Das Klassentreffen meiner Ex-Klasse zum 60. Jubiläum des Abiturs im Sommer 2021 war anders vorgesehen – aber manchmal kommt das Leben eben nicht wie geplant daher. Der spitzzüngige Tucholsky, mein unerreichbares satirisches Vorbild, sollte leider wieder einmal recht behalten. Aber zuerst muss ich zum allgemeinen Verständnis noch einiges zur Vorgeschichte bemerken.
Nach dem Abitur an der Greizer »Theodor-Neubauer-Oberschule« wollte ich unbedingt Lehrer werden. Ich bin es geworden und habe das auch nie bereut. Als Vogtländer wollte ich im nahen thüringischen Jena studieren, aber dort waren alle Studienplätze bereits ausgebucht. Nun war es in der DDR in solchen Fällen Usus, die Unterlagen an Einrichtungen weiterzureichen, deren Kapazitäten noch Spielraum hatten, und das war in Berlin erfreulicherweise der Fall.
1957 hatte ich als 22-jähriger mein Studium an der Berliner Humboldt-Universität abgeschlossen und war gierig auf die Praxis. Die allerdings ließ sich schwieriger an als gedacht, denn die Zuweisung einer Planstelle in Berlin verzögerte sich bis Ende August. Infolge der Pädagogenknappheit in den nördlichen Landstrichen der DDR war ich für den Kreis Demmin vorgesehen. Dagegen war grundsätzlich auch nichts einzuwenden. Ich hatte aber kurz zuvor – Ende Mai 57 – geheiratet, und meine Frau war erstens Berlinerin, zweitens Lehrerin, und drittens saß sie seit einem Jahr zufrieden auf einer hauptstädtischen Planstelle im Berliner »Prenzelberg«. Sie war nicht dazu bereit, daran etwas zu ändern, und beide waren wir nicht daran interessiert, das junge Glück auf verschiedene Landstriche zu verteilen. Nach ein wenig kaderpolitischem Hickhack wurde ich daraufhin in die Berliner Vertreterreserve katapultiert.
Zwei Tage vor Schuljahresbeginn wurde ich per handschriftlichen Zettel im Briefkasten – über einen Telefonanschluss verfügten wir damals nicht, und das Internet war ein Fremdwort – zu einem Einstellungsgespräch zum Direktor der KJS geladen. Dass sich hinter dem Kürzel »KJS« die Schulform »Kinder- und Jugendsportschule« verbarg, eröffnete sich für mich erst im Gespräch mit meinem zukünftigen Chef. Leider hatte ich zum Sport ein eher gestörtes Verhältnis. Das lag daran, dass ich zu den Kindern gehörte, die nach Kriegsende dem Polio-Virus zum Opfer gefallen waren, und zwar beim Schwimmtraining. Das hatte meine sportlichen Ambitionen beendet, die Befreiung vom Sportunterricht bewirkt und zur langjährigen orthopädischen Betreuung geführt. Dennoch: Der Direktor erläuterte mir die Aufgaben der Schule und entschied sich kühn für meinen Einsatz.
So wurde ich Klassenleiter der Klasse 9 B, die ich bis zum Abitur führte und in den Fächern Deutsch und Geschichte unterrichtete. Diese Klasse blieb in meinem Berufsleben die einzige, deren Ordinariat ich betreute. Das ist wohl auch einer der Gründe dafür, dass sie mir besonders ans Herz wuchs und dass wir Lehrer und Schüler – mehr oder weniger – Freunde wurden.
Die Klasse bestand zwischen der 9 B und der 12 B aus maximal 34 Schülern inklusive vorzeitiger Ab- und späterer Zugänge. Die KJS, 1954 gegründet, veränderte bis in die späteren »Wende«-Jahre ihr Profil wesentlich. War sie in den Anfangszeiten noch eine »normale« Schule für besonders sportinteressierte und sporttalentierte Schüler, profilierte sie sich in verschiedenen Teilschritten zur Bildungseinrichtung des Nachwuchsleistungssports und zur »Geheimwaffe« des Leistungssports in der Mittelgebirgsrepublik.
Die näheren Umstände der Oberschuljahre der 9 B bis 12 B waren in Berlin von folgenden politischen Umständen geprägt:
- a) Die Stadt litt noch stark unter den Kriegsschäden. Sowohl in der Studienzeit als auch in den ersten Dienstjahren nahmen wir noch an Enttrümmerungsaktionen teil und unterstützten die legendären »Trümmerfrauen«.
- b) Berlin trug nach Gründung der BRD und der DDR noch den Charakter einer Vier-Sektoren-Stadt, wobei der ehemals von sowjetischer Verwaltung bestimmte Ostsektor politisch und verwaltungstechnisch als »Hauptstadt der DDR« fungierte. Das brachte es mit sich, dass in den Ostbezirken ansässige Berliner durchaus in Westberliner Betrieben und Verwaltungen angestellt sein konnten und mit der dort gültigen Währung entlohnt wurden. Das verursachte Ungerechtigkeit und Unfrieden.
- c) Die Stadtteile/Sektoren waren für jedermann frei zugänglich. Über die Westsektoren Berlins vollzog sich der Staatenwechsel von DDR-Bürgern in die BRD. Das hatte u. a. zur Folge, dass bisher im Osten tätige Fachleute, auch Lehrer, häufig über die Ferien »abwanderten« und die Unterrichtsplanung in den DDR-Schulen ad absurdum führten.
Aus den Absolventen »meiner« Klasse gingen 6 Ärzte, 12 Hochschul- und 6 Fachschulabsolventen bzw. Ingenieure, 4 Lehrer oder Trainer und 2 Handwerksmeister bzw. handwerkliche Betriebsleiter ins Berufsleben. In den restlichen Fällen sind die beruflichen Abschlüsse und Orientierungen nicht bekannt. Parallel zur Bildungsentwicklung profilierten sich zwei Schüler der Klasse in der Leichtathletik und ein Schüler im Eiskunstlauf (Paarlauf) auf dem internationalen Sportparkett.
Wir wollten uns, wie schon so oft, auch zum 60. Jubiläum des Abiturs auf die Spuren einer Klassenfahrt begeben. Eine hatte uns zu Schulzeiten über Naumburg ins literaturklassische Weimar in die Wohn- und Schaffensstätten von Goethe, Schiller und Liszt geführt und in einem Schlenker über Rastenberg und den Kyffhäuser zurück nach Berlin. An diese kulturhistorische Fahrt wollten wir anknüpfen, wenn auch nicht wie dunnemals auf den holzbankbestückten Ladeflächen von zwei LKW’s. Doch trotz aller energischen Bemühungen der ehemaligen Schülerin Heidi Kretschmer, die sich in Jahrzehnten zum unentbehrlichen guten Geist der Klassentreffen entwickelt hatte, wurde daraus nichts. Viele Umstände vor Ort – Corona-bedingte Zugangsbeschränkungen – blieben ungeklärt. Aber ausfallen sollte das Jubiläum nicht! An die Stelle der mehrtägigen Reise trat ein fröhlicher Nachmittag auf dem luftigen Anwesen des Ex-Schülers Gerd in Altlandsberg, dem gemeinsam mit Heidi der Titel »Verdiente Klassentreffenretter 2021« verliehen wurde.
Ich bin im Laufe meines Lehrerdaseins und auch danach nicht selten zu Klassentreffen eingeladen worden. Sie erstreckten sich von Gaststättenbegegnungen über Feten in privaten Feierstätten (in Wohnungen oder Gärten von Schülern oder Lehrern), von Stadtführungen (Weimar, Altlandsberg, Wernigerode, Güstrow) bis zu Treffen in Schulen oder bei Sport- und Kulturereignissen Doch das, was die 9 B bis- 12 B noch 60 Jahre nach dem Abi verbindet, ist unvergleichbar und einmalig, und dafür kann ich mich nur bedanken.