Die Tragödie, die sich derzeit innerhalb der früheren Sowjetrepubliken entfaltet, führt in den Ländern der EU und der USA nicht nur zu einer seit den 1950er Jahren nicht gekannten Aufrüstungswelle, sondern auch zu einem Sanktionsregime, dessen Ziel der amtierende Vorsitzende des EU-Rates der Finanzminister, Frankreichs Ressortchef Bruno Le Maire, so beschrieb: »Wir werden einen vollständigen wirtschaftlichen und finanziellen Krieg gegen Russland führen« – »Russland wird leiden, Europa nicht.« Allenfalls sei im Westen mit höheren Gaspreisen und folglich mit »ein wenig mehr Inflation« zu rechnen, aber: »Das russische Finanzsystem wird unter unseren Augen zusammenbrechen.«
Als Beleg für die angeblich völlige Isolation Russlands und damit als Garantie für das Gelingen des Wirtschaftskrieges wird hierzulande vor allem die Abstimmung der UN-Vollversammlung vom 2. März gewertet. Dort hatten sich 141 Staaten hinter einer auch von Deutschlands Außenminister Annalena Baerbock energisch vorangetriebenen Resolution versammelt, in der – ohne jede Nennung beispielsweise der Rechte der Donbass-Republiken auf Autonomie – Russlands Angriff »aufs Schärfste« verurteilt und der sofortige, bedingungslose Rückzug seiner Truppen gefordert wird. Lediglich fünf Staaten hätten bei 35 Enthaltungen dagegen gestimmt.
Wer sich die Mühe macht, die Einwohnerzahl der Staaten zusammenzuzählen, die der Resolution nicht zugestimmt haben, wird die Euphorie Le Maires nicht teilen können. Schon die bevölkerungsreichsten ersten fünf – China, Indien, Pakistan, Bangladesch und Vietnam – haben zusammen mit 3,3 Milliarden Einwohnern und damit potentiellen Handelspartnern für russische Waren deutlich mehr Einwohner als die USA und die EU zusammen. Die vierzig Staaten, die sich weder an der »schärfsten« Verurteilung Russlands noch an Sanktionen beteiligen, haben zusammen rund vier Milliarden Einwohner. Die Welt ist nicht im Verhältnis 141 zu 40 geteilt, sondern ziemlich genau in zwei gleich große Hälften – also 1 zu 1.
Realistischer als das Jubelgeschrei über den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch Russlands ist denn wohl auch die Einsicht, die die FAZ am 4. März hinten im Wirtschaftsteil in die Überschrift kleidete »Sanktionen wirken – auch hier«. Nicht nur die seit langem schon steigenden Energiepreise schießen gerade durch die Decke – auch die 100 Milliarden für neue Waffen oder die vom Wirtschaftsminister Robert Habeck versprochenen Kompensationen für Verluste der deutschen Unternehmen für entgangene Russland-Geschäfte in Höhe von wenigstens 20 Milliarden Euro werden schon bald zu spürbaren Einschnitten für den Alltag von Millionen Menschen in unserem Land führen.
Gewarnt vor den zweischneidigen Wirkungen dieses Wirtschaftskrieges waren alle, die lesen können. In einem der wichtigsten Selbstverständigungsorgane der Herrschenden, dem Londoner Economist, war bereits am 19. Februar die Zusammenfassung eines umfassenden Werkes von Nicolas Mulder von der Cornell University über die Wirkung von Sanktionen zu lesen, die auf zwei »Lektionen« hinauslief: Erstens haben die meisten Sanktionen »nicht gewirkt« und zweitens hatten sie »oft unerwartete Konsequenzen«. Eine davon wird wahrscheinlich die Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen Russlands mit den 4 Milliarden Menschen sein, die die Sanktionswelle nicht mitmachen.
Kapitalismus wäre nicht Kapitalismus, würden nicht jetzt schon einige die Chancen in dieser kommenden Zweiteilung der globalen Wirtschaft (vielleicht mit China als dem Scharnier zwischen beiden Blöcken) wittern. Darauf deutet jedenfalls ein aufschlussreiches Interview mit Andreas Lipkow in derselben FAZ hin, die vorne die UN-Abstimmung bejubelt. Angesprochen auf die anhaltenden »Bewegungen« bei russischen Aktien und gefragt, wie das denn mit den Sanktionsbeschlüssen zusammenpasse, war die nüchterne Antwort dieses Börsenprofis: »Es gibt Anleger, die auf solche Handelssituationen spezialisiert sind. Sie legen einen Abschlag fest und schauen, was der Restkonzern nach einer vorher festgelegten Zeitperiode noch wert sein müsste. Das ist ein sehr spekulatives Geschäft mit hohen Gewinnchancen, sofern es aufgeht.«
Das Spiel hat erst angefangen. Wer es gewinnt, steht noch nicht fest. Fest stehen nur die Verlierer: Das wären Lohnabhängige, Rentner, Studierende und Arbeitslose von Lissabon bis Wladiwostok, wenn sie den Kurs auf Hochrüstung und Wirtschaftskrieg nicht stoppen.