frü­he­ren Berich­ten ver­ste­hen. Bereits vor mehr als 20 Jah­ren wur­de vom IPCC ein Kri­te­ri­um ein­ge­führt, das die Vor­her­sa­gen kom­pli­ziert macht: Kipp­punk­te. Die­se spie­len eine zen­tra­le Rol­le bei den Unsi­cher­hei­ten von Model­lie­run­gen und berech­ne­ten Sze­na­ri­en zur Berech­nung des Anstiegs von Treib­haus­ga­sen. Bereits die Über­schrei­tung eines ein­zel­nen Kipp­punk­tes kann die Beschleu­ni­gung der glo­ba­len Erwär­mung unum­kehr­bar machen. Das Pro­blem hier­bei ist, dass die Wis­sen­schaft nicht weiß, wo die­se Grenz­wer­te lie­gen und wann die­se über­schrit­ten wer­den. Noch weni­ger Gewiss­heit besteht nach wie vor über kli­ma­ti­sche Rück­kopp­lun­gen und even­tu­ell abrup­te Ver­än­de­run­gen. Bei­spie­le dafür sind Glet­scher­schmel­zen, der Eis­schild Grön­lands und der Golf­strom. Auch der neue IPCC-Bericht ent­hält des­halb nur Ein­schät­zun­gen zwi­schen gerin­ger und hoher Wahr­schein­lich­keit von iden­ti­fi­zier­ten Kipp­punk­ten. Sicher ist aber nach dem jüng­sten IPCC-Report, dass eini­ge Kipp­punk­te bereits über­schrit­ten wurden.

Auch im Zusam­men­hang mit der glo­ba­len Mili­ta­ri­sie­rung muss über Kipp­punk­te gespro­chen wer­den. Wir wis­sen, dass die Höhe der Mili­tär­aus­ga­ben weit­aus mehr finan­zi­el­le und ande­re Res­sour­cen in Anspruch nimmt als Inve­sti­tio­nen in erneu­er­ba­re Ener­gie­sy­ste­me und ande­re Aus­ga­ben zur Ver­mei­dung von Treib­haus­ga­sen. Die­se Aus­ga­ben feh­len bei der Bekämp­fung der glo­ba­len Erwär­mung. Dar­über hin­aus ver­ur­sa­chen mili­tä­ri­sche Akti­vi­tä­ten selbst sehr gro­ße Men­gen an Treib­haus­ga­sen. Vor allem das US-Mili­tär hat Flug­zeu­ge und Kriegs­schif­fe auf der gan­zen Welt und rund um die Uhr mit einem hohen Ver­brauch an fos­si­len Brenn­stof­fen im Ein­satz. Folg­lich trägt die Mili­ta­ri­sie­rung nicht unwe­sent­lich direkt zur glo­ba­len Erwär­mung bei.

Was wir hin­ge­gen nicht wis­sen, ist ent­schei­den­der und ähnelt der glo­ba­len Erwär­mung und den Kipp­punk­ten: Loka­le Ereig­nis­se kön­nen einen glo­ba­len Krieg aus­lö­sen. Die­ses zeigt ein Blick in die Geschich­te. Im Jahr 1914 begann der Erste Welt­krieg. Die poli­ti­sche Situa­ti­on war in gewis­ser Wei­se ver­gleich­bar mit den glo­ba­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen heu­te. Das Atten­tat in Sara­je­wo schließ­lich war ein regio­na­les Ereig­nis, das den glo­ba­len Krieg auslöste.

Heu­te erzeugt die glo­ba­le Mili­ta­ri­sie­rung zahl­rei­che loka­le Kipp­punk­te. So deu­te­ten bereits in der Ver­gan­gen­heit Com­pu­ter­feh­ler auf einen bevor­ste­hen­den Atom­waf­fen­an­griff hin, eine Fehl­funk­ti­on, die durch mensch­li­che Ent­schei­dun­gen noch kor­ri­giert wer­den konn­te. Künf­tig wer­den aber auto­no­me Waf­fen und auto­ma­ti­sier­te Ent­schei­dun­gen der­ar­ti­ges nicht mehr kor­ri­gie­ren und dadurch wei­te­re Kipp­punk­te schaf­fen. Hin­zu kom­men Pro­vo­ka­tio­nen mit Kriegs­spie­len, so wie bei Kriegs­übun­gen an der rus­si­schen Gren­ze oder die bewuss­te Ver­let­zung von See­gren­zen durch Nato-Kriegsschiffe.

Doch anders als im kom­ple­xen glo­ba­len Öko­sy­stem könn­ten sol­che Kipp­punk­te mit einem auf Mul­ti­la­te­ra­lis­mus basie­ren­den Kon­zept der glo­ba­len Sicher­heit besei­tigt wer­den. Der IPCC-Bericht spricht die Ernährungs(un)sicherheit als ein pri­mä­res, wach­sen­des Pro­blem an, das auch ein eige­nes Ziel (Nr. 2: Null Hun­ger) inner­halb der nach­hal­ti­gen Ent­wick­lungs­zie­le (SDGs) hat, die 2015 von allen UN-Mit­glie­dern mit dem Zeit­ho­ri­zont 2030 ver­ab­schie­det wur­den. Die SDGs ent­hal­ten 16 Ein­zel­zie­le und nicht zuletzt die Nr. 17: Part­ner­schaf­ten zur Errei­chung der 16 Ein­zel­zie­le. Die Fra­ge ist des­halb: Wie weit sind wir von die­sem Ziel und einer nicht-exklu­si­ven glo­ba­len Zusam­men­ar­beit entfernt?

Im Novem­ber 2019 rie­fen die Außen­mi­ni­ster Frank­reichs und Deutsch­lands eine »Alli­anz für Mul­ti­la­te­ra­lis­mus« ins Leben, »ein infor­mel­les Netz­werk von Län­dern, die in ihrer Über­zeu­gung ver­eint sind, dass eine regel­ba­sier­te mul­ti­la­te­ra­le Ord­nung die ein­zi­ge ver­läss­li­che Garan­tie für inter­na­tio­na­le Sta­bi­li­tät und Frie­den ist und dass unse­re gemein­sa­men Her­aus­for­de­run­gen nur durch Zusam­men­ar­beit gelöst wer­den kön­nen«. Obwohl fast 50 Län­der die­sem Bünd­nis bei­getre­ten sind, dient es kei­nem ande­ren Zweck als der Auf­recht­erhal­tung des US-ame­ri­ka­ni­schen Uni­la­te­ra­lis­mus, neu belebt mit den trans­at­lan­tisch aus­ge­rich­te­ten impe­ria­len Ambi­tio­nen Deutsch­lands und Frank­reichs. Zum Ver­gleich: 2017 haben 122 Natio­nen in der UN-Gene­ral­ver­samm­lung den Ver­trag über das Ver­bot von Atom­waf­fen unterzeichnet.

Doch die Pro­pa­gan­da einer »regel­ba­sier­ten mul­ti­la­te­ra­len Ord­nung« und ein selek­ti­ver Blick auf die Men­schen­rech­te sind nur ein Hin­der­nis auf dem Weg zu ech­tem Mul­ti­la­te­ra­lis­mus und inter­na­tio­na­ler Zusam­men­ar­beit. Par­al­lel dazu ent­wickeln Deutsch­land und Frank­reich ein »Future Com­bat Air-Striking System (FCAS)«. Mit einem Auf­wand von weit über hun­dert Mil­li­ar­den Euro soll es ein digi­ta­les Netz­werk mit Kampf­jets und Droh­nen in der Luft sowie Pan­zern am Boden geben. Nie­mand weiß, gegen wel­che Art von Feind die­ses System nütz­lich sein soll, des­sen Ein­satz­be­reit­schaft nach dem Jahr 2040 anvi­siert ist. Sicher ist nur: Wenn die mili­tä­ri­schen Kipp­punk­te nicht in den näch­sten Jah­ren einen glo­ba­len Krieg aus­lö­sen, wird der Haupt­feind der glo­ba­len Mili­ta­ri­sie­rung die zer­stö­re­ri­sche Kraft der Natur sein – lan­ge vor dem Jahr 2040. Der US-Autor Micha­el T. Kla­re hat in sei­nem 2019 erschie­ne­nen Buch »All Hell Brea­king Loo­se« ana­ly­siert, wie sich das Pen­ta­gon um die glo­ba­le Erwär­mung mit den Risi­ken eines stei­gen­den Mee­res­spie­gels und tro­pi­scher Stür­me sorgt. Sinn­ge­mäß bedeu­tet »All Hell Brea­king Loo­se«: Ein plötz­lich not­wen­di­ger Ein­satz an meh­re­ren, unter­schied­lich gela­ger­ten Fron­ten gleich­zei­tig, der zwangs­läu­fig zu einer völ­lig chao­ti­schen Ein­satz­pla­nung führt.

Im Pen­ta­gon ist man sich bewusst, dass die mei­sten US-Mili­tär­ba­sen auf der gan­zen Welt sen­si­ble Stand­or­te haben, vor allem in der Kari­bik und im west­li­chen Teil des Pazi­fiks. Das US-Mili­tär wäre nicht in der Lage, meh­re­re Ein­sät­ze gleich­zei­tig zu bewäl­ti­gen, wenn durch die glo­ba­le Erwär­mung beschleu­nig­te Wirbelstürme/​Taifune, Pan­de­mien, Dür­ren und Nah­rungs­mit­tel­knapp­heit in eth­nisch gespal­te­nen Natio­nen zu Kon­flik­ten und Kata­stro­phen­si­tua­tio­nen füh­ren. Micha­el T. Kla­re beschreibt in sei­nem Buch meh­re­re ähn­li­che Sze­na­ri­en, die sich in der Ver­gan­gen­heit bereits ereig­net haben, basie­rend auf Doku­men­ten und Gesprä­chen mit Mit­ar­bei­tern des Pen­ta­gon. Die Fort­set­zung der glo­ba­len Mili­ta­ri­sie­rung bedeu­tet des­halb, auf die Aus­lö­schung der Mensch­heit oder zumin­dest auf die natür­li­che Zer­stö­rung der glo­ba­len US-Mili­tär­ba­sen zu warten.

Die glo­bal agie­ren­de Frie­dens­be­we­gung hat also gute Argu­men­te für Men­schen, die sich auf den Kampf für einen System­wech­sel gegen den Kli­ma­wan­del kon­zen­trie­ren. Es herrscht »Alarm­stu­fe Rot«.

Erstens gibt es bei der glo­ba­len Mili­ta­ri­sie­rung eben­so Kipp­punk­te wie beim glo­ba­len Öko­sy­stem. Ein glo­ba­ler Krieg durch nicht vor­her­seh­ba­re Zufäl­le wird immer wahrscheinlicher.

Zwei­tens beschleu­nigt die glo­ba­le Mili­ta­ri­sie­rung die glo­ba­le Erwär­mung durch regio­na­le Ernäh­rungs­un­si­cher­heit und mili­tä­ri­sche Kon­flik­te. Regio­na­le Sicher­heit erfor­dert glo­ba­le Zusam­men­ar­beit und Mul­ti­la­te­ra­lis­mus für glo­ba­le Sicherheit.

Schließ­lich wird die Zukunft gewal­ti­ge öffent­li­che Aus­ga­ben für die Fol­ge­ko­sten der Mas­sen­ver­nich­tung durch Natur­ka­ta­stro­phen erfor­dern, die durch die glo­ba­le Erwär­mung aus­ge­löst wer­den. Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen wer­den das Ende der Mensch­heit bedeu­ten, direkt oder indi­rekt. Abrü­stung oder wei­te­re Auf­rü­stung ent­schei­den des­halb über die wei­te­re Exi­stenz oder den Unter­gang der Menschheit.

Der Autor betreibt den Online-Infor­ma­ti­ons­dienst »Umwelt und Mili­tär« (https://umwelt-militaer.org).