Der bizarre Wahlkampf um das Amt des US-Präsidenten neigt sich langsam dem Ende zu. Zum Redaktionsschluss zeichnet sich ein Amtswechsel von Donald Trump zu Joe Biden ab. Im Ärmel hat Trump allerdings noch eine Karte oder, um in den Bildern kitschiger Western zu bleiben, ein Messer im Stiefel. Am 23. September hatte der Amtsinhaber auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus die Garantie verweigert, das Amt zwischen dem 3. November – dem Tag der Wahlen – und dem 20. Januar, also dem traditionellen Tag der Übertragung der Präsidentenwürde, an Biden zu übergeben.
Klar ist schon länger: Trump kämpft nicht um eine Mehrheit der Stimmen – die hatte er schon beim ersten Mal nicht. Trump kämpft – mit den Erfolgsrezepten seines Sieges über Hillary Clinton – nur um die Mehrheit der Wahlmänner am Abend des 3. November. Er spekuliert zum einen darauf, dass durch die traditionellen Hürden des US-Wahlsystems und die allgemeine Resignation viele farbige und sozial deklassierte Amerikaner den Wahlurnen fernbleiben, und zum anderen darauf, dass dank Corona mehr Wähler der Demokraten die Briefwahl bevorzugen als Wähler der Republikaner. Also greift Trump schon länger die Briefwahl als Teil des Wahlrechts an: Keine Briefwahl, keine Niederlage, kein Auszug aus dem Weißen Haus.
Abgesichert wird diese Linie gegenwärtig dadurch, dass die angestrebte Ernennung der erzkonservativen Amy Coney Barrett zur neuen Verfassungsrichterin noch vor dem 3. November eine Mehrheit dieses Gremiums sicherstellen soll, das im Zweifelsfall den Ausschlag über die Anerkennung des Wahlergebnisses gibt.
Das könnte als Folklore abgetan werden, aber da passiert mehr. Das allgemeine Wahlrecht war und ist der herrschenden Klasse immer nur so lange heilig, wie es ihre Macht sichert. Daran konnte sich jeder, wenn er denn wollte, im September erinnern, als sich die Amtsübernahme von Salvador Allende zum fünfzigsten Male jährte, die bekanntlich drei Jahre später im Blutbad eines faschistischen Putsches endete.
Eine Anerkennung der Verschiebung der Machtverhältnisse weg von dem seit 1792 gewährleisteten Zugriff der weißen christlichen Männer auf die Schalthebel des Staatsapparates hin zum Abenteuer einer bunten Mehrheit von »Niggern«, Latinos und ungläubigen Frauen ist dabei nicht vorgesehen. Droht eine solche Verschiebung, wird die herrschende Klasse eher das allgemeine Wahlrecht schleifen als sich auf dieses Abenteuer einlassen.
Zu erwarten ist daher für die nächsten Jahre ein heftiger Ideenwettbewerb, wie das allgemeine Wahlrecht so zurechtgestutzt werden kann, dass es die Machtausübung der herrschenden Klasse möglichst wenig behindert. Da kommt alles an die Brainstorming-Pinnwand: Dreiklassenwahlrecht, Hürden der Wahlregistrierung nach Bildung und sozialer Lage der Wahlbezirke, Zuschnitt der Wahlbezirke, planmäßiges Hineintreiben der Deklassierten in die politische Dauer-Resignation und das Hochloben der antiken Demokratie mit ihrer wie selbstverständlich zelebrierten Ausgrenzung der Sklaven (Sklavinnen sowieso).
Die Präsidentschaftswahlen in den USA bleiben also spannend – auch über den 3. November hinaus.