Den Tirolern, geografisch heute in der Republik Österreich lebend, wird eine Lustigkeit nachgesagt, die, nimmt man das Kinderlied für bare Münze, bis zum Irrsinn gehen kann. Lustig und froh, wie sie also sind, heißt es da, verkaufen sie, wenn sie ein Gläschen getrunken haben, »ihr Bettchen und schlafen auf Stroh«. Dass auch die Südtiroler, geografisch heute in der Republik Italien lebend, von ähnlichem Irrsinn befallen werden können, hat sich dieser Tage einmal mehr gezeigt.
Pünktlich zum Jahreswechsel hatte der Südtiroler Schützenbund sein neues Projekt »Mamma Tirol« als YouTube-Video vorgestellt, mit dem Landeskommandanten Major Jürgen Wirth Anderlan als Rapper. Hier einige Textauszüge des zehn Strophen umfassenden Songs, von Anderlan persönlich aus dem Dialekt ins Hochdeutsche übertragen:
»Früher hatten in Tirol die Menschen noch Vision / Heute leben wir im Süden in der falschen Nation / Umgeben von Lügnern, mein Nachbar ein Spion / Und ich mittendrin, der daitsche coglion (Anm. K.N.: Coglion = Idiot).
Sie werden immer mehr diese Heimatverräter / Nicht mal Respekt vor ihren eigenen Vätern / Sie kennen nicht den Ander (Anm. K.N.: Ander = Andreas Hofer), dafür die Greta / Im Park vor meinem Haus liebt der Dieter den Peter.
Coolnessmäßig platzt das Land aus allen Nähten / Aber wo sind die Typen die unsre Werte noch vertreten / Migranten, Studenten und viele Propheten / Vergessen ihre Wurzeln und retten Planeten.«
Ein Sturm brach los. Alle Vorbildwirkungen, die die Tiroler Schützen für sich beanspruchen, gerieten unter den Generalverdacht von Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Revisionismus. Und der Verfasser setzte auf den einen Schelm noch einen anderthalben, indem er sich, vom Rappel übermannt, brüstete, sein Song beinhalte die »DNA des SSB«, also die Erbanlage des Südtiroler Schützenbundes.
Prompt stiegen die Rapper Casa Roccia und Berise in den Schützengraben und reagierten, wie es sich für Battle-Rapper gehört, innerhalb von 24 Stunden mit einem Diss-Track, ebenfalls in Südtiroler Mundart: »Weil wir für ein offenes Südtirol sind, wo jeder Teil der Gesellschaft sein kann, egal welcher Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung.«
Ebenso schnell reagierte der Bund der Tiroler Schützenkompanien mit scharfer Kritik. Die Bundesleitung sah sich zur Schadensbegrenzung aufgerufen und erklärte postwendend, dass die Schützen weiterhin für ihre Werte einstünden, »wie die Treue zu Gott, Festhalten am christlichen Glauben – überlieferter Väterglaube – und am geistig-kulturellen Erbe der Vorfahren«, aber auch, natürlich, für »den Schutz der Heimat, der Tiroler Lebens- und Wesensart« sowie, nicht zuletzt, für die Einheit des Landes Tirol«.
Anderlan blieb nichts anderes übrig, als »nach eingehender Diskussion in der Sitzung der Bundesleitung« von seinem Amt als Landeskommandant zurückzutreten. Zu toxisch war das Gebräu, das er angerührt hatte. Die Kritiker hatten auch gerügt, dass die Inhalte des Schützen-Rapps nicht nur auf die Südtiroler Schützen (= Italien. K.N.), sondern »auch auf die Schützen Ost- und Nordtirols (= Österreich. K.N.) reflektieren«. Noch immer ist die 100 Jahre alte Wunde der Abtrennung Südtirols von Österreich nach dem Ersten Weltkrieg nicht geheilt, und im »Auslandstirol« im Süden wollen immer noch einige es den Wildgänsen nachtun und – bildlich gesehen – nach Norden ziehen. Andreas Hofer lässt grüßen.
Nicht nur diese Geschehnisse zeigen, Faulkner sei mal wieder zitiert, dass das Vergangene nicht tot ist, dass es nicht einmal vergangen ist (»The past is never dead. It’s not even past«). Denn Andreas Hofers Erben kämpfen noch an einer anderen Front. Am 2. März rücken die Südtirol News (online) erneut ein YouTube-Video in den Blickpunkt, diesmal von elf Südtiroler Ärzten, Pharmazeuten und Psychologen gedreht, allesamt nicht oder nicht mehr für den Sanitätsbetrieb tätig. In ihm wird die Corona-Impfung infrage gestellt und empfohlen, sich mit einem gesunden Lebensstil und positiver Grundhaltung vor dem Virus zu schützen. Gegen die Gruppe wurde bei der Staatsanwaltschaft Anzeige »wegen Beunruhigung der Öffentlichkeit« erstattet.
Was diese Impfskepsis mit Andreas Hofer zu tun hat? Seit Beginn der Impfungen vor rund 200 Jahren zeigt sich eine Minderheit stets unbeeindruckt von den medizinischen Erfolgen. So damals auch Hofer, der Anführer der Tiroler Aufstandsbewegung von 1809 gegen die bayerischen und französischen Besatzer, der dort, wo er für kurze Zeit das Sagen hatte, die von Bayern eingeführte Pockenimpfung aussetzte. Historiker nehmen an, dass er unter Einfluss seines Mitkämpfers Joachim Haspinger stand, einem Kapuzinerpater, und wie dieser befürchtete, der reinen Tiroler Seele würde »bayerisches Denken« eingeimpft. (Heute sind es die Mikrochips, die der Microsoft-Gründer Bill Gates im Kampf gegen Corona angeblich den Menschen einpflanzen will, um weltweit die totale Kontrolle zu erlangen.)
Fast klingt es wie ein Kommentar dazu, was Heinrich Heine knapp zwei Jahrzehnte nach Hofers Tod niederschrieb, als er im Sommer 1828 auf seiner Reise mit der Kutsche von Innsbruck über den Brenner-Pass nach Genua und Florenz im Eisacktal in Brixen, italienisch: Bressanone, Station machte (»Reisebilder«, Dritter Teil, Kapitel XI). »Die Tiroler sind schön, heiter, ehrlich, brav und von unergründlicher Geistesbeschränktheit. Sie sind eine gesunde Menschenrasse, vielleicht weil sie zu dumm sind, um krank sein zu können.«
Siehe auch: Ossietzky, Heft 21/2020 »Von Sensenmännern«, und Ossietzky, Heft 13/2019, »Heim ins Öster-Reich«.