Der Lyriker Thomas Böhme verfasst nicht nur bezaubernde und lange im Leser nachklingende Gedichte, sondern auch gewichtige Romane. »Gewichtig« kann im Falle dieses sprachmächtigen Mannes nur »bedeutungsvoll« heißen. Das sind Romane wie »Die Einübung der Innenspur« (1990) oder »Der Schnakenhascher« (2013). In seltsame Welten versetzen sie einen, seltsam, weil sie so real sind, dass man alles zu kennen glaubt, weil sie andererseits so fantastisch sind, dass man meint, so etwas existiere nur in der Einbildung. Er könne, so schrieb Thomas Böhme, nur mittels Parodie das ihn Belastende bannen. Setzt man das in Beziehung zu seinem neuen Roman »Grünlaken«, dann müssen die Lasten groß sein, denn Parodie scheint hier alles zu sein. Gebannt werden die Lasten auf hohem literarischem Niveau und in vielen Passagen amüsant bis witzig. Immer unter der Devise: »Denn eine gespenstige Welt ist das, in der man nicht mal mehr seinen eigenen Tagebüchern trauen kann.«
Nein, trauen kann man niemandem und nichts in Böhmes Grünlaken-Welt. Denn es ist nicht einmal sicher, ob es diesen Ort überhaupt gibt. Gesucht wird er von einer, das versteht sich, ziemlich verdächtigen Existenz. Das ist Andreas Hahn, der sich lieber Adrian Gallus nennt. Anspielung folgt in diesem Roman auf Anspielung, doch man schöpft diesen Reichtum wohl nicht aus. Denn immer wieder legt der Autor neue literarische Fährten in die klassische Abenteuerliteratur, denen man folgen möchte, aber es ist souverän gehandhabte Parodie, man steht am Ende vor Spiegeln. Der Lesegenuss, der hier bereitet wird, entsteht, weil man diesen Trittspuren nachspüren kann.
Wie es sich für Thomas Böhme gehört, hat auch die Rockmusik ihr Insiegel hinterlassen. »WHITE ROOM« heißt ein Kapitel – und schon flammt der berühmte Song von Cream in einem auf, aber WHITE ROOM könnte auch ein klinischer Raum sein oder der Sektionssaal, in dem Hahn-Gallus sich befindet. Immerhin kann er in einer Randnotiz noch beteuern, dass er das gar nicht geschrieben habe und nicht wisse, wie der Text in sein Heft gekommen sei.
Das Verwirrspiel in immer neuen Facetten (wobei mitunter des Guten fast zu viel daherkommt) schafft die nötige Ironie, und in ihrem Gebrauch ist der Autor ein Meister. Deren Schärfe lindert erstaunlicherweise den Wundschmerz, den dieser Text erzeugen kann. Denn Hahn-Gallus scheint durch ein Totenreich, eine Unterwelt zu reisen, wo alles schattenhaft wird: »Ich blickte geradewegs in das starre Kobra-Auge einer Überwachungskamera (…) Draußen schlichen Soldaten in Tarnanzügen zwischen den Bunkern herum. In den Bäumen hingen Lautsprecher, aus denen Mindnight Rambler von den Rolling Stones, blechern verunstaltet, tönte.« »Mindnight Rambler« – Irrtum, Tippfehler oder Teil von Böhmes parodistischem Spiel? Denn diesem Roman wäre auch ein solcher Titel gemäß, statt des »korrekten« Midnight Rambler, wo in Mick Jaggers Text ein Hahn kräht, wo es auch um das Töten geht. Dass im Roman Tote auferstehen können, ist also fast tröstlich. Doch bleibt die Frage, was Hahn-Gallus mit den höchst verdächtigen Vorgängen in einem von ihm mitbegründeten Forschungsinstitut zu tun hat, ob er nicht gar dessen eigenartigen Chef auf dem Gewissen hat. Denn seine Reise ist eine Flucht, dauernd wird er verhört. Die Vernehmungen, deren Protokolle mitgeteilt werden, sind von einer solchen Absurdität, dass sie schon wieder ganz real wirken. Dies ist überhaupt ein Vorzug des Romans, dass die Wirkung des Grotesken, Fratzenhaften immer die der Wirklichkeit ist. Das trifft für die Kindheitserinnerungen ebenso zu wie für die Schilderungen der Gegenwart oder der nahen Vergangenheit, die ebenfalls ständig präsent ist.
Böhme spannt einen weiten Bogen, die Fluchtwanderungen seines Protagonisten führen durch eine zerfallende Welt aus Randzonen, Sperrgebieten und Ruinen. Auch wenn es eine Abenteuerreise ist, ein Road-Movie fast, mit vielen Spuren, die auch eine staunenswerte Belesenheit des Autors erkennen lassen und dessen Fähigkeit zur Verwandlung von Literatur, so verrät der Text doch die Sehnsucht nach einer Festigkeit, etwa, wenn auf den Apostel Paulus (Römer 8) oder Johann Joachim Winckelmann, den »Schönen Jüngling«, rekurriert wird.
Um den Schabernack auszukosten, müsste man den Roman einmal lesen, dann das zweite Mal, um den Abenteuerfährten zu folgen, ein drittes Mal, um dem gewaltigen Bild- und Sprachreichtum gerecht werden zu können. Mit welchen Absichten auch immer jemand sich an die Lektüre macht: Er wird auf seine Kosten kommen und sich bereichert finden. Und man hält ein schön gestaltetes Buch in Händen, das darf man dem Leipziger poetenladen-Verlag dankbar sagen.
Thomas Böhme, Grünlaken, Roman, poetenladen 2022, 224 S., 22,80 €.