Der Satiriker, Kabarettist und Sprachakrobat Hansgeorg Stengel wäre am 30. Juli hundert Jahre alt geworden. Zu dem runden Jubiläum hat der Märkische Verlag, der die beliebte Lyrikreihe »Poesiealbum« seit 2007 weiterführt, das Heft 186 mit Versen des Autors aus dem Jahr 1983 in einer Nachauflage herausgebracht. Allerdings in erweiterter Form mit 86 Titeln, was ein absoluter »Poesiealbum«-Rekord ist. Die Auswahl der Texte, die den Bänden »Epigramme und Gedichte« (1980) und »Dicht an dicht – Sämtliche Gedichte« (2002) entnommen wurden, übernahm der Journalist und Publizist Hans-Dieter Schütt, der auch eine kurze »Tatwortbesichtigung« zum Jubiläum verfasste. Die beiden Grafiken auf dem Cover und im Innenteil, die schon die 1983-Ausgabe illustrierten, stammen von Rolf Felix Müller (1932-2021). Die Neuauflage entstand übrigens auf Anregung von Harald Kretzschmar.
Bekannt war Hansgeorg Stengel für seine Unbeugsamkeit. Stets ging er seiner Nase nach, die wie ein Erker aus seinem Gesicht ragte. Wie sein pointierter Wortwitz war sie sein Markenzeichen. Mit spitzer Feder und Wortgewandtheit fühlte Stengel in Versen, Kabarettszenen und Satiren nicht nur seinen Mitmenschen, sondern auch den kleinen Schwächen und großen Mängeln im sozialistischen Alltag auf den Zahn. Lange bevor Bastian Sick als Sprachkritiker Erfolg hatte, zog Stengel als Wortpolizist gegen sprachliche Schludereien zu Felde, und mit der Rechtschreibreform konnte er sich überhaupt nicht anfreunden, schließlich wollte die aus seinem Namen einen »Stängel« machen. Nein, er wollte sich nicht verumlauten lassen. Über mehrere Jahre nahm er mit seinen »Wortadella«-Glossen in der Ostthüringer Zeitung Sprachwursteleien aufs Korn.
Am 30. Juli 1922 wurde Hansgeorg Stengel in Greiz in eine Lehrerfamilie hineingeboren. Bereits mit 14 Jahren konnte er erste Gedichte in der Lokalzeitung veröffentlichen. Nachdem er aus dem Kriegsdienst und der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, studierte er Germanistik und später auch im Fernstudium (Leipzig) Journalistik. Anfang 1950 zog der Vogtländer – auf seine südöstliche Thüringer Herkunft legte Stengel großen Wert, bloß kein Sachse sein – nach Berlin, wo er als Autor für die Satire-Zeitschrift Frischer Wind, aus der 1954 der Eulenspiegel hervorging, und bis 1959 als Redakteur tätig war. Bis zu seinem Tod blieb er ständiger Mitarbeiter. Nebenbei verfasste Stengel auch Texte für verschiedene Kabarettbühnen (»Kleine Bühne«, »Distel« oder »Herkuleskeule«). Danach war er freischaffender Schriftsteller in Berlin und begann 1971 eine Karriere als Vortragskünstler. Mit eigenen Programmen reiste er als »nomadisierender Solokabarettist« (so bezeichnete er sich selbst) quer durch die Republik. Dadurch wurde er bekannt wie ein bunter Hund; doch trotz großer Popularität hatte er kaum Fernsehauftritte. Es wäre ihm ein absoluter Graus gewesen, wenn »irgendwelche Leute« in seinen Manuskripten vielleicht politisch motivierte Veränderungen vorgenommen hätten. Und so genoss er auf den kleineren Bühnen weitgehend Narrenfreiheit – bei mitunter 150 Auftritten im Jahr.
Noch in seiner Greizer Zeit erschien mit »mit schrubber und besen« sein erstes Buch. Rund fünfzig weitere Publikationen sollten folgen, darunter auch der Kinderbuch-Klassiker »So ein Struwwelpeter«, der bis heute immer wieder Nachauflagen erlebt. Mit den lustigen Texten vom bockigen Martin, dem fernsehverrückten Frank oder vom Faxenmacher Franz und den drolligen Illustrationen von Karl Schrader ist wohl jedes ostdeutsche Kind aufgewachsen. Bei zahlreichen Buchtiteln spielte er mit seinem Namen: »Unschuldsstengel«, »Stengelsgeduld« oder »Mit Stengelszungen«. Die Gesamtauflage seines umfassenden Werkes beträgt zwei Millionen.
Nach der Wende veränderte Stengel sein künstlerisches Profil kaum; die turbulenten Veränderungen waren für ihn weiterhin eine Fundgrube seiner bissigen Kritik. Zwar zog er 1995 mit seiner Frau in den Westteil des nun vereinten Berlins, doch 1998 versuchte er im Bundestagswahlkreis Greiz / Altenburger Land für die PDS ein Direktmandat zu erringen. Zu seinem 81. Geburtstag erlaubte sich Hansgeorg Stengel dann eine pietätlose Pointe, denn er starb just am 30. Juli 2003. Auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde wurde er bestattet.
Zum Schluss noch den Stengel-Vierzeiler »Betriebsunfall«:
»Er hängte sein Mäntelchen in den Wind.
Und folgte dem Luftzug gehorsam und blind,
geriet aber dennoch in Schleudergefahr,
als desorientierende Windstille war.«