Jürgen Habermas war in Rage. Er staune über die Chuzpe der deutschen Regierung, die da glaube, die Partner zur Gemeinsamkeit in Fragen der Flüchtlings- Verteidigungs-, Außen- und Außenhandelspolitik gewinnen zu können, während sie gleichzeitig in der zentralen Frage des politischen Ausbaus der Eurozone mauere, zürnte er am 21. September 2018 in Bad Homburg auf einer Konferenz zum Thema »Neue Perspektiven für Europa«. Der eigenen Regierung Frechheit, Anmaßung, Dreistigkeit und Unverschämtheit vorzuwerfen, das alles steckt schließlich in dem Wort Chuzpe, das will was heißen.
Das harsche Urteil hängt damit zusammen, dass Jürgen Habermas und viele andere Abschied nehmen müssen vom Wolkenkuckucksheim eines politisch vereinten Europas. Zum ersten Mal zweifle er ernsthaft an der Bodenhaftung seiner bisher unverdrossen wiederholten alten Perspektiven, bekannte der Philosoph und Soziologe in Bad Homburg. Aber damit war es von Anfang an nicht weit her. Nichts hat mit der Realität weniger zu tun, als der Wunsch nach einem Europa mit einer Zentralregierung an der Spitze und einem Parlament, das mit Mehrheit entscheidet, was zum Beispiel in Frankreich oder in Deutschland zu geschehen hat. Jetzt kam Habermas zu dem Ergebnis: »Wenn Sie mich nicht als Staatsbürger, sondern als akademischen Beobachter nach meiner Gesamteinschätzung fragen, muss ich gestehen, im Augenblick keine ermutigenden Tendenzen zu erkennen.« (Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2018)
Dass die Lage so ist wie sie ist, hat mit der Entstehungsgeschichte des europäischen Projektes zu tun, das ja keine Liebesheirat, sondern ein reines Zweckbündnis war. Solche Bündnisse können lange halten, aber der göttliche Funke des Ineinanderaufgehens fehlt ihnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag den westlichen Siegermächten daran, die Bundesrepublik Deutschland im Kalten Krieg zwischen Ost und West an ihrer Seite zu haben und die deutsche Bestie nach den Nazi-gräueln gleichzeitig an die Kette zu legen. Für die besiegten Deutschen bedeutete das die wohlfeile Rückkehr in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker.
Noch vor vier Jahren hatte Habermas argumentiert, die europäischen Völker hätten gute Gründe, eine Politische Union zu wollen, aber die sich daraus ergebenden Konsequenzen lägen ihnen »intuitiv fern«. Wie fern sie ihnen lagen und immer noch liegen wurde umso deutlicher, je mehr Deutschland den anderen Ländern über den Kopf wuchs. Das Einstimmigkeitsprinzip der EU hat schließlich seine Gründe. Emmanuel Macrons bejubelter Vorschlag, die Eurozone mit einem eigenem Haushalt und einem eigenem Finanzminister auszustatten, hatte von vornherein wenig Aussicht auf Erfolg. Er setzt voraus, dass die Beteiligten die Verfügungsgewalt über einen Teil ihrer Steuereinnahmen und damit ihrer nationalen Souveränität preisgeben. Die Grande Nation selbst wäre die Letzte, die sich dazu bereit fände. Was im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung unter dem Stichwort »Aufbruch für Europa« aufgelistet wird, steht unter einem Generalvorbehalt, der da lautet: »Die Rechte der nationalen Parlamente bleiben davon unberührt.«
Mit Macrons Idee einer »Europäischen Armee zur Verteidigung Europas«, der ja auch andere anhängen, verhält es sich nicht anders. Weder die Franzosen noch die Briten seien bereit, den Weg zu einer europäischen Armee zu gehen, schrieb der ehemalige Leiter der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Rudolf G. Adam am 18. Dezember 2018 in der Süddeutschen Zeitung. Er zitierte den ehemaligen Chef des französischen Generalstabes, Pierre de Villiers, mit den Worten: »Wenn eine europäische Armee bedeutet, Einheiten zu verschmelzen und einem Generalstab in Brüssel zu unterstellen, sage ich Ihnen: Unmöglich!« Dass ein französischer Präsident jemals bereit sein würde, die eigenen Nuklearstreitkräfte einem europäischen Kommando zu unterstellen, ist in der Tat undenkbar.
Der Brexit mag vielerlei Gründe haben. Den Ausschlag gab der verletzte Nationalstolz der Briten, der sich nicht damit abfinden will, Entscheidungen von nationalem Interesse nur in Absprache mit der EU-Kommission in Brüssel treffen zu können. Seit Jahrhunderten gebe es eine Tradition der britischen Politik in Europa, urteilt der britische Historiker Garton Ash: »Wenn ein Hegemon entsteht, versuchen die Briten, Gegengewichte aufzufahren.« (Der Spiegel, Nr. 29/2018). Der psychologische Schlüssel zum Verständnis des britischen Verhaltens findet sich versteckt in John le Carrés Lebenserinnerungen, die 2016 in der deutschen Übersetzung von Peter Torberg unter dem Titel »Der Taubentunnel« erschienen sind. Dort schreibt er über seine britischen Landsleute: »Wir haben es schon vor langem aufgegeben, uns mit Deutschland zu vergleichen. Der Aufstieg des modernen Deutschlands als selbstsichere, nichtaggressive demokratische Macht … ist eine für viele von uns Briten zu bittere Pille, als das man sie einfach schlucken könnte.« Jürgen Habermas sollte sich das Buch unters Kopfkissen legen. Andere ebenfalls.