Zwei offene Briefe liegen auf dem Tisch. Von Sorge getragen, die Kriegshandlungen könnten eskalieren und zu einem dritten Weltkrieg führen: Alice Schwarzer, Andreas Dresen, Martin Walser, Juli Zeh. Von Empathie und Solidarität mit den Ukrainern bestimmt, die »unsere Sache« verteidigen: Hertha Müller,
Daniel Kehlmann, Matthias Döpfner, Antje Rávik Strubel. So zerrissen sind wir heute.
Kein vernünftiger Mensch wird den Ukrainern, die von einem rücksichtslosen Aggressor überfallen wurden, sein Mitgefühl und seine Solidarität verweigern. Aber die Konsequenzen, die auf beiden Seiten gezogen werden, können unterschiedlicher nicht sein:
»Der Gefahr einer atomaren Eskalation muss durch glaubwürdige Abschreckung begegnet werden.«
»Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben.«
Abschreckung oder Kapitulation. Und die Befürworter des bewaffneten Kampfes scheinen die Oberhand zu gewinnen. Sie haben starke Argumente.
Der Nationalsozialismus in Deutschland konnte nur durch einen beispiellosen, weltweiten militärischen Kraftakt besiegt werden. Nicht, soweit er Ideologie war, Ideologien lassen sich nicht mit Waffengewalt besiegen, sondern nur durch die klare Sonne der Vernunft. Besiegt und mit aller Härte zerschlagen wurden der von der braunen Pest verseuchte Staatsapparat, seine militärische Macht, seine Organisationen und Symbole. Die Opfer, die dieser Sieg gekostet hat, liegen in langen Reihen auf den Soldatenfriedhöfen überall im ehemaligen Kriegsgebiet. Das Mahnmal für die gefallenen Sowjetsoldaten im Treptower Park ist einer davon.
Ein Gleichgewicht der Abschreckung war es, das die verhältnismäßig lange Periode des Friedens in Europa absichern half. Aber, bitte, was war das für ein Frieden? Einer, der sich selbst auf Kosten der anderen mästete, die Konfliktherde, die überall auf der Welt brannten, nicht zählte, der ignorierte, dass er selbst in einer explosiven Konfrontation erstarrte, blind vor den Konsequenzen des eigenen Tuns.
Das Leid und die Zerstörungen, die jeder Kriegstag kostet, sprechen gegen diesen Weg. Das Land wird verwüstet, die Städte werden zerstört, die jungen Männer werden verheizt in einem sinnlosen Kampf, den sie nicht gewinnen können, Frauen, Kinder und Alte sind auf der Flucht.
Ein Präsident, der sein Land liebt, könnte auch kapitulieren. Das wäre keine Feigheit, sondern der Mut, auf den langen Weg der demokratischen Entwicklung zu vertrauen.
Ein Land, das den Frieden liebt, könnte sich auch weigern, Waffengeschäfte zu machen und Panzer in ein Kriegsgebiet zu liefern.
Was Abschreckung in letzter Konsequenz bedeutet, haben die beiden Atombomben gezeigt, die am 6. und dem 9. August 1945 in Hiroshima und Nagasaki gezündet wurden. Was muss noch passieren, um den Einsatz von Atomwaffen ein für alle Mal zu ächten? Um die Welt zu einer Umkehr zu bewegen, weg von dem fatalen, archaischen Übermächtigungsprinzip durch militärische Gewalt zu einem Prinzip von Konfliktbeilegung und -lösung, so schwierig das auch sein mag? Daniel Kehlmann hat mit seinem Tyll das beste Buch darüber geschrieben, was ein Leben zu Kriegszeiten bedeutet. Und nun will er die Büchse der Pandora öffnen und befürwortet Abschreckung und Krieg?
Gebraucht werden der Dialog als wichtigste friedenserhaltende Maßnahme, Abrüstung, eine internationale Friedensordnung, eine gleichberechtigte Politik aller Staaten, internationale Verträge und Kooperation, eine auf weltweiten Ausgleich sozialer und wirtschaftlicher Disproportionen zielende globale Wirtschaftspolitik, ein modernes weltweites Friedens-, Gesundheits- und Klimamanagement durch eine globale Verantwortungsgemeinschaft, wie wir sie in der UNO bereits haben. Abrüstung weltweit, das ist das Gebot der Stunde. Und eine globale Friedenspolitik.
Deutschland kann auch die Lehre aus seiner Geschichte ziehen, dass ein verlorener Krieg der Beginn einer demokratischen Entwicklung sein kann. Selbst Besatzungsmächte, so unterschiedlich sie sind, können die Entwicklung nicht auf Dauer verhindern.
Der Tag der Befreiung jährte sich jüngst zum 77. Mal. Nutzen wir die Chance, die er uns gab, ziehen wir die Lehren aus der Geschichte. Reden wir miteinander. Zunächst einmal hier unter uns.