Am 28. November jährt sich der 200. Geburtstag von Friedrich Engels. Er und sein Freund Karl Marx wiesen 1848 mit dem »Manifest der Kommunistischen Partei« einen Weg zur Überwindung der unsozialen Schattenseiten des Kapitalismus: Unterdrückung und Ausbeutung nach innen, Aggressivität und Krieg nach außen. Um Krieg in Europa zu verhindern, hob Engels nachdrücklich Deutschlands Verantwortung für den Frieden in Europa hervor und schrieb 1893 auf Bitte August Bebels die Artikelserie »Kann Europa abrüsten?«. Darin erklärte er der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, wie sie die Regierungsvorlage von 1893 über weitere Gelder für Rüstung und Militär zu Fall bringen könne. Seine damaligen Aussagen zu deutscher Verantwortung für die Verhinderung eines Krieges in Europa verdienen neue Aufmerksamkeit. Im Unterschied zu den Regierenden nannte Engels, wer die wichtigsten Akteure für Abrüstung, Frieden und Sicherheit sind:
»Seit 25 Jahren rüstet ganz Europa in bisher unbekanntem Maß.« Es »rufen in allen Ländern die Volksklassen, die fast ausschließlich die Masse der Soldaten zu stellen und die Masse der Steuern zu zahlen haben, nach Abrüstung. … Gibt es denn keinen Ausweg aus dieser Sackgasse außer durch einen Verwüstungskrieg, wie die Welt noch keinen gesehen hat? Ich behaupte: Die Abrüstung und damit die Garantie des Friedens ist möglich, sie ist sogar verhältnismäßig leicht durchführbar, und Deutschland, mehr als ein anderer zivilisierter Staat, hat zu ihrer Durchführung die Macht wie den Beruf.«
Wie hat die regierende BRD-Elite nach dem Ende des Kalten Krieges in Europa diese Verantwortung wahrgenommen? Als die Völker endlich auf einen dauerhaften Frieden hofften, erließ die deutsche Bundesregierung 1992, zwei Jahre nach Eingliederung der DDR in die BRD, neue »Verteidigungspolitische Richtlinien für die Bundeswehr« (VPR). Danach können deutsche Interessen – wessen Interessen sind das? – auch mit militärischer Gewalt durchgesetzt werden. Und das genau 99 Jahre nach dem Aufruf von Friedrich Engels zur Abrüstung und 57 Jahre nach Annahme der UN-Charta zur Verhinderung von Kriegen. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erklärte sich der USA-Imperialismus nach Wegfall seines Erzfeindes Sowjetunion zur »einzigen Weltmacht« (Brzezinski 1997) und rief die Welt 2001 zum »Krieg gegen den Terror« auf. Deutsche VPR und amerikanischer »Krieg gegen den Terror« führten seitdem zu einer andauernden Rüstungseskalation einschließlich neuer Atomwaffen. Duldung, Teilhabe und Teilnahme an Aggressionen in Nahost, Afrika, Lateinamerika machten die BRD zum »willigen« Helfershelfer der USA gegen jeden Staat, der den USA Paroli bietet – Flüchtlingsströme sind das Ergebnis. Machtbesessen verlangt die deutsche Militärministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) wie einst die kaiserliche Regierung 1893 mehr Milliarden für neue Kampfbomber, und das angesichts gestiegener Kosten durch die Corona-Pandemie.
Welche Männer, Frauen und Kinder welchen Landes in Europa und der Welt brauchen diese und ähnliche Mordwerkzeuge? Friedrich Engels forderte, die Völker zu Krieg und Frieden zu befragen. Zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels sollten alle Friedensorganisationen eine deutschlandweite Volksbefragung durchführen: Willst du, dass die deutsche Regierung die Bundeswehr weiterhin mit Steuergeldern für amerikanische sogenannte Antiterrorkriege aufrüstet? Antwortet die Mehrheit: »Nein, das will ich nicht«, ergeben sich weitere Fragen: Auflösung der NATO, Konversion der Rüstungsindustrie, Umwandlung der Rüstungsarbeitsplätze in für die Bevölkerung wichtigere zum Schutz von Umwelt, Klima und so weiter.
Engels Behauptung, Abrüstung sei die Garantie des Friedens, ist tiefer auszuloten. Die Rüstungsindustrie der BRD bindet circa 320.000 qualifizierte Arbeitskräfte. Sie werden in anderen Berufszweigen dringend benötigt. Die industriell-technischen Einrichtungen können entsprechend den Konversionszielen weiterentwickelt werden, und mit deren Produkten kann ein blühender Handel in industriell wenig entwickelten Ländern erfolgen. Darüber nachzudenken braucht es nur guten Willen zum ehrlichen Handel mit armen Staaten.
Bundeskanzlerin Merkel sagte Ende Mai, wenn Deutschland und Frankreich bei der Lösung der Corona-Probleme vorangingen, die anderen EU-Staaten würden folgen. Das ist fast der Wortlaut bei Engels (…wenn Deutschland voranginge …), Frau Merkel formuliert de facto über Friedrich Engels hinaus. Beide Länder haben Jahrzehnte Kriege gegeneinander geführt, beide sind »zivilisierte«, also hoch entwickelte Industriestaaten, sie haben beide alle Voraussetzungen, sich in Europa politisch an die Spitze zu setzen.
Wenn Deutschland und Frankreich erklären würden, sie werden in den nächsten zwölf Monaten zur Sicherung des Friedens in Europa und als Beispiel für die Welt ihr Militär auf Grenzschutz reduzieren, Rüstungsforschung und Rüstungsproduktion beenden und keinen Waffenhandel mehr betreiben – ja, andere Staaten würden folgen.
Sicherheitsbedenkenträger mögen sich zwei Fragen beantworten: Welcher Staat bedroht die Bundesrepublik? Welches Land könnte Deutschland und/oder Frankreich militärisch überfallen? Die internationale Kooperation der Völker gegen Klimaverbrechen und in der Corona-Pandemie würde eine weltweit konkret handelnde Friedensbewegung hervorbringen. Was seit den VPR von 1992 an neuer deutscher Verantwortung in Europa und der Welt geredet wird, bekäme einen friedenspolitischen Inhalt der Tat und bliebe nicht bei Friedensfloskeln stehen. Das schon immer brüchige ideologische Kartenhaus, mehr Rüstung bringe mehr Sicherheit, würde sichtbar für jedermann in sich zusammenbrechen. Das »Sichtbar-für-jedermann« wird zum Kriterium des Friedens, weil Menschen und Material zur Mehrung und Ausgestaltung von Leben aller eingesetzt werden könnten: mehr Lehrer, mehr Schulen, mehr Ärzte, Krankenschwestern, Hebammen, Kulturhäuser, medizinische Forschung. Das wäre eine Aneignung der Natur und ihrer Schätze, die das Leben der Menschheit bereichert. Slums und Elendsviertel in der Welt würden mit Hilfe der reichen Großmächte zwar langsam, aber stetig verschwinden.
Eine solche Welt zu schaffen, dazu heißt es bei Engels, hat »Deutschland die Macht und den Beruf«. Um welche Art von Macht geht es? Engels meint die Macht des Geistes, der Erfindungen, die Macht einer großen humanistischen Tradition in Wissenschaft und Kultur. Deutschland hat »den Beruf«, die Fähigkeiten, gesellschaftlichen Fortschritt zu erkennen und anzupacken – nicht zu Profit und Gewinnen großer Monopole, sondern zum Nutzen der Bevölkerung. Zu Macht und Beruf Deutschlands gehört auch, bei der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft die Visionen der Altvorderen als Zielvorgabe aufzunehmen, von ihnen schon einmal Erreichtes neu aufzugreifen sowie ihre Fehleinschätzungen und Irrwege als Lehren einzubeziehen, vorurteilslos. Wer mit Engels die Abschaffung von Rüstung und Militär als einzig wirksame Garantie für dauerhaften Frieden anerkennt, der weiß auch, dass die heute herrschenden politischen Eliten zu wenig von Friedrich Engels gelesen haben. Nur die aufwachenden Völker können verhindern, dass von ihren Steuern überflüssige Waffenfabrikanten und Militärs ernährt werden, während die Zahl der Armen weltweit wächst.
Friedrich Engels und Karl Marx standen an einer mehr als hundert Jahre dauernden Schwelle einer großen gesellschaftlichen Umwälzung. Mit ihrer Analyse des ökonomischen Gesellschaftssystems Kapitalismus und ihrem Programm zur Bewahrung des dynamischen und schöpferischen Charakters dieses Systems, mit »Kapital« und »Manifest der Kommunistischen Partei«, haben beide zwei Werke vorgelegt, die 2013 von der UNESCO dem »Memory of the world« (dem Gedächtnis der Welt) zur Erhaltung des dokumentarischen Erbes der Menschheit zugeordnet worden sind. Die schöpferischen Potenzen des Kapitalismus werden die Völker nur dann erreichen, wenn die Welt im Frieden miteinander lebt. Dazu hat Deutschland die Pflicht. Lernen wir endlich, das Denken von Marx und Engels in Handeln der Völker für die Völker umzusetzen.