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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von der Hand zum Mund

Von Fried­rich Engels gibt es ein kur­zes, unvoll­ende­tes, nach sei­nem Tode erst­mals 1896 in einer Zeit­schrift ver­öf­fent­lich­tes Manu­skript mit der schö­nen Über­schrift »Anteil der Arbeit an der Mensch­wer­dung der Affen« (MEW, Band 20, Dia­lek­tik der Natur, S. 444-455, Karl Dietz Ver­lag, 1962/​1990). Dort steht ein­gangs zu lesen: »Die Arbeit ist die Quel­le alles Reich­tums, sagen die poli­ti­schen Öko­no­men. Sie ist dies – neben der Natur, die ihr den Stoff lie­fert, den sie in Reich­tum ver­wan­delt. Aber sie ist noch unend­lich mehr als dies. Sie ist die erste Grund­be­din­gung alles mensch­li­chen Lebens, und zwar in einem sol­chen Gra­de, daß wir in gewis­sem Sinn sagen müs­sen: Sie hat den Men­schen selbst geschaffen.«

Auf den näch­sten Sei­ten zeigt Engels auf, wie die Affen anfin­gen, sich auf ebe­ner Erde ohne die Hän­de fort­zu­be­we­gen, wie den Hän­den mehr und mehr ander­wei­ti­ge Tätig­kei­ten zufie­len, wie aus der unent­wickel­ten Hand des Affen die durch die Arbeit hoch aus­ge­bil­de­te Men­schen­hand wur­de, denn, so Engels: »Die Hand (ist) nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Pro­dukt.« Eine Evo­lu­ti­on durch Jahr­hun­dert­tau­sen­de folg­te, die nicht nur der Hand zugu­te­kam, son­dern »dem gan­zen Kör­per, in des­sen Dienst sie arbeitete«.

Bei dem Pod­cast- und Autoren­duo Frie­de­mann Karig und Sami­ra El Ouas­sil – sie Autorin, Schau­spie­le­rin, Musi­ke­rin und Poli­ti­ke­rin, er Jour­na­list, Schrift­stel­ler, Mode­ra­tor – wer­den, leger gesagt, aus arbei­ten­den Affen »Erzäh­len­de Affen«. So beti­tel­ten sie auch ihr im Okto­ber 2021 erschie­ne­nes Sach­buch – das gleich­zei­tig eine 528 Sei­ten lan­ge Erzäh­lung ist: vom homo narrans, »dem Wesen, das erklä­rungs- und unter­hal­tungs­be­gabt zugleich ist und sich aus sei­ner beson­de­ren Fähig­keit einen nar­ra­ti­ven Käfig von Hel­den- und Fein­des­ge­schich­ten gebaut hat, aus dem es drin­gend ent­kom­men muss, wenn es sich und sei­nen Pla­ne­ten noch ret­ten will« (Mer­edith Haaf, Süd­deut­sche Zei­tung).

»Wir erzäh­len ein­an­der und uns selbst, was die wahr­schein­lich­ste und was die wün­schens­wer­te Zukunft ist. Und wie aus der Letz­te­ren die Erste­re wird.« Nach die­ser Maxi­me zeich­nen die bei­den Autoren nach, »war­um für unse­re Spe­zi­es die Kul­tur­tech­nik des Erzäh­lens so über­le­bens­not­wen­dig wie ermäch­ti­gend war«, »wel­che Fel­der unse­res Lebens, unse­rer Geschich­te und unse­rer Gesell­schaf­ten von wel­chen Nar­ra­ti­ven geprägt sind«.

Die Bei­den haben sich viel vor­ge­nom­men, wol­len sie doch nichts weni­ger als eine »radi­ka­le nar­ra­ti­ve Kul­tur­kri­tik lei­sten, mit dem Ziel, die Hebel hin­ter den Geschich­ten zu ver­ste­hen und zu ver­än­dern«. Sie betrach­ten dabei die Mensch­heits­ge­schich­te selbst »als Hel­den­rei­se eines Wesens, das sich von sämt­li­chen ande­ren Wesen die­ser Erde dar­in unter­schei­det, dass es sich Geschich­ten erzählt«.

»Nar­ra­tiv« ist der Schlüs­sel­be­griff des Buches. Er bedeu­tet ein­fach über­setzt »erzäh­lend«. Aber es geht dabei nicht nur um die Erzäh­lung, son­dern auch um die Art und Wei­se, wie erzählt wird. Bemü­hen wir Wiki­pe­dia: »Ein Nar­ra­tiv ist eine sinn­stif­ten­de Erzäh­lung, die Ein­fluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahr­ge­nom­men wird. Es trans­por­tiert Wer­te und Emo­tio­nen, ist in der Regel auf einen bestimm­ten Kul­tur­kreis bezo­gen und unter­liegt dem zeit­li­chen Wan­del. In die­sem Sin­ne sind Nar­ra­ti­ve kei­ne belie­bi­gen Geschich­ten, son­dern eta­blier­te Erzäh­lun­gen, die mit einer Legi­ti­mi­tät ver­se­hen sind.«

Es sind die »Mythen, Lügen, Uto­pien. Geschich­ten, die unser Leben bestim­men«. So lau­tet auch der Unter­ti­tel des Buches. »Geschich­ten sind ein maß­geb­li­cher Teil unse­rer Sozia­li­sa­ti­on. Sie durch­drin­gen Poli­tik, Medi­en und Kul­tur, leh­ren uns, unter­hal­ten uns, ver­füh­ren uns, beein­flus­sen unse­re Wirk­lich­keits­wahr­neh­mung – vom grie­chi­schen Dra­ma bis zur Netflix-Serie.«

Die Mythen, die sich durch die Jahr­tau­sen­de und alle Kul­tu­ren zie­hen, sind nach dem Eth­no­lo­gen Clau­de Lévi-Strauss »aus­ge­feil­te Tech­ni­ken der Welt­deu­tung«. Eine star­ke Geschich­te kann auf­bau­en, moti­vie­ren oder zer­stö­ren. Sie kann Wah­len ent­schei­den, Men­schen­le­ben ret­ten, aber auch Krie­ge aus­lö­sen und Unge­rech­tig­keit zemen­tie­ren. Seit Urzei­ten. In ihrer Wir­kungs­macht ambi­va­lent wie das Feu­er, das einst irgend­wo erst­mals auf der Erde ange­zün­det und gezähmt wur­de. Von des­sen Nütz­lich­keit sich die Kun­de schnell ver­brei­te­te, durch münd­li­che Berich­te von einem Stamm zum näch­sten sprin­gend. Tue Gutes und rede dar­über: auch eine Erzählung.

Und heu­te? Wel­che Erzäh­lun­gen gefähr­den uns heu­te? Benö­ti­gen wir neue, zum Bei­spiel, um so von dem Kli­ma­wan­del zu erzäh­len, dass wir zum Han­deln gedrängt wer­den? (Der Deutsch­land­funk sen­det am 6. und am 13. März zwei Essays über den Zusam­men­hang zwi­schen Kli­ma­kri­se und lite­ra­ri­scher Spra­che und wie Cli­ma­te Fic­tion vom auf­ge­heiz­ten Pla­ne­ten erzählt.) Und wei­ter: Aus wel­chen Nar­ra­ti­ven, aus wel­chen Über­le­gen­heits­my­then ent­ste­hen Ras­sis­mus und Anti­se­mi­tis­mus? Mit wel­chen Sto­rys mani­pu­lier­te Trump sei­ne Anhän­ger? Wes­halb ver­fan­gen die Lügen der Quer­den­ker und Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gen? Wie könn­te eine wir­kungs­mäch­ti­ge neue Erzäh­lung der Auf­klä­rung aussehen?

Die dem Buch zugrun­de lie­gen­de The­se ist, »dass Nar­ra­ti­ve, ver­packt in mäch­ti­ge Kul­tur­pro­duk­te, poli­ti­sche Pro­gram­me oder plat­te Pop­songs, heu­te die größ­te trans­for­ma­ti­ve Kraft besit­zen«. Aber: »Eini­ge der stärk­sten (und ver­lo­gen­sten) Nar­ra­ti­ve unse­rer Zeit sind Anti-Hel­den­rei­sen. Sie ver­spre­chen den Men­schen kein Aben­teu­er, kei­ne Rei­se, kei­ne Trans­for­ma­ti­on. Ihre eben­so fata­le wie ver­füh­re­ri­sche Bot­schaft lau­tet: Alles kann so blei­ben, wie es ist. Wir müs­sen uns über­haupt nicht ändern.«

Am Ende die­ses Par­force­ritts durch die Mensch­heits- und Kul­tur­ge­schich­te, in dem wir auch den Ali­en- und Aven­gers-Fil­men begeg­nen, Fran­zis­ka von Alm­sick, Ama­zo­nen und Han­nah Are­ndt eben­so wie, wir blei­ben beim Buch­sta­ben A, Apu­lei­us und Ari­sto­te­les, Aschen­put­tel und Paul Auster, am Ende des Buches also geben die Autoren dem Leser und der Lese­rin den Rat­schlag, bei abseh­ba­rer Gefahr zu han­deln, bevor es brenz­lig wird. Und ein erzäh­len­der Affe zu blei­ben, sich und den Lie­ben die Geschich­te einer guten Zukunft zu erzäh­len, sich mit ande­ren zu ver­bün­den, »die bis­her nur zu träu­men wagen«.

Viel­leicht geht es jedoch auch so, wie einer mei­ner Enkel sag­te, als er noch klein war und Hand in Hand mit mir spa­zie­ren ging: »Opa, erzähl mir eine Geschich­te. Aber kei­ne aus einem Buch, son­dern eine aus dem Kopf.«

Es gibt aller­dings auch eini­ge »Schlag­lö­cher« (M. Haaf) in die­sem durch­weg ver­gnüg­lich zu lesen­dem Buch zu ver­mel­den. Ich ent­deck­te ein beson­ders tie­fes Schlag­loch auf Sei­te 476: »Wes­halb genau sind die Ame­ri­ka­ner damals auf den Mond geflo­gen (und ja, sie sind es wirk­lich)? Weil die Rus­sen an Bord des Sput­niks den ersten Men­schen im Welt­all hatten …«

Wie funk­te die klei­ne, im Durch­mes­ser nur 58 cm mes­sen­de Kugel, die nach rund drei Mona­ten in der Erd­at­mo­sphä­re ver­glüh­te, ab dem 4. Okto­ber 1957 an 21 Tagen hin­un­ter zur Erde? Piep, piep, piep, piep, piep.

Sami­ra El Ouas­sil, Frie­de­mann Karig: Erzäh­len­de Affen. Mythen, Lügen, Uto­pien – wie Geschich­ten unser Leben bestim­men, Ull­stein Ver­lag, Ber­lin 2021, 528 S., 25 Euro.