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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Akademischer Beobachter ratlos

Jür­gen Haber­mas war in Rage. Er stau­ne über die Chuz­pe der deut­schen Regie­rung, die da glau­be, die Part­ner zur Gemein­sam­keit in Fra­gen der Flücht­lings- Ver­tei­di­gungs-, Außen- und Außen­han­dels­po­li­tik gewin­nen zu kön­nen, wäh­rend sie gleich­zei­tig in der zen­tra­len Fra­ge des poli­ti­schen Aus­baus der Euro­zo­ne maue­re, zürn­te er am 21. Sep­tem­ber 2018 in Bad Hom­burg auf einer Kon­fe­renz zum The­ma »Neue Per­spek­ti­ven für Euro­pa«. Der eige­nen Regie­rung Frech­heit, Anma­ßung, Drei­stig­keit und Unver­schämt­heit vor­zu­wer­fen, das alles steckt schließ­lich in dem Wort Chuz­pe, das will was heißen.

Das har­sche Urteil hängt damit zusam­men, dass Jür­gen Haber­mas und vie­le ande­re Abschied neh­men müs­sen vom Wol­ken­kuckucks­heim eines poli­tisch ver­ein­ten Euro­pas. Zum ersten Mal zweif­le er ernst­haft an der Boden­haf­tung sei­ner bis­her unver­dros­sen wie­der­hol­ten alten Per­spek­ti­ven, bekann­te der Phi­lo­soph und Sozio­lo­ge in Bad Hom­burg. Aber damit war es von Anfang an nicht weit her. Nichts hat mit der Rea­li­tät weni­ger zu tun, als der Wunsch nach einem Euro­pa mit einer Zen­tral­re­gie­rung an der Spit­ze und einem Par­la­ment, das mit Mehr­heit ent­schei­det, was zum Bei­spiel in Frank­reich oder in Deutsch­land zu gesche­hen hat. Jetzt kam Haber­mas zu dem Ergeb­nis: »Wenn Sie mich nicht als Staats­bür­ger, son­dern als aka­de­mi­schen Beob­ach­ter nach mei­ner Gesamt­ein­schät­zung fra­gen, muss ich geste­hen, im Augen­blick kei­ne ermu­ti­gen­den Ten­den­zen zu erken­nen.« (Blät­ter für deut­sche und inter­na­tio­na­le Poli­tik 11/​2018)

Dass die Lage so ist wie sie ist, hat mit der Ent­ste­hungs­ge­schich­te des euro­päi­schen Pro­jek­tes zu tun, das ja kei­ne Lie­bes­hei­rat, son­dern ein rei­nes Zweck­bünd­nis war. Sol­che Bünd­nis­se kön­nen lan­ge hal­ten, aber der gött­li­che Fun­ke des Inein­an­der­auf­ge­hens fehlt ihnen. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg lag den west­li­chen Sie­ger­mäch­ten dar­an, die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land im Kal­ten Krieg zwi­schen Ost und West an ihrer Sei­te zu haben und die deut­sche Bestie nach den Nazi-gräu­eln gleich­zei­tig an die Ket­te zu legen. Für die besieg­ten Deut­schen bedeu­te­te das die wohl­fei­le Rück­kehr in die Gemein­schaft der zivi­li­sier­ten Völker.

Noch vor vier Jah­ren hat­te Haber­mas argu­men­tiert, die euro­päi­schen Völ­ker hät­ten gute Grün­de, eine Poli­ti­sche Uni­on zu wol­len, aber die sich dar­aus erge­ben­den Kon­se­quen­zen lägen ihnen »intui­tiv fern«. Wie fern sie ihnen lagen und immer noch lie­gen wur­de umso deut­li­cher, je mehr Deutsch­land den ande­ren Län­dern über den Kopf wuchs. Das Ein­stim­mig­keits­prin­zip der EU hat schließ­lich sei­ne Grün­de. Emma­nu­el Macrons beju­bel­ter Vor­schlag, die Euro­zo­ne mit einem eige­nem Haus­halt und einem eige­nem Finanz­mi­ni­ster aus­zu­stat­ten, hat­te von vorn­her­ein wenig Aus­sicht auf Erfolg. Er setzt vor­aus, dass die Betei­lig­ten die Ver­fü­gungs­ge­walt über einen Teil ihrer Steu­er­ein­nah­men und damit ihrer natio­na­len Sou­ve­rä­ni­tät preis­ge­ben. Die Gran­de Nati­on selbst wäre die Letz­te, die sich dazu bereit fän­de. Was im Koali­ti­ons­ver­trag der neu­en Bun­des­re­gie­rung unter dem Stich­wort »Auf­bruch für Euro­pa« auf­ge­li­stet wird, steht unter einem Gene­ral­vor­be­halt, der da lau­tet: »Die Rech­te der natio­na­len Par­la­men­te blei­ben davon unberührt.«

Mit Macrons Idee einer »Euro­päi­schen Armee zur Ver­tei­di­gung Euro­pas«, der ja auch ande­re anhän­gen, ver­hält es sich nicht anders. Weder die Fran­zo­sen noch die Bri­ten sei­en bereit, den Weg zu einer euro­päi­schen Armee zu gehen, schrieb der ehe­ma­li­ge Lei­ter der Bun­des­aka­de­mie für Sicher­heits­po­li­tik, Rudolf G. Adam am 18. Dezem­ber 2018 in der Süd­deut­schen Zei­tung. Er zitier­te den ehe­ma­li­gen Chef des fran­zö­si­schen Gene­ral­sta­bes, Pierre de Vil­liers, mit den Wor­ten: »Wenn eine euro­päi­sche Armee bedeu­tet, Ein­hei­ten zu ver­schmel­zen und einem Gene­ral­stab in Brüs­sel zu unter­stel­len, sage ich Ihnen: Unmög­lich!« Dass ein fran­zö­si­scher Prä­si­dent jemals bereit sein wür­de, die eige­nen Nukle­ar­streit­kräf­te einem euro­päi­schen Kom­man­do zu unter­stel­len, ist in der Tat undenkbar.

Der Brexit mag vie­ler­lei Grün­de haben. Den Aus­schlag gab der ver­letz­te Natio­nal­stolz der Bri­ten, der sich nicht damit abfin­den will, Ent­schei­dun­gen von natio­na­lem Inter­es­se nur in Abspra­che mit der EU-Kom­mis­si­on in Brüs­sel tref­fen zu kön­nen. Seit Jahr­hun­der­ten gebe es eine Tra­di­ti­on der bri­ti­schen Poli­tik in Euro­pa, urteilt der bri­ti­sche Histo­ri­ker Gar­ton Ash: »Wenn ein Hege­mon ent­steht, ver­su­chen die Bri­ten, Gegen­ge­wich­te auf­zu­fah­ren.« (Der Spie­gel, Nr. 29/​2018). Der psy­cho­lo­gi­sche Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis des bri­ti­schen Ver­hal­tens fin­det sich ver­steckt in John le Car­rés Lebens­er­in­ne­run­gen, die 2016 in der deut­schen Über­set­zung von Peter Tor­berg unter dem Titel »Der Tau­ben­tun­nel« erschie­nen sind. Dort schreibt er über sei­ne bri­ti­schen Lands­leu­te: »Wir haben es schon vor lan­gem auf­ge­ge­ben, uns mit Deutsch­land zu ver­glei­chen. Der Auf­stieg des moder­nen Deutsch­lands als selbst­si­che­re, nicht­ag­gres­si­ve demo­kra­ti­sche Macht … ist eine für vie­le von uns Bri­ten zu bit­te­re Pil­le, als das man sie ein­fach schlucken könn­te.« Jür­gen Haber­mas soll­te sich das Buch unters Kopf­kis­sen legen. Ande­re ebenfalls.