Nein, dies ist weder eine Kriminalgeschichte des Christentums, wie sie der Schriftsteller und Kirchenkritiker Karlheinz Deschner zwischen 1986 und 2013 in zehn Bänden im Rowohlt Verlag vorgelegt hat, noch ist es eine Kirchengeschichte für das christliche Haus, wie der schwergewichtige Beinahe-Foliant vom Anfang des 20. Jahrhunderts betitelt ist, den mir meine Großmutter hinterließ. Dessen Verfasser war der Philologe und evangelische Theologe Erwin Preuschen (1867-1920), der sich auf die Fachgebiete Neues Testament und Kirchengeschichte spezialisiert hatte. Sein Griechisch-deutsches Taschenwörterbuch zum Neuen Testament ist bis heute ein Standardwerk.
Das hier vorgestellte Buch behandelt die Rolle von Religion und Kirche bei der Entstehung der Neuzeit und der modernen Welt. Verfasser ist Heinz Schilling, »ein Meister der Geschichtswissenschaft«, wie ihn Heribert Prantl in seiner wöchentlichen SZ-Online-Kolumne Ende Mai dieses Jahres aus Anlass des 80. Geburtstags titulierte. Schilling, emeritierter Professor für Europäische Geschichte der frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität in Berlin, hat das Buch im Frühjahr 2022 im Herder Verlag veröffentlicht. Es ist das Summa summarum eines erfüllten Wissenschaftlerlebens. Gerichtet ist das »Meisterwerk« (Prantl) an die interessierte Öffentlichkeit, in der Hoffnung, »dass wissenschaftlich fundierte historische Darstellungen eine breite Leserschaft außerhalb der Fachwissenschaft gewinnen können«.
Das ist Schilling auch deshalb wichtig, weil er mit seiner Darstellung die jüngere Generation zu erreichen hofft, der »jenseits von fiktiven Computerspielen der Zugang zu vergangenen Lebensformen und Denkweisen kaum noch ermöglicht wird, zu solchen von Kirche und Religion schon gar nicht«. Gerade in Bezug auf das Christentum habe diese Generation jedoch ein Recht darauf, »aufgeklärt zu werden und mehr zu erfahren über dessen Leistungen wie Verfehlungen; über das geistige Ringen um religiöse und philosophische Wahrheit sowie um die richtige Gestaltung des individuellen und des kollektiven Lebens, ebenso von der Spannweite der Gegensätze, von den Konflikten und den tiefen Feindschaften«.
Im Mittelpunkt des Geschichtswerkes steht eine Zeitenwende, die ihren Namen wirklich verdient hat: die mit der Reformation einhergehende historische Weichenstellung im 16. Jahrhundert. Sie kam, wie Schillig aufzeigt, nicht aus heiterem Himmel. Der Weg dieser langfristigen Entwicklung war »durch mittelalterliche Häresien und die Vorreformatoren, vor allem aber durch das Aufblühen erneuerter Frömmigkeit und neuer religiöser oder semireligiöser Lebensformen« vorbereitet worden. Hier sei nur an den frühen Reformator Jan Hus und an den Dominikaner Girolamo Savonarola erinnert. Der eine wurde 1415 in Konstanz, der andere 1498 in Florenz als Häretiker verbrannt. Beide wurden zum »Idol einer geistigen, auf Reform bedachten Bewegung und damit zum Stachel im Fleisch der Päpste«.
Als Luther auftrat, war »die lateinische Christenheit allenthalben voller Unruhen und Erwartung«. Es war eine »Zeit der Spannungen und Kämpfe zwischen Beharrendem und Vorwärtsdrängendem, voller Frömmigkeit und Gottvertrauen, aber auch voller Sorgen«. Schilling beschreibt, wie Luther und die von ihm und den westeuropäischen Reformatoren ausgelösten Bewegungen einen radikalen Bruch mit anderthalb Jahrtausend europäischer Geschichte vollzogen. Wie die bislang trotz aller Schismen und Häresien aufrechterhaltene religiös-kirchliche Einheit des lateinischen Europas zu Ende ging. Sie wurde im Übrigen nie wieder hergestellt.
Schillings Forschungen liegt seit den 1970er Jahren die in der Fachwelt durchaus kontrovers diskutierte These zugrunde, dass »die frühneuzeitlichen Konfessionen nicht Hemmschuh, sondern Motor des gesamtgesellschaftlichen Wandels waren, der schließlich die Moderne hervorbrachte«. Religion und Kirche sind dabei, anders als in der Zeit nach der Aufklärung, nicht aus-, sondern eingeschlossen und werden als »zentrale Achse der Vergesellschaftung begriffen«. Mit diesem Ansatz untersuchte Schilling mit den Jahren »alle relevanten Felder des öffentlichen und privaten Lebens«. Eine Auflistung seiner Veröffentlichungen gibt es im Anhang des Buches.
Für Schilling ist die kulturelle und weltanschauliche Differenzierung die wichtigste Folge der Reformation. Die kirchliche Pluralisierung des Christentums sei eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen, »dass in der Neuzeit die weltanschauliche, kulturelle und politische Differenzierung Europas entschieden voranschritt, und zwar weit über den religiösen und kirchlichen Bereich hinaus bis hin zur pluralistischen und säkularen Gesellschaft der Gegenwart«. Da Luther sich, anders als frühere Reformer, behaupten konnte, konnten sich »mit Hilfe der zum Bruch mit Rom bereiten Obrigkeiten neue, oder besser gesagt alternative christliche Kirchen etablieren«. Damit, so Schilling, sei der christliche Glaube »welthaft« geworden: Er wurde »in die Welt hineingetragen«, wo er sich im alltäglichen Handeln der Christenmenschen zu bewähren hatte.
Schilling verweist dabei auch auf die von den Soziologen Max Weber und Ernst Troeltsch angestoßene religionssoziologische Debatte, in der auch aufgezeigt worden war, wie der »Prozess der Herausbildung konkurrierender Konfessionskirchen […] in Deutschland wie in Europa insgesamt [in] eine Welt des verstärkten Wandels in den Kirchen ebenso wie in Kultur, Politik und Gesellschaft« eingemündet ist.
Im Epilog wirft der Historiker einen Blick auf die Christenheit im modernen Europa, in dem schon längst »religions- und geistesgeschichtlich das Zeitalter des Konfessionalismus von Aufklärung, Liberalismus und Nationalismus abgelöst worden« ist und in dem sich »die christlichen Kirchen und Gemeinschaften in der modernen, pluralen und liberalen Welt behaupten« müssen.
Was bringt die Zukunft? Möglich sei die radikale Ausgliederung von Religion und Kirche aus dem säkularen Staat und der pluralen Gesellschaft. Andererseits gebe es auch die These, »dass die modernen Staaten und Gesellschaften längst vom Geist des Christentums durchtränkt seien und das Christentum somit per se auch die moderne Welt entscheidend mitpräge«. Daher lasse sich »kaum zuverlässig vorhersagen, wie konkret sich die über zweitausendjährige Verwobenheit zwischen Christentum und Welt zukünftig gestalten werde«.
Dennoch, rosig sind die Aussichten allemal nicht. Schilling verweist darauf, dass in manchen Kommunen der östlichen Bundesländer der statistische Anteil von Christen längst auf die Zehn-Prozent-Marke gesunken sei. In den alten Bundesländern werde es nicht viel anders aussehen, »sobald die vor 2000 Geborenen gestorben sind, für deren Eltern die Taufe ihrer Kinder noch selbstverständlich war«. Jedenfalls würde die lutherische Pastorin Margot Käßmann »den Finger auf eine schwärende Wunde« legen, wenn sie konstatiere, »dass gegenwärtig das Religionsproblem Europas nicht in vollen Moscheen, sondern in leeren Kirchen bestehe«.
Heinz Schilling: Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa. Aufbruch in die Welt von heute
Herder Verlag, Freiburg 2022, 480 S., 28 €.