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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Absurditäten und Perspektiven 25 Jahre danach

Am 2. Janu­ar berich­te­ten die Zei­tun­gen des Mad­sack-Kon­zerns unter der Über­schrift »Nur noch ein Paket­dienst pro Stra­ße?« über den Vor­schlag des Betriebs­rats der Deut­schen Post AG, dafür zu sor­gen, dass es künf­tig in jedem Zustell­ge­biet nur noch Fahr­ten eines ein­zi­gen Dienst­lei­sters geben sol­le: »Es ist nicht mehr zeit­ge­mäß und nicht gut für die Luft, wenn in ein und der­sel­ben Stra­ße fünf, sechs ver­schie­de­ne Paket­zu­stel­ler vor­fah­ren und aus­lie­fern«, wird der Betriebs­rats­vor­sit­zen­de Tho­mas Koc­zel­nik dort zitiert. In einer »kon­so­li­dier­ten Zustel­lung« soll­te jeweils eine Fir­ma die Pake­te der lie­ben Wett­be­wer­ber über­neh­men und gegen Ent­gelt zustel­len. Die Reak­ti­on kam umge­hend: Der Wett­be­wer­ber Her­mes lehn­te das ab, weil es »den Wett­be­werb abbrem­sen« wür­de, und außer­dem sei­en die Aus­lie­fe­rungs­fahr­zeu­ge ihres Unter­neh­mens gut gefüllt.

Jemand, der die letz­ten 25 Jah­re ein­ge­fro­ren über­dau­ert hät­te, hät­te die­se Mel­dung ent­we­der absurd gefun­den oder viel­leicht gar nicht ver­stan­den. Denn vor einem Vier­tel­jahr­hun­dert war das Vor­ge­schla­ge­ne Nor­ma­li­tät: Die Aus­lie­fe­rung von Brie­fen, Post­kar­ten und Pake­ten war Sache der Deut­schen Post, die damals noch kei­ne AG war, und es galt das Prin­zip: eine Stra­ße – eine Zustellung.

Die­se Zei­ten sind vor­bei. Die Pri­va­ti­sie­rung der Deut­schen Post, die zu der Absur­di­tät kon­kur­rie­ren­der Aus­lie­fe­rungs­dien­ste für jede Stra­ße und jedes Dorf geführt hat, gehört zu der Serie von Nie­der­la­gen, die der Epo­chen­nie­der­la­ge des gro­ßen sozia­li­sti­schen Ver­suchs von 1989/​90 folgte.

Mit Beschluss des Deut­schen Bun­des­ta­ges vom 29. April 1994 – regiert wur­de das Land damals von einer Koali­ti­on aus CDU/​CSU und FDP unter Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl – wur­de trotz hef­ti­ger Gegen­wehr vie­ler Gewerk­schaf­ter zum 2. Janu­ar 1995 die Deut­sche Post AG gegrün­det – eine Akti­en­ge­sell­schaft anstel­le der vor­her exi­stie­ren­den drei öffent­li­chen Unter­neh­men der Deut­schen Bun­des­post – Post­bank, Post­dienst und Telekom.

Gegrün­det wur­de die Deut­sche Bun­des­post, deren Geschich­te als öffent­li­che Ein­rich­tung vor 25 Jah­ren ende­te, als Rechts­nach­fol­ge­rin der Deut­schen Reichs­post im Jah­re 1950 – par­al­lel zur Deut­schen Post der DDR. Sie über­nahm hoheit­li­che Auf­ga­ben und gewähr­lei­ste­te mit zuletzt rund einer hal­ben Mil­li­on Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern den rei­bungs­lo­sen Ver­sand von Post­kar­ten, Brie­fen, Pake­ten und Päck­chen, spä­ter auch die Ver­sor­gung mit Tele­fo­nen und gün­sti­gen Finanzdienstleistungen.

1989 erfolg­te die Ein­glie­de­rung der Deut­schen Post der DDR in das nun­mehr wie­der gesamt­deut­sche Post­we­sen. Zu dem Zeit­punkt war der Höhe­punkt der Anzahl von Filia­len erreicht: Fast 30.000 gab es davon vom Rhein bis zur Oder. Die Zahl hat sich bis zum ersten Halb­jahr 2019 auf knapp 13.000 mehr als hal­biert, wie kürz­lich eine Anfra­ge der Bun­des­tags­frak­ti­on Die Lin­ke ergab. Aller­dings: Wäh­rend die frü­he­ren Post­fi­lia­len den gesam­ten Umfang der Post­dienst­lei­stun­gen anbo­ten, sind heu­te 92 Pro­zent der genann­ten Filia­len nur noch soge­nann­te Post­agen­tu­ren in Super­märk­ten und Läden, in denen Brief­mar­ken gekauft und auch Ein­schrei­ben abge­ge­ben wer­den kön­nen – aber viel mehr eben nicht.

Auch die Anzahl der Brief­kä­sten ist seit­dem im Sink­flug – jetzt sind es noch 110.000. Davon gibt es selbst in grö­ße­ren Dör­fern in der Regel nur noch einen, und auch die Wege in den Städ­ten bis zum näch­sten gel­ben Kasten haben sich deut­lich ver­län­gert. Die Zuver­läs­sig­keit der Zustel­lung hat gelit­ten, seit­dem die Lee­rung der Kästen viel­fach nicht mehr durch Beam­te oder wenig­stens tarif­lich fest ange­stell­te Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter geschieht, son­dern oft­mals durch Fremd­fir­men und in nicht ganz weni­gen Fäl­len auch durch Taxi­fah­rer, die sich so ein Zubrot verdienen.

Bis zur Pri­va­ti­sie­rung wur­den die Dien­ste der drei Kern­be­rei­che der Post in der Regel von Beam­ten mit nicht immer üppi­gen, aber doch aus­kömm­li­chen Löh­nen oder wenig­stens von tarif­lich fest und meist unbe­fri­stet ange­stell­tem Per­so­nal gewähr­lei­stet. Heu­te sind vor allem bei den Kon­kur­ren­ten der Post – Her­mes eben und ande­re – Beam­te selbst­re­dend über­haupt nicht unter­wegs, aber unbe­fri­stet ange­stell­te und ordent­lich ent­lohn­te Men­schen eher die Aus­nah­me als die Regel. Die Zahl der Mit­ar­bei­ter der Post Akti­en­ge­sell­schaft liegt zwar wei­ter­hin bei über einer hal­ben Mil­li­on – davon arbei­ten die mei­sten inzwi­schen aber im Aus­land; in Deutsch­land sind es weni­ger als eine Vier­tel­mil­li­on. Die Arbeit für die­je­ni­gen, die Infor­ma­tio­nen und Pake­te ver­tei­len, hat sich inten­si­viert und ist im Schnitt rela­tiv zur Gesamt­lohn­ent­wick­lung der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung schlech­ter bezahlt als vor 1995.

Auf der Gewin­ner­sei­te der Pri­va­ti­sie­rung ste­hen vor allem zwei Grup­pen: Das ist zum einen das obe­re Manage­ment, das sich erfolg­reich aus dem aus ihrer Sicht zu engen Kor­sett der Beam­ten­ver­gü­tung befrei­en und in die lich­ten Höhen der Bezah­lung von Vor­stän­den von Akti­en­ge­sell­schaf­ten empor­schwin­gen konn­te. Eini­gen ist davon ganz schwin­de­lig gewor­den – so zum Bei­spiel dem lang­jäh­ri­gen Post­chef Klaus Zum­win­kel, der den gesam­ten Pri­va­ti­sie­rungs­pro­zess seit 1990 maß­geb­lich orche­strier­te, aber 2008 nach Vor­wür­fen der Steu­er­hin­ter­zie­hung zurück­tre­ten muss­te. Zum zwei­ten haben die­je­ni­gen pro­fi­tiert, die mit ruhi­ger Hand die Ent­wick­lung der Akti­en­kur­se ver­folgt und für sich gewinn­träch­tig ver­wer­tet haben. Aus­drück­lich nicht gilt das für die­je­ni­gen, die Mit­te der 90er Jah­re den Ver­lockun­gen der Pri­va­ti­sie­rung gefolgt und sich mit Tele­kom-Akti­en ein­ge­deckt hat­ten – bis die T-Aktie Anfang der 2000er Jah­re von 100 auf unter 10 Euro abstürz­te. Absah­ner der dann fol­gen­den Mas­sen­ver­käu­fe waren die­je­ni­gen, die nun dicke Akti­en­pa­ke­te an der Post AG besit­zen – sechs Pro­zent davon übri­gens die Fonds­ge­sell­schaft BlackRock.

Wie wird es jen­seits der Nost­al­gie über die gesamt­ge­sell­schaft­lich orga­ni­sier­te und nicht dem Pro­fit­prin­zip unter­wor­fe­ne Post weitergehen?

Der eng­li­sche Mar­xist Nick Srnicek hat in sei­nem Buch »Plat­form Capi­ta­lism« dar­auf hin­ge­wie­sen, dass der Kapi­ta­lis­mus in sei­ner Nie­der­gangs­pha­se die Daten selbst (ähn­lich wie das Eisen­erz in sei­ner Auf­stiegs­pha­se) als Roh­ma­te­ri­al der Pro­fit­ma­che­rei nutzt. Wer über die Maschi­nen zur Aus­wer­tung von Daten der Men­schen eines oder gar meh­re­rer Kon­ti­nen­te ver­fügt, ihre Anschrif­ten, Bedürf­nis­se, ihre Gewohn­hei­ten und ihre Kauf­kraft kennt, besitzt einen Schlüs­sel für die Rea­li­sie­rung von Mehr­wert. Sol­che Roh­da­ten lie­fert aber jeder, der einen Brief oder ein Paket ver­sen­det. Das Geschäfts­mo­dell der Fir­ma Black­Rock, die der Autor Wer­ner Rüge­mer in sei­ner Betrach­tung der »Kapi­ta­li­sten des 21. Jahr­hun­derts« (sie­he Ossietzky 3/​2019) für einen der zen­tra­len Akteu­re des heu­ti­gen Kapi­ta­lis­mus hält, beinhal­tet unter ande­rem die maschi­nel­le Ver­wer­tung von Infor­ma­tio­nen. In der Tat könn­ten die Per­spek­ti­ven des Post­we­sens in den vor uns lie­gen­den Rest­jahr­zehn­ten des kapi­ta­li­sti­schen Systems dar­in bestehen, den Trans­port von Brie­fen, E-Mails oder Päck­chen als Vehi­kel, als eine Art Kol­la­te­ral-Vor­aus­set­zung der Gewin­nung von Daten zu nut­zen. Der Wider­spruch zwi­schen der Zuver­läs­sig­keit des frü­her kosten- und kli­ma­gün­stig gesamt­ge­sell­schaft­lich orga­ni­sier­ten Infor­ma­ti­ons­trans­ports und der Aus­beu­tungs­fä­hig­keit die­ser Dienst­lei­stung wür­de zuneh­men – aber eben auch die Pro­fit­mög­lich­kei­ten sol­cher moder­nen Kapi­ta­li­sten wie Black­Rock und anderer.