Macht die Politik, was die Wähler wollen, dann gähnt die Bevölkerung. Dieses Geschäftsmodell funktioniert eigentlich schon seit Ende des 1. Weltkriegs. Mal mehr, mal weniger. Jede Besorgnis hält sich in jenen Grenzen, die garantieren, dass man politische Macht nicht verliert und das Volk seine Wahlpflicht erfüllt und Ruhe bewahrt. In den Blättern für deutsche und internationale Politik beschäftigt sich Dr. rer. pol Moritz Kirchner unter dem Titel »Absturz mit Ansage: Die Linke in der Identitätskrise« mit dem derzeitigen Zustand der Linkspartei, die in den letzten Wochen vor der Wahl noch hoffte, gemeinsam mit der Sozialdemokratie und den überall, wo es nur geht, mitregierenden Grünen endlich einen Ministerposten zu ergattern. Ein Ministerinnenposten wär’s wohl nicht geworden, weil man ja der Frau Wagenknecht-Kimmich die Ausschlusskarte zeigen will.
Der Dr. rer. pol Kirchner: »Die Linkspartei hat sich auch immer als Protestpartei gegen die kapitalistischen Verhältnisse verstanden.« Von den notwendigen Maßnahmen allerdings, die den Kapitalismus endlich in die Wüste schicken könnten, war weder etwas zu hören noch zu lesen. Wer, wie die SPD, längst vergessen hat, wie man Kommunikation mit Frauen und Männern entwickelt, die Wählerinnen und Wähler dieser Partei sein könnten, kann eben fast nur Mandatarinnen und Mandatare für den Bundestag aufstellen, die man zum intellektuellen Teil unserer Bevölkerung zählen muss. Erfahrungen mit oder gar in der industriellen Arbeitswelt sind in dieser Fraktion nicht zu finden.
Diskussionen zur Frage von Betriebsbesetzungen sind genauso verpönt, wie die Forderung, endlich mit einem rigiden Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) dafür zu sorgen, dass in jedem Betrieb ein Betriebsrat gewählt werden muss. Interessensvertretung darf nicht, wie es leider landauf-landab zu häufig praktiziert wird, zur »Maskenprovisionseinkassierpolitik« verkommen. Es reicht auch nicht, irgendwo in einem Berliner Wahlbezirk einmal im Monat am Currywurststand so zu tun, als sei damit die basisnahe politische Arbeit erledigt.
Es wäre wirklich mehr als notwendig, sich mit der langen und erfolgreichen Geschichte der Kommunistinnen und Kommunisten in Österreichs zweitgrößter Stadt zu beschäftigen. Jahrzehnte konsequenter Arbeit, die die Probleme und Interessen der Menschen in Graz ernstnimmt und für Abhilfe sorgt, das wäre notwendig für eine linke Partei in Deutschland, die mit einem »weiter so« bald nur noch Geschichte, schlechte Geschichte sein wird (siehe hierzu schon meinen Beitrag »Von Graz lernen«, Ossietzky 20/2021).
Seit abhängige Beschäftigung zur Geschichte der Menschheit zählt, Arbeit also Werte schafft, haben die, auf deren Leistungen diese Werte beruhen, kein Recht, ihr Eigentum an den Produktionsmitteln, Gebäuden wahrzunehmen.
Ein wenig Geschichte gefällig? Nach Ende des ersten Weltkriegs, bei dem Millionen Menschen für nichts und wieder nichts auf den Schlachtfeldern Europas verbluteten, trafen sich vom 16. bis 21. September in Berlin die Arbeiter und Soldatenräte. Die damals durch die damalige Mehrheitssozialdemokratie angeführte Versammlung unter der Regie von Ebert und Scheidemann beschloss: »Der Kongress der Arbeiter und Soldatenräte beauftragt die Regierung, mit der Sozialisierung aller hierzu reifen Industrien, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen.« Dieser Antrag wurde mit 344 Stimmen zwar angenommen – aber niemals umgesetzt.
Auch nach Ende des 2. Weltkriegs scheiterte die Chance, eine andere Gesellschaftsordnung zu errichten. Dabei gab es, vor allem im Ruhrgebiet, Vergesellschaftungs-Forderungen, die mit Demonstrationen und Streiks einhergingen. Der Zonenausschuss der CDU für die britische Zone beschloss in seiner Tagung vom 1. bis 3. Februar 1947 in Ahlen sogar das »Ahlener Programm«. Dieses antikapitalistische Programm der CDU dürfte bekannt sein. Verdrängt und vergessen ist jedoch seit langem, dass damals die CDU für die Verstaatlichung von Großkonzernen und Banken plädierte. Auf einem CDU-Wahlplakat des Landesverbandes Berlin aus dem Jahr 1946 stand wörtlich: »Arbeiter der Stirn und der Faust! Wir stehen am Anfang einer Zeitenwende. Das bürgerlich-kapitalistische Zeitalter ist vorbei! Dem Sozialismus gehört die Zukunft! Arbeiter! Bist Du für eine sinnvoll gelenkte Planwirtschaft? Dann kämpfe mit uns für einen Sozialismus aus christlicher Verantwortung.«
Was aus dem ehrgeizigen »Programm« samt Wahlwerbung wurde, zeigt die tägliche Realität in diesem nicht-unserem Lande. Wer diesen Teil der Geschichte nach 1945 mit seinen vielen vertanen Chancen studieren will, kommt an Viktor Agartz (1897-1964) nicht vorbei. Vor mehr als 67 Jahren hielt er auf dem DGB-Kongress des Jahres 1954 in Frankfurt am Main eine dreistündige Rede und kritisierte scharf den Weg des DGB samt dessen Illusionen zur Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft. Den Kampf um eine Umgestaltung der Gesellschaft und Wirtschaft, so Agartz, hätten die Gewerkschaften schon fünf Jahre nach Gründung der Bundesrepublik verloren. Agartz nennt die betrieblichen Sozialleistungen »Industriefeudalismus«, der zu einer neuen Leibeigenschaft der abhängig Beschäftigten führe. »Sozialpartnerschaft« ist für ihn ein Schlagwort, das die Abhängigkeit der Arbeiter vom Kapital vernebeln soll, und die »Mitbestimmung« solle Klassengegensätze verschleiern.
Wer sich, wie DIE LINKE in Berlin, konsequent vor dem Thema Vergesellschaftung des Wohnraums drückte, um an den RotRotGrünen Machtfresströgen beteiligt zu werden, oder bei den vielen »Betriebsverlagerungen«, die tausende Arbeitsplätze kosten, nicht über ein windelweiches Sozialplangesäusel hinauskommt, der befindet sich nicht in einer »Identitätskrise«, nein, der hat komplett vergessen, dass wir ein anderes Gesellschaftssystem brauchen. Also, GenossinenGenossenParteitagsdelegierte, erhebt euch von den Sitzplätzen. Wir singen – Zwodrei:
Wenn wir bescheißen Seit an Seit
Immer nur Altneues singen
Und das Wahlvolk niederringen
Fühlen wir, es wird gelingen
Mit uns zieht die Lügenzeit
Mit uns zieht Betrügerzeit
Eine Woche Sozialabtrag,
eine Woche Kahlschlaglabern zittert noch in
Wahlversprechungslügenadern
Ja wir haben nix zu hadern!
Herrlich lacht Ozonlochtag,
herrlich lacht Ozonlochtag!
Güllegelb und glyphosatgiftgrün: Wie mit bittender
Gebärde fleht die alte Mutter Erde, dass der
Mensch vernünftig werde,
Hält verdorrte Hände hin,
Hält verdorrte Hände hin.
Mann und Weib und Weib und Mann sind
nur Ausbeutbarobjekte und verloschen ist das Feuer.
Um die Leiber legt kein neuer Frieden sich,
Wir sind pleite, Mann und Weib, sind nicht freier,
Wir sind pleite, Mann und Weib!
Sozialdemokratie die geht voran!
Wenn wir bescheißen Seit an Seit,
Immer nur Altneues singen,
Und das Wahlvolk niederringen,
Fühlen wir, es wird gelingen.
Mit uns zieht die Lügenzeit,
Mit uns zieht Betrügerzeit!
(Dieter Braeg, frei nach »Wenn wir schreiten Seit an Seit«, Text: Hermann Claudius, Musik: Michael Englert)
In NRW sind im Mai Landtagswahlen, nur einmal gelang es der LINKEN, dort in den Landtag einzuziehen. Für Mai 2022 ist eine krachende Niederlage zu erwarten, denn eine wirklich notwendige politische Arbeit wird kaum möglich sein. Frau Wagenknecht und Sevin Dagdelen, die über die NRW-Liste in den Bundestag eingezogen sind, werden in NRW in keinem Wahlkreis ein eigenes Büro eröffnen, um BürgerinBürger näher zu sein. Mit Talkschauauftritten allerdings wird es zumindest für Frau Wagenknecht demnächst mau ausschauen, bald herrscht auch für sie, die sich so gern den Erwerblosen und abhängig Beschäftigten zuwenden will, die »2G-Diktatur«.