Norman Paech 75 Jahre UNO-Charta
Kein Gespräch über die UNO kommt ohne Kritik und Enttäuschung aus, doch eine Alternative ist nicht in Sicht. Ganz anders verhält es sich bei der Charta der UNO, die trotz mancher Änderungswünsche unangefochten die Basis für das moderne Völkerrecht geworden ist. Sie wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco von den vier Großmächten USA, UDSSR, Volksrepublik China und England (ohne Frankreich) und den Staaten der Anti-Hitler-Koalition, insgesamt 50, unterzeichnet. So kurz nach dem großen Krieg war das nur möglich, weil Roosevelt und Churchill sich schon 1941 auf Neufundland getroffen hatten, um über eine neue Friedensordnung nach dem Sieg über Nazi-Deutschland zu beraten. Der Völkerbund war schon lange tot, bestand aber formal noch, und Churchill sah in ihm trotz seines Scheiterns ein Vorbild für eine neue effektive Friedensorganisation. Roosevelt hingegen meinte, dass in einer starken amerikanisch-britischen Militärachse eine bessere Garantie für den künftigen Frieden liege. In der gemeinsamen Abschlusserklärung vom 14. August 1941, die als »Atlantik-Charta« in die Geschichte einging, konnte sich Roosevelt zunächst durchsetzen.
Als jedoch die USA von den Japanern in Pearl Harbour überfallen wurden, waren sie zu einer Erweiterung der Zweierallianz bereit. Gemeinsam entwarfen Churchill und Roosevelt am 1. Januar 1942 eine »Erklärung der Vereinten Nationen«, und bei einem anschließenden Besuch Molotows in Washington war Roosevelt auch bereit, die Sowjetunion und China in die Allianz aufzunehmen. Nur gegen Frankreich hatte er wegen der Kollaboration der Vichy-Regierung weiterhin Vorbehalte. Es blieb ein mühseliger Prozess des Aushandelns. Erst auf der Moskauer Konferenz vom Oktober 1943 kam man einer ständigen Internationalen Organisation näher, und sofort nach der anschließenden Konferenz in Teheran im November 1943 machte sich Roosevelt an die Skizzierung einer solchen Organisation. In den folgenden Diskussionen ging es vor allem um eine effektive Durchsetzung von Entscheidungen eines Exekutivausschusses, sowie um die Sicherheit, dass keine der Großmächte in dem Ausschuss überstimmt werden konnte. Die Vorschläge wurden noch im selben Jahr im »Outline Plan« zusammengefasst, der für die folgenden Konferenzen in Dumbarton Oaks 1944 und in Jalta 1945 die Grundlage der Verhandlungen bildete.
Auf der Gipfelkonferenz von Jalta war die Volksrepublik China noch nicht vertreten, und die drei Großmächte konnten sich über die ausstehenden Differenzen einigen. Insbesondere bekam Stalin das uneingeschränkte Veto bei der Abstimmung im Sicherheitsrat, welches für die Sowjets von größter Bedeutung war. Churchill hat in seinen Memoiren über die Gründe berichtet: »Stalin erklärte, die Drei Großmächte seien zwar heute verbündet und keine von ihnen werde Angriffsakte begehen, er befürchte jedoch, die heutigen Führer würden im Laufe der nächsten zehn Jahre verschwinden, und eine neue Generation werde an die Macht kommen, die nicht mehr aus persönlichem Erleben wisse, was wir in diesem Krieg durchgemacht hätten. (…) Die größte Gefahr liegt in einem Konflikt zwischen uns selber (…). Deshalb müssen wir jetzt überlegen, (…) welche Garantien nötig sind, damit die drei Großmächte (und vielleicht auch China und Frankreich) eine gemeinsame Front aufrechterhalten. Es muss ein System ausgearbeitet werden, das Konflikte unter den führenden Großmächten verhindert.« Stalin spielte auf die Erfahrung im russisch-finnischen Krieg im Dezember 1939 an, als es den Briten und Franzosen gelang, die Sowjetunion im Völkerbund zu isolieren und auszuschließen. »Können wir nicht Garantien bekommen, dass sich so etwas nicht wieder ereignen wird?«, zitiert Churchill Stalin. Und so wurde das Veto-Recht vier Monate später in San Francisco in der UNO-Charta verankert – bei aller späteren Kritik an der häufigen Lähmung des Sicherheitsrats eine hellsichtige Entscheidung.
Einigen konnten sich die Großmächte allerdings nicht über die Aufnahme des Schutzes der Menschenrechte. Stalin maß ihnen keine besondere Bedeutung für den internationalen Frieden bei, und Churchill wollte sie mit Blick auf das Commonwealth nicht in der Charta haben. Für die Kolonien fand Roosevelt den Ausweg, sie unter eine spezielle Treuhandschaft der UNO zu stellen, die sie auf die Unabhängigkeit vorbereiten solle.
Die UNO-Charta trat am 24. Oktober 1945 in Kraft, nachdem die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats (Frankreich war inzwischen hinzugekommen) und die Mehrheit der Unterzeichnerstaaten ihre Ratifikationen hinterlegt hatten. Die Generalversammlung trat zum ersten Mal am 10. Januar 1946 in der Londoner Westminster Central Hall zusammen. Die UNO war nicht die einzige internationale Organisation jener Jahre, die Institutionen der Bretton Woods-Konferenz 1944, IWF und Weltbank, aber auch das General Agreement on Trade and Tarifs (GATT) 1947 beruhten vor allem auf der Initiative der USA. Sie sollten nicht nur den Rahmen einer neuen Völkerrechtsordnung formen, die erfolgreicher den Frieden garantieren könnte als der gescheiterte Völkerbund. Sie waren auch als Instrumente des »freien Westens« konzipiert, dessen Dominanz gesichert werden sollte. Das bedeutete vor allem die Sicherung des Hegemonieanspruchs der USA. Denn es sei an der Zeit, schrieb der republikanische Verleger von Time und Life, Henry R. Luce, schon 1941, »ernsthaft unsere Aufgabe und unsere Chance als mächtigste und vitalste Nation in der Welt wahrzunehmen und daher in dieser Welt unseren uneingeschränkten Einfluss geltend zu machen, und zwar für Zwecke, die wir für richtig halten, und durch Mittel, die wir für richtig halten.« In den Worten von Trumans Außenminister James F. Byrnes: »Was wir tun müssen, ist, nicht die Welt für die Demokratie, sondern für die USA sicher zu machen.« Dieser Satz überdauerte alle Administrationen bis auf den heutigen Tag und bedeutete den Ausbau eines gigantischen Militärapparats mit exorbitanten Rüstungshaushalten, die unbedingte Bereitschaft zur Intervention in jedes schwächere Land, welches nicht die Interessen der USA vorrangig bediente, und die vollständige Unterordnung des Völkerrechts unter die US-Interessen.
Dass es bisher nicht zu einer militärischen Konfrontation zwischen den größten Mächten gekommen ist, wird aber nicht so sehr der UNO und ihrer Charta, sondern vor allem dem atomaren Patt zwischen den Mächten zugeschrieben. Wie wären allerdings die letzten 75 Jahre verlaufen, wenn es kein Veto im Sicherheitsrat gegeben hätte? Denn schon im März 1946 hatte Churchill in Anwesenheit von Truman seine berüchtigte »Eiserner Vorhang«-Rede gehalten und eine Bedrohung aus dem Osten durch »zwei finstere Marodeure – Krieg und Tyrannei« beschworen und zur Kraftprobe mit der Sowjetunion aufgefordert. Obwohl mit Truman bereits unmittelbar nach dem Weltkrieg der »Kalte Krieg« in die Arena der »Vereinten Nationen« eingezogen war, stimmten er und Churchill den Zielen der UNO in Art. 1 der UNO-Charta zu: Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen, Achtung und Wahrung der Menschenrechte und die Lösung internationaler Probleme auf der Basis der Zusammenarbeit.
Außerdem wurden in Art. 2 völkerrechtliche Grundprinzipien formuliert, die nach dem Zweiten Weltkrieg den wohl bedeutendsten Beitrag zum Völkerrecht darstellen: der Verzicht auf Androhung und Ausübung von Gewalt, die Unabhängigkeit und souveräne Gleichheit der Staaten, die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates, die internationale gegenseitige Zusammenarbeit zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Probleme sowie die friedliche Streitbeilegung ihrer Streitigkeiten. Es ging den Staaten dabei aber nicht nur um die Abwehr und Verhinderung von Krieg, den sog. negativen Frieden. Im neunten Kapitel über »Internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet« formuliert die Charta in den Art. 55 ff. Aufgaben der Vereinten Nationen zur Verbesserung des Lebensstandards, Förderung der Vollbeschäftigung und zur Lösung internationaler Probleme wirtschaftlicher, sozialer, gesundheitlicher und kultureller Dimension. Selbst die Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in der Charta sonst keine weitere Erwähnung finden, müssen »ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache und der Religion« geachtet werden (Art. 55d).
Dem Sicherheitsrat wurde die Aufgabe der Friedenssicherung übertragen (Art. 11 UNO-Charta). Dazu haben sich die Staaten in Art. 25 UNO-Charta verpflichtet, »die Beschlüsse des Sicherheitsrats im Einklang mit dieser Charta anzunehmen und durchzuführen«. Die Generalversammlung hingegen kann zwar über alle Fragen der Friedenssicherung diskutieren und beratschlagen, aber keine Empfehlungen mit ihren Resolutionen aussprechen, solange der Sicherheitsrat sich mit der Angelegenheit beschäftigt (Art. 12 UNO-Charta). Diese wohldurchdachte »Arbeitsteilung« hat aber schon bald nach der Gründung der Vereinten Nationen zu Problemen der Friedensstiftung bis hin zu ihrer Blockade geführt. Es handelt sich um einen Kompetenzkonflikt zwischen den beiden Organen der UNO, der bis heute andauert und immer wieder den Ruf nach Reformen hat laut werden lassen. Er entstand zum ersten Mal im Koreakrieg, als der Sicherheitsrat auf Antrag der USA die Mitgliedstaaten aufforderte, Süd-Korea gegen die über die Demarka-tionslinie des 38. Breitengrades vorrückenden Nord-Koreaner Hilfe zu gewähren. Das war nur möglich geworden, weil die Sowjetunion zu jener Zeit den Sicherheitsrat aus Protest gegen die Weigerung der UNO, die VR China aufzunehmen, boykottierte. Wäre sie anwesend gewesen, hätte sie den Beschluss zweifellos mit ihrem Veto blockiert. In dieser Situation gelang es dem US-Außenminister Dean Acheson, die berühmte Resolution 377 (V) »Uniting for Peace« in der Generalversammlung mit 50 Stimmen gegen fünf bei 2 Stimmenhaltungen durchzubringen. In ihr heißt es: »Falls der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit seiner ständigen Mitglieder es in einem Fall offenbarer Bedrohung des Friedens unterlässt, seine primäre Verantwortung für die Aufrechterhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit auszuüben, (soll) die Generalversammlung unverzüglich die Angelegenheit beraten (…), um den Mitgliedern geeignete Empfehlungen für Kollektivmaßnahmen zu geben, im Falle des Friedensbruches oder einer Angriffshandlung auch für den Gebrauch bewaffneter Kräfte, wenn das nötig ist.« Dies war ein klarer Verstoß gegen die Kompetenzverteilung der Artikel 10 und 12 der UNO-Charta und nicht nur ein schwerer Schlag gegen die Sowjetunion, sondern eindeutig völkerrechtswidrig. Die Generalversammlung sollte für ihre neue Friedenskompetenz auch außerhalb der Sitzungsperioden zu einer Notstandsondertagung (Emergency Special Session) zusammengerufen werden können. Auch die Sowjetunion hat zu diesem seinerzeit von ihr scharf verurteilten Mittel in der Suez-Krise gegriffen, sodass man davon sprechen kann, dass sich hier ein neues Völkergewohnheitsrecht entwickelt hat.
Die Menschenrechte waren von den Gründervätern der UNO umgangen worden, weil sie sich nicht über das Verhältnis der politischen zu den ökonomischen und sozialen Menschenrechten einigen konnten. Stalins Forderung, die ökonomischen und sozialen Menschenrechte mit der gleichen Verbindlichkeit wie die bürgerlichen und politischen in die Charta aufzunehmen, traf zusätzlich auf den Widerstand Churchills, der Großbritanniens Kolonien vor dem Konflikt mit den Menschenrechten bewahren wollte. Doch insbesondere die Nichtpaktgebundenen Staaten drangen auf eine Kodifizierung. So fand man 1948 den Ausweg, alle Menschenrechte in einer Deklaration zu vereinen, ihnen aber die Verbindlichkeit vorzuenthalten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10. Dezember 1948 mit 48 Stimmen ohne Gegenstimme bei 8 Enthaltungen von der UN-Generalversammlung verabschiedet. Eine verbindliche Form in zwei Pakten sollte eigentlich unmittelbar folgen, wurde aber erst 18 Jahre später 1966 von der Generalversammlung beschlossen. Beide Pakte traten erst nach weiteren 10 Jahren 1977 in Kraft, doch obwohl sie die gleiche Verbindlichkeit beanspruchen, wird in der westlichen kapitalistischen Praxis dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte immer noch die Verbindlichkeit, wie sie dem Pakt über bürgerliche und politische Rechte zuerkannt wird, vorenthalten.
Der Rahmen des allgemeinen wie humanitären Völkerrechts ist durch zahllose Verträge und Konventionen gleichwohl stetig erweitert worden. Nur bei der Erfüllung der zentralen Aufgabe, der Friedenssicherung, scheitert die UNO immer wieder. Die Unfähigkeit der UNO, die Kriegsgefahr in der Welt zu bannen, wird ihrer veralteten Konstruktion angelastet. Doch was der UNO als Unfähigkeit attestiert wird, ist im Grunde die Unfähigkeit ihrer Mitgliedstaaten, die Normen, zu denen sie sich bekennen, selbst zu befolgen. Kern der Kritik und der wiederholten Forderungen nach Reformen ist das Veto-Recht, welches die Handlungsfähigkeit lähme. Doch eines ist sicher, keine Macht wird auf ihr Veto verzichten noch bereit sein, es anderen Staaten zuzugestehen. Alles ist reformierbar, aber die Grundentscheidung aus dem Jahre 1945 so lange nicht, wie die Machtkonstellation auch in der Zukunft sich nicht ändert. Gerade in der Zeit wieder zunehmender Großmachtkonfrontation sollte aber die gewalthemmende Funktion des Vetos nicht geringgeschätzt werden.