Von Friedrich Engels gibt es ein kurzes, unvollendetes, nach seinem Tode erstmals 1896 in einer Zeitschrift veröffentlichtes Manuskript mit der schönen Überschrift »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung der Affen« (MEW, Band 20, Dialektik der Natur, S. 444-455, Karl Dietz Verlag, 1962/1990). Dort steht eingangs zu lesen: »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie ist dies – neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen.«
Auf den nächsten Seiten zeigt Engels auf, wie die Affen anfingen, sich auf ebener Erde ohne die Hände fortzubewegen, wie den Händen mehr und mehr anderweitige Tätigkeiten zufielen, wie aus der unentwickelten Hand des Affen die durch die Arbeit hoch ausgebildete Menschenhand wurde, denn, so Engels: »Die Hand (ist) nicht nur das Organ der Arbeit, sie ist auch ihr Produkt.« Eine Evolution durch Jahrhunderttausende folgte, die nicht nur der Hand zugutekam, sondern »dem ganzen Körper, in dessen Dienst sie arbeitete«.
Bei dem Podcast- und Autorenduo Friedemann Karig und Samira El Ouassil – sie Autorin, Schauspielerin, Musikerin und Politikerin, er Journalist, Schriftsteller, Moderator – werden, leger gesagt, aus arbeitenden Affen »Erzählende Affen«. So betitelten sie auch ihr im Oktober 2021 erschienenes Sachbuch – das gleichzeitig eine 528 Seiten lange Erzählung ist: vom homo narrans, »dem Wesen, das erklärungs- und unterhaltungsbegabt zugleich ist und sich aus seiner besonderen Fähigkeit einen narrativen Käfig von Helden- und Feindesgeschichten gebaut hat, aus dem es dringend entkommen muss, wenn es sich und seinen Planeten noch retten will« (Meredith Haaf, Süddeutsche Zeitung).
»Wir erzählen einander und uns selbst, was die wahrscheinlichste und was die wünschenswerte Zukunft ist. Und wie aus der Letzteren die Erstere wird.« Nach dieser Maxime zeichnen die beiden Autoren nach, »warum für unsere Spezies die Kulturtechnik des Erzählens so überlebensnotwendig wie ermächtigend war«, »welche Felder unseres Lebens, unserer Geschichte und unserer Gesellschaften von welchen Narrativen geprägt sind«.
Die Beiden haben sich viel vorgenommen, wollen sie doch nichts weniger als eine »radikale narrative Kulturkritik leisten, mit dem Ziel, die Hebel hinter den Geschichten zu verstehen und zu verändern«. Sie betrachten dabei die Menschheitsgeschichte selbst »als Heldenreise eines Wesens, das sich von sämtlichen anderen Wesen dieser Erde darin unterscheidet, dass es sich Geschichten erzählt«.
»Narrativ« ist der Schlüsselbegriff des Buches. Er bedeutet einfach übersetzt »erzählend«. Aber es geht dabei nicht nur um die Erzählung, sondern auch um die Art und Weise, wie erzählt wird. Bemühen wir Wikipedia: »Ein Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung, die Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Es transportiert Werte und Emotionen, ist in der Regel auf einen bestimmten Kulturkreis bezogen und unterliegt dem zeitlichen Wandel. In diesem Sinne sind Narrative keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit einer Legitimität versehen sind.«
Es sind die »Mythen, Lügen, Utopien. Geschichten, die unser Leben bestimmen«. So lautet auch der Untertitel des Buches. »Geschichten sind ein maßgeblicher Teil unserer Sozialisation. Sie durchdringen Politik, Medien und Kultur, lehren uns, unterhalten uns, verführen uns, beeinflussen unsere Wirklichkeitswahrnehmung – vom griechischen Drama bis zur Netflix-Serie.«
Die Mythen, die sich durch die Jahrtausende und alle Kulturen ziehen, sind nach dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss »ausgefeilte Techniken der Weltdeutung«. Eine starke Geschichte kann aufbauen, motivieren oder zerstören. Sie kann Wahlen entscheiden, Menschenleben retten, aber auch Kriege auslösen und Ungerechtigkeit zementieren. Seit Urzeiten. In ihrer Wirkungsmacht ambivalent wie das Feuer, das einst irgendwo erstmals auf der Erde angezündet und gezähmt wurde. Von dessen Nützlichkeit sich die Kunde schnell verbreitete, durch mündliche Berichte von einem Stamm zum nächsten springend. Tue Gutes und rede darüber: auch eine Erzählung.
Und heute? Welche Erzählungen gefährden uns heute? Benötigen wir neue, zum Beispiel, um so von dem Klimawandel zu erzählen, dass wir zum Handeln gedrängt werden? (Der Deutschlandfunk sendet am 6. und am 13. März zwei Essays über den Zusammenhang zwischen Klimakrise und literarischer Sprache und wie Climate Fiction vom aufgeheizten Planeten erzählt.) Und weiter: Aus welchen Narrativen, aus welchen Überlegenheitsmythen entstehen Rassismus und Antisemitismus? Mit welchen Storys manipulierte Trump seine Anhänger? Weshalb verfangen die Lügen der Querdenker und Verschwörungsideologen? Wie könnte eine wirkungsmächtige neue Erzählung der Aufklärung aussehen?
Die dem Buch zugrunde liegende These ist, »dass Narrative, verpackt in mächtige Kulturprodukte, politische Programme oder platte Popsongs, heute die größte transformative Kraft besitzen«. Aber: »Einige der stärksten (und verlogensten) Narrative unserer Zeit sind Anti-Heldenreisen. Sie versprechen den Menschen kein Abenteuer, keine Reise, keine Transformation. Ihre ebenso fatale wie verführerische Botschaft lautet: Alles kann so bleiben, wie es ist. Wir müssen uns überhaupt nicht ändern.«
Am Ende dieses Parforceritts durch die Menschheits- und Kulturgeschichte, in dem wir auch den Alien- und Avengers-Filmen begegnen, Franziska von Almsick, Amazonen und Hannah Arendt ebenso wie, wir bleiben beim Buchstaben A, Apuleius und Aristoteles, Aschenputtel und Paul Auster, am Ende des Buches also geben die Autoren dem Leser und der Leserin den Ratschlag, bei absehbarer Gefahr zu handeln, bevor es brenzlig wird. Und ein erzählender Affe zu bleiben, sich und den Lieben die Geschichte einer guten Zukunft zu erzählen, sich mit anderen zu verbünden, »die bisher nur zu träumen wagen«.
Vielleicht geht es jedoch auch so, wie einer meiner Enkel sagte, als er noch klein war und Hand in Hand mit mir spazieren ging: »Opa, erzähl mir eine Geschichte. Aber keine aus einem Buch, sondern eine aus dem Kopf.«
Es gibt allerdings auch einige »Schlaglöcher« (M. Haaf) in diesem durchweg vergnüglich zu lesendem Buch zu vermelden. Ich entdeckte ein besonders tiefes Schlagloch auf Seite 476: »Weshalb genau sind die Amerikaner damals auf den Mond geflogen (und ja, sie sind es wirklich)? Weil die Russen an Bord des Sputniks den ersten Menschen im Weltall hatten …«
Wie funkte die kleine, im Durchmesser nur 58 cm messende Kugel, die nach rund drei Monaten in der Erdatmosphäre verglühte, ab dem 4. Oktober 1957 an 21 Tagen hinunter zur Erde? Piep, piep, piep, piep, piep.
Samira El Ouassil, Friedemann Karig: Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen, Ullstein Verlag, Berlin 2021, 528 S., 25 Euro.