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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Lob der Zeitenwende

Nein, dies ist weder eine Kri­mi­nal­ge­schich­te des Chri­sten­tums, wie sie der Schrift­stel­ler und Kir­chen­kri­ti­ker Karl­heinz Desch­ner zwi­schen 1986 und 2013 in zehn Bän­den im Rowohlt Ver­lag vor­ge­legt hat, noch ist es eine Kir­chen­ge­schich­te für das christ­li­che Haus, wie der schwer­ge­wich­ti­ge Bei­na­he-Foli­ant vom Anfang des 20. Jahr­hun­derts beti­telt ist, den mir mei­ne Groß­mutter hin­ter­ließ. Des­sen Ver­fas­ser war der Phi­lo­lo­ge und evan­ge­li­sche Theo­lo­ge Erwin Preu­schen (1867-1920), der sich auf die Fach­ge­bie­te Neu­es Testa­ment und Kir­chen­ge­schich­te spe­zia­li­siert hat­te. Sein Grie­chisch-deut­sches Taschen­wör­ter­buch zum Neu­en Testa­ment ist bis heu­te ein Standardwerk.

Das hier vor­ge­stell­te Buch behan­delt die Rol­le von Reli­gi­on und Kir­che bei der Ent­ste­hung der Neu­zeit und der moder­nen Welt. Ver­fas­ser ist Heinz Schil­ling, »ein Mei­ster der Geschichts­wis­sen­schaft«, wie ihn Heri­bert Prantl in sei­ner wöchent­li­chen SZ-Online-Kolum­ne Ende Mai die­ses Jah­res aus Anlass des 80. Geburts­tags titu­lier­te. Schil­ling, eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor für Euro­päi­sche Geschich­te der frü­hen Neu­zeit an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät in Ber­lin, hat das Buch im Früh­jahr 2022 im Her­der Ver­lag ver­öf­fent­licht. Es ist das Sum­ma sum­ma­rum eines erfüll­ten Wis­sen­schaft­ler­le­bens. Gerich­tet ist das »Mei­ster­werk« (Prantl) an die inter­es­sier­te Öffent­lich­keit, in der Hoff­nung, »dass wis­sen­schaft­lich fun­dier­te histo­ri­sche Dar­stel­lun­gen eine brei­te Leser­schaft außer­halb der Fach­wis­sen­schaft gewin­nen können«.

Das ist Schil­ling auch des­halb wich­tig, weil er mit sei­ner Dar­stel­lung die jün­ge­re Gene­ra­ti­on zu errei­chen hofft, der »jen­seits von fik­ti­ven Com­pu­ter­spie­len der Zugang zu ver­gan­ge­nen Lebens­for­men und Denk­wei­sen kaum noch ermög­licht wird, zu sol­chen von Kir­che und Reli­gi­on schon gar nicht«. Gera­de in Bezug auf das Chri­sten­tum habe die­se Gene­ra­ti­on jedoch ein Recht dar­auf, »auf­ge­klärt zu wer­den und mehr zu erfah­ren über des­sen Lei­stun­gen wie Ver­feh­lun­gen; über das gei­sti­ge Rin­gen um reli­giö­se und phi­lo­so­phi­sche Wahr­heit sowie um die rich­ti­ge Gestal­tung des indi­vi­du­el­len und des kol­lek­ti­ven Lebens, eben­so von der Spann­wei­te der Gegen­sät­ze, von den Kon­flik­ten und den tie­fen Feindschaften«.

Im Mit­tel­punkt des Geschichts­wer­kes steht eine Zei­ten­wen­de, die ihren Namen wirk­lich ver­dient hat: die mit der Refor­ma­ti­on ein­her­ge­hen­de histo­ri­sche Wei­chen­stel­lung im 16. Jahr­hun­dert. Sie kam, wie Schil­lig auf­zeigt, nicht aus hei­te­rem Him­mel. Der Weg die­ser lang­fri­sti­gen Ent­wick­lung war »durch mit­tel­al­ter­li­che Häre­si­en und die Vor­re­for­ma­to­ren, vor allem aber durch das Auf­blü­hen erneu­er­ter Fröm­mig­keit und neu­er reli­giö­ser oder semi­re­li­giö­ser Lebens­for­men« vor­be­rei­tet wor­den. Hier sei nur an den frü­hen Refor­ma­tor Jan Hus und an den Domi­ni­ka­ner Girola­mo Savo­na­ro­la erin­nert. Der eine wur­de 1415 in Kon­stanz, der ande­re 1498 in Flo­renz als Häre­ti­ker ver­brannt. Bei­de wur­den zum »Idol einer gei­sti­gen, auf Reform bedach­ten Bewe­gung und damit zum Sta­chel im Fleisch der Päpste«.

Als Luther auf­trat, war »die latei­ni­sche Chri­sten­heit allent­hal­ben vol­ler Unru­hen und Erwar­tung«. Es war eine »Zeit der Span­nun­gen und Kämp­fe zwi­schen Behar­ren­dem und Vor­wärts­drän­gen­dem, vol­ler Fröm­mig­keit und Gott­ver­trau­en, aber auch vol­ler Sor­gen«. Schil­ling beschreibt, wie Luther und die von ihm und den west­eu­ro­päi­schen Refor­ma­to­ren aus­ge­lö­sten Bewe­gun­gen einen radi­ka­len Bruch mit andert­halb Jahr­tau­send euro­päi­scher Geschich­te voll­zo­gen. Wie die bis­lang trotz aller Schis­men und Häre­si­en auf­recht­erhal­te­ne reli­gi­ös-kirch­li­che Ein­heit des latei­ni­schen Euro­pas zu Ende ging. Sie wur­de im Übri­gen nie wie­der hergestellt.

Schil­lings For­schun­gen liegt seit den 1970er Jah­ren die in der Fach­welt durch­aus kon­tro­vers dis­ku­tier­te The­se zugrun­de, dass »die früh­neu­zeit­li­chen Kon­fes­sio­nen nicht Hemm­schuh, son­dern Motor des gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Wan­dels waren, der schließ­lich die Moder­ne her­vor­brach­te«. Reli­gi­on und Kir­che sind dabei, anders als in der Zeit nach der Auf­klä­rung, nicht aus-, son­dern ein­ge­schlos­sen und wer­den als »zen­tra­le Ach­se der Ver­ge­sell­schaf­tung begrif­fen«. Mit die­sem Ansatz unter­such­te Schil­ling mit den Jah­ren »alle rele­van­ten Fel­der des öffent­li­chen und pri­va­ten Lebens«. Eine Auf­li­stung sei­ner Ver­öf­fent­li­chun­gen gibt es im Anhang des Buches.

Für Schil­ling ist die kul­tu­rel­le und welt­an­schau­li­che Dif­fe­ren­zie­rung die wich­tig­ste Fol­ge der Refor­ma­ti­on. Die kirch­li­che Plu­ra­li­sie­rung des Chri­sten­tums sei eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung dafür gewe­sen, »dass in der Neu­zeit die welt­an­schau­li­che, kul­tu­rel­le und poli­ti­sche Dif­fe­ren­zie­rung Euro­pas ent­schie­den vor­an­schritt, und zwar weit über den reli­giö­sen und kirch­li­chen Bereich hin­aus bis hin zur plu­ra­li­sti­schen und säku­la­ren Gesell­schaft der Gegen­wart«. Da Luther sich, anders als frü­he­re Refor­mer, behaup­ten konn­te, konn­ten sich »mit Hil­fe der zum Bruch mit Rom berei­ten Obrig­kei­ten neue, oder bes­ser gesagt alter­na­ti­ve christ­li­che Kir­chen eta­blie­ren«. Damit, so Schil­ling, sei der christ­li­che Glau­be »welt­haft« gewor­den: Er wur­de »in die Welt hin­ein­ge­tra­gen«, wo er sich im all­täg­li­chen Han­deln der Chri­sten­men­schen zu bewäh­ren hatte.

Schil­ling ver­weist dabei auch auf die von den Sozio­lo­gen Max Weber und Ernst Troeltsch ange­sto­ße­ne reli­gi­ons­so­zio­lo­gi­sche Debat­te, in der auch auf­ge­zeigt wor­den war, wie der »Pro­zess der Her­aus­bil­dung kon­kur­rie­ren­der Kon­fes­si­ons­kir­chen […] in Deutsch­land wie in Euro­pa ins­ge­samt [in] eine Welt des ver­stärk­ten Wan­dels in den Kir­chen eben­so wie in Kul­tur, Poli­tik und Gesell­schaft« ein­ge­mün­det ist.

Im Epi­log wirft der Histo­ri­ker einen Blick auf die Chri­sten­heit im moder­nen Euro­pa, in dem schon längst »reli­gi­ons- und gei­stes­ge­schicht­lich das Zeit­al­ter des Kon­fes­sio­na­lis­mus von Auf­klä­rung, Libe­ra­lis­mus und Natio­na­lis­mus abge­löst wor­den« ist und in dem sich »die christ­li­chen Kir­chen und Gemein­schaf­ten in der moder­nen, plu­ra­len und libe­ra­len Welt behaup­ten« müssen.

Was bringt die Zukunft? Mög­lich sei die radi­ka­le Aus­glie­de­rung von Reli­gi­on und Kir­che aus dem säku­la­ren Staat und der plu­ra­len Gesell­schaft. Ande­rer­seits gebe es auch die The­se, »dass die moder­nen Staa­ten und Gesell­schaf­ten längst vom Geist des Chri­sten­tums durch­tränkt sei­en und das Chri­sten­tum somit per se auch die moder­ne Welt ent­schei­dend mit­prä­ge«. Daher las­se sich »kaum zuver­läs­sig vor­her­sa­gen, wie kon­kret sich die über zwei­tau­send­jäh­ri­ge Ver­wo­ben­heit zwi­schen Chri­sten­tum und Welt zukünf­tig gestal­ten werde«.

Den­noch, rosig sind die Aus­sich­ten alle­mal nicht. Schil­ling ver­weist dar­auf, dass in man­chen Kom­mu­nen der öst­li­chen Bun­des­län­der der sta­ti­sti­sche Anteil von Chri­sten längst auf die Zehn-Pro­zent-Mar­ke gesun­ken sei. In den alten Bun­des­län­dern wer­de es nicht viel anders aus­se­hen, »sobald die vor 2000 Gebo­re­nen gestor­ben sind, für deren Eltern die Tau­fe ihrer Kin­der noch selbst­ver­ständ­lich war«. Jeden­falls wür­de die luthe­ri­sche Pasto­rin Mar­got Käß­mann »den Fin­ger auf eine schwä­ren­de Wun­de« legen, wenn sie kon­sta­tie­re, »dass gegen­wär­tig das Reli­gi­ons­pro­blem Euro­pas nicht in vol­len Moscheen, son­dern in lee­ren Kir­chen bestehe«.

 Heinz Schil­ling: Das Chri­sten­tum und die Ent­ste­hung des moder­nen Euro­pa. Auf­bruch in die Welt von heute
Her­der Ver­lag, Frei­burg 2022, 480 S., 28 €.