Als der Suhrkamp Verlag 1987 die »Wahrnehmungen aus sieben Ländern« des Dichter-Philosophen Hans Magnus Enzensberger unter dem Titel »Ach Europa!« herausbrachte, waren die Ereignisse, die die politische Landkarte in Europa verändern sollten, nur noch zwei, drei Jahre entfernt. Einen Wimpernschlag also, bevor alte Gewissheiten weggeräumt wurden und jene Veränderungen und mit ihnen jene Entscheidungen über die Menschen zwischen Atlantischem Ozean und Ural hereinbrachen – den ebenfalls betroffenen asiatischen Teil Russlands einmal außen vor gelassen –, deren Folgen den Kontinent noch heute beschäftigen.
So wie ein Seismograf die tektonischen Verschiebungen im Erdinnern in zitternden Kurven ausmalt, so registrierte Enzensberger auf seinen zwischen 1982 und 1985 unternommenen Reportage-Fahrten nach Schweden, Italien, Ungarn, Portugal, Norwegen, Polen und Spanien die Defekte, von denen die Gesellschaften in Europa infolge des Zweiten Weltkriegs noch immer gezeichnet waren trotz aller positiven Veränderungen. Bei den Gesprächen in den einzelnen Ländern taten sich neue Dissonanzen auf. Noch keine Rolle spielten damals allerdings Themen wie Flucht und Migration oder Termini wie Herkunfts- und Transitländer, die Brandbeschleuniger der Gegenwart. Und, nicht zu vergessen: Es gab noch EU-Binnengrenzen und unterschiedliche Währungen.
Heute präsentiert sich die EU als stark nach Osten erweiterte Institution, deren Politik tief in das alltägliche Leben der Bürgerinnen und Bürger eingreift; den einen ein Segen, den anderen ein so großes Gräuel, dass sie am liebsten die Gemeinschaft verlassen möchten. Sie sehen sich gegängelt, manipuliert, indoktriniert, zu stark reguliert von »der EU« und »den Bürokraten« in dem Raumschiff Brüssel, das ihrer Ansicht nach unaufhaltsam einem Schwarzen Loch entgegenfliegt. Sie rütteln in europaweiter Verweigerung an den vier Grundsäulen der Staatengemeinschaft, dem freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Seit den 1990er Jahren gehört der Rechtspopulismus zum festen Bestandteil der europäischen Parteienlandschaft.
Gibt es unterschiedliche Entwicklungen in Europa? Wie hängen Migration und Rechtspopulismus zusammen? Welche sozioökonomischen, sozialpsychologischen Erklärungen gibt es, welche politisch-strukturellen und welche politisch-kulturellen? Und inwiefern hat in Deutschland dieses Thema zum Aufstieg der AfD beigetragen? Warum schnitten auch in anderen europäischen Ländern Populisten und rechte Parteien stark ab? Hier drei Beispiele aus jüngster Zeit:
In der Tschechischen Republik gewann 2017 der Milliardär und EU-Kritiker Andrej Babiš mit seiner Partei ANO die Parlamentswahlen, nachdem er das erste Mal 2013 angetreten war und aus dem Stand den zweiten Platz erreicht hatte. Anfang 2018 gewann Miloš Zeman zum zweiten Mal knapp die Präsidentschaftswahl mit einer betont flüchtlingsfeindlichen Haltung. Dazu ein passendes Zitat, das ihm zugeschrieben wird: »Falls Sie in einem Land leben, in dem Sie für das Fischen ohne Anglerschein bestraft werden, jedoch nicht für den illegalen Grenzübertritt ohne gültigen Reisepass, dann haben Sie das volle Recht zu sagen, dieses Land wird von Idioten regiert.«
Im Oktober 2017 gewann die rechtsgerichtete Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) 5,5 Prozent der Stimmen hinzu und ist aktuell dank ihres Stimmenanteils von 26 Prozent Teil der österreichischen Regierungskoalition.
Im März 2018 verbesserte sich in Italien die rechtspopulistische Lega von vier auf 18 Prozent und stieg damit zur dominierenden Kraft im Mitte-Rechts-Lager auf. Parallel dazu erzielte die Anti-Establishment- und Anti-EU-5-Sterne-Bewegung deutliche Zuwächse und wurde zur stärksten Partei Italiens.
Diese neuen politischen Verwerfungen und Polarisierungen führten zu der Befürchtung, die liberale und repräsentative Demokratie verliere an Vertrauen und Zustimmung in der Bevölkerung. Sie riefen natürlich auch die Wissenschaft auf den Plan. Ende Oktober 2018 hat das von Hans Vorländer geleitete Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM), ein Forschungszentrum der Technischen Universität Dresden in Kooperation mit der Universität Duisburg-Essen, gefördert durch die Stiftung Mercator, seinen Jahresbericht vorgelegt. Kernthese: »Migration macht bestehende Probleme sichtbar, ist aber nicht ihr Auslöser.«
Vorab die in dem Bericht gegebene Definition des Rechtspopulismus: Im Vergleich zu anderen Populisten kommt »für Rechtspopulisten zusätzlich zu der ›Wir-gegen-die-da-oben‹-Ideologie auch die horizontale Dimension des ›Wir-gegen-die-Anderen‹ hinzu«.
Ich zitiere im Folgenden zentrale Aussagen der Studie:
»Migration ist nicht die Ursache für den Aufstieg des Populismus in Europa, legt aber bestehende Konfliktlinien in und zwischen den europäischen Gesellschaften offen.«
Manche dieser Konfliktlinien »sind kultureller, andere sozioökonomischer oder politischer Natur. Durch Migration werden auch regionale und landesspezifische Spaltungen sichtbar: etwa zwischen Ost und West in Deutschland, zwischen Norden und Süden in Italien, zwischen Zentrum und Peripherie in Großbritannien.«
»Rein sozioökonomisch lässt sich der Zusammenhang zwischen Migration und Populismus nicht erklären. Oftmals sind es eher kulturelle Konflikte, wie unterschiedliche Vorstellungen von Identität, Zugehörigkeit und Fremdheit, welche die Rechtspopulisten begünstigen. Dabei sind Vorbehalte gegen den Islam von Relevanz.«
»Die kulturelle Konfliktlinie … kann in einigen Ländern West- und Nordeuropas durch ökonomische Abstiegs- und Verlustängste überlagert werden. So werden in Wohlfahrtsstaaten wie Schweden Asylsuchende auch als Ursache für die Verschärfung des Wettbewerbs um Sozialleistungen angesehen.«
»Kulturelle Begründungsmuster bei der Ablehnung von Migration sind in Ländern mit geringem Ausländeranteil besonders ausgeprägt. Dazu gehören mittel- und osteuropäische Länder, aber auch Ostdeutschland. Hier fördert die Angst vor einem Verlust von Identität und sozialem Zusammenhalt ablehnende Haltungen gegenüber der Migration.«
»Generell ist die Einstellung gegenüber Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten auch im Zuge der ›Flüchtlingskrise‹ nicht negativer geworden. Eine Ausnahme stellen Länder Mittel- und Osteuropas dar.«
»Noch nie wurde das Thema Migration von so vielen Europäern als eines der wichtigsten Probleme betrachtet. Dabei steht die Bedeutung der Migrationsfrage nicht zwingend in Relation zu der Zahl der ankommenden Asylsuchenden – sie ist vielmehr das Ergebnis starker Mediatisierung und gezielter Politisierung.«
»Für rechtspopulistische Parteien ist die öffentliche Bedeutung des Themas Migration zentrale Voraussetzung für die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft beim Protest gegen die ›herrschende Elite‹.«
»Populistische Parteien werden nicht ausschließlich von ›Abgehängten‹ und ›Bildungsfernen‹ gewählt, wie oft vermutet wird«, sie profitieren auch »von einer Wählerschaft mit höherem Bildungsgrad und Einkommen.«
Im weiteren Verlauf der Studie widmen sich die Forscherinnen und Forscher dem Zusammenhang zwischen Populismus und Fremdenfeindlichkeit am Beispiel Sachsen, »das von allen ostdeutschen Bundesländern eine Sonderstellung aufweist«, da sich »hier politische Entfremdungs- und Polarisierungsprozesse in besonderer Weise zu verdichten scheinen«. Ihr Resümee: »Jedoch erweist sich das mediale Bild Sachsens als rechtes ›Schmuddelkind‹ der Republik bei genauerer Betrachtung als trügerisch … Die Besonderheit Sachsens dürfte sich daher aus seiner spezifischen politischen Deutungskultur und Mentalität speisen: Ein starkes Selbst- und Traditionsbewusstsein mit seiner besonderen, selbst unter dem DDR-Regime gepflegten Tendenz zu regionaler Gemeinschafts- und Identitätspflege scheint gerade in Sachsen bestehende fremdenfeindliche Tendenzen leichter als anderswo politisch mobilisierbar zu machen.«
In ihrem zweiten Teil richtet die Studie den Fokus auf einige europäische Länder: auf Italien (»Italiener haben größere Vorbehalte gegenüber Migranten als die meisten westeuropäischen Bevölkerungen.«), die Niederlande (»Eine neue kulturelle Konfliktlinie zeichnet sich rund um das Thema Migration sowie die Einstellungen gegenüber der europäischen Integration ab.«), Österreich (»Immigration wird in Österreich bereits seit langem als politisch besonders relevantes und polarisierendes Thema aufgefasst.«), Polen (»In der polnischen Bevölkerung sind skeptische bis ablehnende Haltungen gegenüber ›Fremden‹ und Einwanderern besonders ausgeprägt. Die größte Skepsis richtet sich gegen Araber und Muslime.«), Schweden (»Die regierenden Sozialdemokraten sind von ihren liberalen Positionen abgerückt und fahren inzwischen einen restriktiven Kurs in der Flüchtlings- und Integrationspolitik.«), Tschechien (»Tschechen zählen zu denjenigen europäischen Gesellschaften, die Zuwanderer und Flüchtlinge am stärksten ablehnen.«), Ungarn (»Erst die regierende FIDESZ-Partei machte die Bekämpfung von illegaler Migration im Zuge der ›Flüchtlingskrise‹ zu einem Thema«, das sich »als wichtigstes Instrument für die Kritik an der EU und ihrer Flüchtlingspolitik erwies.«), Vereinigtes Königreich (»Die Zustimmung zum Brexit war dort besonders hoch, wo es in begrenzter Zeit zu einer deutlichen und wahrnehmbaren Veränderung der ethnischen Bevölkerungszusammensetzung im unmittelbaren lokalen Umfeld kam oder wo der durchschnittliche Bildungsgrad niedrig war.«)
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Die Europäische Union, die dann voraussichtlich aus nur noch 27 Mitgliedsstaaten bestehen wird, ruft zwischen dem 23. und 26. Mai (Wahltermin in Deutschland) seine Bürgerinnen und Bürger an die Wahlurnen. Als ich ein Kind war, lernte ich das Schmuggeln, zog mit anderen Kameraden durch die Wälder zwischen Pfalz und Hunsrück, auf uns vertrauten Pfaden, Zöllner und militärische Streifen meidend, die uns die Tafel Schokolade, das Päckchen Kakao, das Päckchen Kaffee wieder abjagen wollten, das wir im Saarland erstanden hatten, dessen Steinkohle sich Frankreich unbedingt sichern wollte. Schlagbäume standen zwischen Rheinland-Pfalz und dem französisch verwalteten Nachbargebiet. Meine Großmutter erzählte von den französischen Erbfeinden (»Jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Britt«). Überall in Europa standen Schlagbäume. Meine Söhne, meine Enkel kennen keine Schlagbäume mehr, keine verschiedenen Währungen, keine Erbfeinde. Das ist das Europa, um das es bei der Wahl in diesem Jahr geht. Ich aber möchte am liebsten Heinrich Heine abwandeln, im Hinblick auf den Mai 2019: »Denk ich an Europa in der Nacht …«
Ach, Europa.
»Migration und Populismus. MIDEM-Jahresbericht 2018«, 238 Seiten, Institut für Politikwissenschaft, TU Dresden