Albrecht Franke
Da Werner Heiduczek (1926-2019) seinen Roman »Abschied von den Engeln« (erstmals erschienen 1968 im Mitteldeutschen Verlag Halle) gehörig mit Philosophie fütterte – und durchaus damals in der DDR mit scheelen Augen betrachteter, etwa Camus’ »Mythos von Sisyphos«), könnte er auch den Untertitel führen: »An allem ist zu zweifeln«. Denn Zweifler sind die Hauptfiguren sämtlich: Max, […]
Gemälde
»Ja, wirklich«, bestätigte die Aspirantin. »Das ästhetische Niveau ist gewachsen. Selbst in so einem Krähwinkel wissen die Menschen komplizierte Malerei zu schätzen und überdies ihre Wechselwirkung zur Umwelt herauszustellen.« In Daniil Granins (1919-2017) berühmtem Roman »Das Gemälde« fallen diese für die Kunstbeurteilung in sozialistischen Ländern ganz typischen Worte. Der Roman Granins erschien 1980 in Moskau, auf […]
Lyrische Selfies
Man sieht mitunter Menschen sich verrenken, bevor sie ihr Handy »auslösen«, um sich präsentabel zu machen und danach vielleicht die Welt an ihren Befindlichkeiten teilhaben zu lassen. Die Gedichte von Manuela Bibrach, die durchaus Selfies in Worten gleichen, kommen dagegen ziemlich direkt daher und fast immer ohne Posen aus. Das heißt aber nicht, dass sie […]
Und noch einmal: Brigitte Reimann
Dass Brigitte Reimann (1933-1973) eine großartige Schriftstellerin war und wichtige Aspekte der DDR-Literatur repräsentiert, steht außer Zweifel. Dass sie widersprüchlich war, leidenschaftlich, impulsiv, begehrt und begehrlich, ein Leben führte, das auch Literatur hätte sein können und wurde, ebenfalls. Die daraus Jahre nach ihrem Tod gefilterte Ikonisierung hätte sie wahrscheinlich erschreckt. Die Ausgaben der Werke und […]
Links wo das Herz ist
Ein Gefühlssozialist! Der zu werden, und zwar eine Art rebellischer, darauf habe ihn seine »Armutskindheit« vorbereitet. So bekannte der Schriftsteller Leonhard Frank (1882 bis 1961) in seiner als Roman verkleideten Autobiografie »Links wo das Herz ist«. Was für Bezeichnungen und Titel man dem Erfolgsschriftsteller der Weimarer Republik (»Der Mensch ist gut«, »Karl und Anna«, »Die […]
Auf nach Görbersdorf!
Görbersdorf in Niederschlesien heißt heute Sokołowsko, der Ortsname erinnert an einen Pulmologen. Denn Görbersdorf war einst Standort eines berühmten Sanatoriums für Lungenkranke, das milde Klima und auf Tuberkulose spezialisierte Mediziner zogen ein Patientenpublikum aus vielen Ländern an. Dieser Ruhm ist heute fast vergessen, das Sanatorium verfallen. Dafür nimmt der literarische Strahlenglanz zu: Olga Tokarczuk verleiht […]
Die Hexe und der Weltkrieg
Dass eine Hexe in einen Krieg verwickelt wird, war die Idee der englischen Schriftstellerin Stella Benson (1892 bis 1933), ausgeführt in ihrem Roman »Zauberhafte Aussichten«. Freilich konnten weder sie noch ihre Hexe Angela ahnen, dass dieser einst der »Erste« genannt werden würde. Die Mitherausgeberin Magda Birkmann erinnert, unter Rekurs auf Virginia Woolf, in ihrem Nachwort […]
Jetzt Platonow lesen!
Alle lieben Moskwa Dass er eigentlich nicht lebe, sondern ins Leben verwickelt, verstrickt sei, dieser Gedanke beschleicht den ehemaligen Maler und Dichter Komjagin, dessen Name eine einst gängige Abkürzung für »Kommunismus« und eine Anspielung auf die Baba Jaga, die Hexe, enthält. Einst war er Maler und Dichter, jetzt ist er »Außermilitärischer« und brummt als Milizhelfer […]
Thomas Mann als Wiedergänger
Aus diversen Lesekanons ist Thomas Mann verschwunden: Zu schwierig sei der Autor, besonders für junge Menschen! In der literarischen Diskussion der Gegenwart wird man ihm nur selten begegnen. Dafür feiert er in Romanen Urständ, wenn auch nicht durchweg fröhliche. So kann man ihm in Till Sailers Roman »Haus mit der Madonna« begegnen (siehe Ossietzky 04/2024). […]
Kalte und warme Blitze
Die Gefahr »kalter« und »warmer« Blitzschläge hat der Autor wohl selbst befürchtet, wenn er aphoristisch im ersten Teil seines Buches dekretiert: »Daliegen, erschlagen vom eigenen Geistesblitz«. Aber diese Feuersnot droht dem Aphoristiker, weswegen wohl in jeder Sammlung »kalte« und »heiße« Gedankenblitze versammelt sind. Es hält sich hartnäckig der Aberglaube, dass warme Blitze Brände verursachen können, […]
Einsamkeit unterm Gnadenbild
Hanna Sewald kann ihre Einsamkeit nicht durchbrechen. Obwohl sie mit ihren drei Söhnen in einem betriebsamen Zuhause lebt, bei ihrem Vater und dessen neuer Frau, in deren Weimarer »Haus mit der Madonna«. Es wird im Roman so genannt, weil eines seiner Bleiglasfenster die Gottesmutter mit dem Kind zeigt. Doch Maria, die Trösterin, die Gesprächspartnerin von […]
Sowjetängste, europäischer Schrecken
Wie gründlich die Austilgung, ja Auslöschung russischer Literatur (genauer: Exilliteratur) hierzulande funktioniert hat, erweist sich auch am Werk Mark Aldanows (1896 bis 1957), dessen fast seherische Qualitäten entwickelnder Roman »Der Anfang vom Ende« jetzt in deutscher Sprache vorliegt. Und dafür gebührt dem Rowohlt Verlag Dank! Denn Aldanow dürfte zu den wirklich unbekannten Autoren gehören – obwohl […]
Nie ein Wir
Dem Leipziger Literaturverlag gelingen Überraschungen und Wiederbegegnungen – und Besseres kann Literaturinteressierten kaum geschehen. So jüngst mit Franz Hodjak, geboren 1944 im siebenbürgischen Hermannstadt (Sibiu), seit 1992 in Deutschland lebend. Wiederbegegnung deshalb, weil Texte von Franz Hodjak zu den nie vergessenen Eindrücken von rumäniendeutscher Literatur gehörten, die ich in den siebziger Jahren bei Rumänienaufenthalten gewann. Veröffentlicht […]
Eine Novelle aus Gedichten
Natürlich haben Gedicht und Novelle nicht viel miteinander zu tun. Beim Lesen des Textes »Luftkreuz« von Fritz Martin Barber, versehen mit dem prätentiösen und eher nichtssagenden Untertitel »Eine Novelle aus dem Lande Lau« drängt sich diese Beziehung aber auf. Es ist, als läse man die Gedichte wieder, die Barber, einer der Protagonisten der Lyrik- und […]
Teenage Wasteland
Es sind diese zwei Wörter (vielleicht zu übersetzen mit »Teenager-Ödland«) aus einem berühmten Song (»Baba O’ Riley«) der Beatkapelle »The Who«, die einem permanent durch den Kopf schwirren beim Lesen des Buches »Gittersee« von Charlotte Gneuß. Die Entstehungszeit des Rocksongs und die hauptsächlich erzählte Zeit im Roman passen etwa zusammen. Es ist ein einziges Ödland, […]
Walser als Romantiker
In seinem Buch »Martin Walser. Der Romantiker vom Bodensee« unternimmt Jochen Hieber den Versuch, das gesamte Schaffen Martin Walsers sozusagen aus dem Geiste der Romantik zu erklären. Das ist legitim und wirft durchaus ein neues Licht auf den nun hochbetagt verstorbenen »Großschriftsteller«. Dass er es war, vielleicht der letzte, den dieses Land hervorgebracht hat, unterliegt […]
Staun!
Der Gebrauch der inflektierten Form in der Überschrift könnte den Eindruck erwecken, es gehe im Folgenden um Mickymaus-Sprache, also »seufz!, stöhn!, zisch!« usw. Nein, es geht um Zbyněk Fišer, der sich aus Protest gegen den stalinistischen Antisemitismus Egon Bondy nannte und der von 1930 bis 2007 lebte. Er ist wahrscheinlich die schrillste Figur, welche die […]
Die liebende Freischärlerin
Das war und ist Louise Aston (1814-1871). In der Ausstellung »Aus dem Rahmen gefallen. Starke Frauen im Jerichower Land« konnte man ihr jüngst begegnen. Das Ausstellungsprojekt des Fördervereins Genthiner Stadtgeschichte war von Anfang Februar bis Anfang April dieses Jahres im Magdeburger Literaturhaus zu erleben. Da sah man Brigitte Reimann, die »Leidenschaftliche«; Elisabeth von Ardenne, die […]
In der Hohlwelt
Den Protagonisten des Romans »Monde vor der Landung« von Clemens J. Setz hat es wirklich gegeben. Man könnte das Genre des Buches daher, anstatt Roman, auch als – äußerst fantasievoll angereicherte – »Biografie des Peter Bender (1893 bis 1944)« benennen. Sich den Lebenslauf dieses seltsamen Menschen vor der Romanlektüre anzusehen, kann nur empfohlen werden. Da […]
Philomela und Procne reden
Ovids »Metamorphosen« geben den Subtext des neuen Romans von Ulrike Draesner: »Die Verwandelten«. Genauer: Die vielen Geschichten dieses Werkes der Weltliteratur, in denen Frauen Gewalt angetan wird. 50 Vergewaltigungen zählte die Autorin. Zur Nötigung gehört in diesen Texten auch das Stummmachen. Das geschieht etwa durch Verwandlung in Bäume: »Für immer in Äste, Stummheit und Holz. […]
Heimkehr nach Safe Harbour
Wer dieses Buch liest, sollte sich nicht täuschen lassen: Zum einen vom Cover, das die Rückansicht einer Frau im Badeanzug zeigt – wirksamer Blickfang vielleicht, aber es geht im Buch nicht um Freizeitspaß. Zum anderen nicht von der überschwappenden Beredsamkeit, ja Redseligkeit seiner Autorin, die Schwachpunkte des Textes verursachen. Stringenter erzählt – wir hätten es […]
Lebensfahrten, Lebenslieder
Gedichte sind, wie es der Klappentext dieses Buches verheißt, »Fenster in innere, nahe und ferne Welten.« Der Anspruch wird völlig zu Recht erhoben, das erweist sich beim Lesen. Die Autorin beherrscht die Kunst, in ihren Gedichten diejenigen, die sich darauf einlassen, auf eine Lebensfahrt mitzunehmen, auf ihre Lebensfahrt. Gemeinsam ist man unterwegs, gemeinsam durchstreift man […]
Czernowitzer Geschichten
Allein die vielen Namen der bukowinischen Hauptstadt erzählen von ihrem Schicksal: Tschernowitz, Tscherniwzi auf Ukrainisch, Tschernowzy auf Russisch, Cernăuți auf Rumänisch, womit aber noch längst nicht alle aufgezählt sind. Juden, Deutsche, Rumänen, Ukrainer und Polen bewohnten die Stadt, die man zu Recht einen multikulturellen Ort nennen durfte. Den Mythos Czernowitz beschreiben vielleicht »Klein Wien« oder […]
Schmidts Träume
So »realistisch« Arno Schmidts (1914 bis 1979) Romane auch wirken mögen, denn sie sind ja meistens von derber Offenheit, so scheinen sie doch, wie sein Hauptwerk »Zettl’s Traum« Illusionen zu gleichen. Und wären sie es – wir erführen doch über uns, was wir uns manchmal selbst nicht zu sagen wagen. Arno Schmidt wurde im »Lexikon deutschsprachiger […]
Auf hohem Niveau gefabelt
Liebhaber durchgängig gestalteter, mit erzählerischer Logik Fakten und Umstände genau auslotender Romane werden mit diesem Buch nicht auf ihre Kosten kommen, wer »Handfestes« liebt, auf jeden Fall. Denn weder Verbrechen, Mord und Totschlag, Attentat, Rockmusik und Sex fehlen in diesem merkwürdigen Buch. Es ist Juri Andruchowytschs Roman »Radio Nacht« gewiss auch Unterhaltungsroman, aber eben auch viel […]
Das Leben Friedls
Friedl Dicker-Brandeis lebte von 1898 bis 1944. Die aus Wien stammende jüdische Künstlerin war eine der bedeutendsten Bauhaus-Schülerinnen, eine schöpferisch hochbegabte Frau, deren wildes, nach außen manchmal bürgerlich-glattes, aber immer produktives Leben in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau endete. Vorher war sie jahrelang von den Nationalsozialisten schikaniert worden, 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Dort gab […]
Grausamkeiten
In der Zeit meines Lebens angekommen, in der ich das eigene Tun, das Lehren und Schreiben darunter, immer mehr als Versuche, ja als Unvollständigkeit erlebe, wurde ich durch die Kriegsereignisse des Jahres 2022 genötigt, mein seit Jahren brach liegendes Russisch wiederzubeleben – um hin und wieder als Übersetzer auf Ämtern oder in Arztpraxen helfen zu […]
Verleih uns Frieden gnädiglich
Im Dorf meiner Kindheit, Remkersleben in der Börde, läutete in den 1950er Jahren zu Anlässen, die dies geboten, nur eine Kirchenglocke. Deren Ton erschien mir unangenehm schrill. Eine Erzählung meiner Mutter war, dass die anderen Glocken für Kriegszwecke eingeschmolzen worden seien und nur diese übrig geblieben sei. Ich konnte mir »Einschmelzen« nicht vorstellen, auch nicht […]
Verschwinden eines Vaters
Von der Thematik »Verlassenwerden« lebt eine Literatur- und Popmusikindustrie. Man fürchtet fast, wenn man das Cover betrachtet, in so etwas hineingezogen zu werden, denn dort prangen, gelb unterlegt, die Wörter: »ZÄRTLICH, TRAURIG, SCHMERZHAFT, SCHÖN«. Das mag so empfunden worden und damit richtig sein, aber solche Termini erinnern doch an Regale in der Bahnhofsbuchhandlung, an denen […]
Abenteuerfährten
Der Lyriker Thomas Böhme verfasst nicht nur bezaubernde und lange im Leser nachklingende Gedichte, sondern auch gewichtige Romane. »Gewichtig« kann im Falle dieses sprachmächtigen Mannes nur »bedeutungsvoll« heißen. Das sind Romane wie »Die Einübung der Innenspur« (1990) oder »Der Schnakenhascher« (2013). In seltsame Welten versetzen sie einen, seltsam, weil sie so real sind, dass man […]
Sprachgewalt als Sprachverlust
Wenn man dieses Buch liest, ist es, als sei man zurückversetzt worden in die beklemmenden fünfziger Jahre, als rücke die graue Gegenwart der »jungen« DDR noch einmal auf einen zu, als sei man ein Kind. Und es prasseln wieder die Wörter auf einen herab, bei denen man sich nur ducken konnte und natürlich auch sollte. […]
Reden gegen den Schweigebefehl
Ohne die Mitteilung auf dem Umschlag, dass jemand »süchtig« geworden sei bei der Lektüre, wenn ihn ein Buch in den Bann geschlagen hat, geht es wohl nicht mehr ab. So auch nicht bei diesem wundervollen und wundersamen Roman, der einen zu fesseln vermag, den man immer weiterlesen will, der in einem weiterwühlt: Es ist »Omertà« […]
Ausgedachtes Leben
»Ach«, der Rezensent empfiehlt, während der Lektüre dieses vermeintlich so unscheinbare Wörtlein, welches dem Roman den Titel gibt, öfter auszurufen, zu sprechen, zu murmeln und so fort. Warum? Einmal, weil wir in unserem Leben sowieso nicht ohne die nuancenreiche Interjektion auskommen, zum anderen, weil dieser Roman das Ach-Sagen erforderlich macht. Denn das Kunstvolle, das man […]
Familienfehden
Dem Schriftsteller Sebestyén Paulich, im Buch meistens Sebi genannt, sind familiäre Zwistigkeiten so unangenehm wie wohl den meisten von uns. Doch scheinen weder er noch seine neun Geschwister darauf verzichten zu können, der greise Vater, der seine Bekundungen gern mit »Pax!« beschließt, schon gar nicht. Friedfertig sind nur wenige der Figuren des Buches, am meisten […]
Die Lachnummern des Alltags
»Normales Leben«, den »Alltag« und seine »Tücken«, das »wirkliche Dasein« zu beschreiben aus der Perspektive: »Ich bin wie du, und du bist wie ich« – das verheißen viele Bücher. Insofern ist es mutig von Autor und Verlag, mit eben diesem Programm im Klappentext des Buches »Letzter Mann« anzutreten: »In Peter Bergs Geschichten, in denen sich […]
Kein Verrat am Gedicht
Wie heute üblich, geschieht es nun auch beim Lesen: Es gilt, den AGBs zuzustimmen. Thomas Rackwitz stellt sie seinem neuen Gedichtband voran. Natürlich in lyrischer Form. Und man sollte sie nicht überlesen oder ihnen mechanisch zustimmen, wie wir es im Alltag mit den ABGs meistens tun. Zwei Passus schienen besonders bedenkenswert: Wer sich weigert, »diese […]
Proletarische Prinzessinnen
Dieser Roman ist einer der seltsamsten, die mir in letzter Zeit untergekommen sind. Aber auch einer, dessen Lektüre die dafür investierte Zeit nicht nur lohnt, sondern belohnt. Gewinn ist zu ziehen aus dem seltsamen, aber immer mehr Sog entfaltenden Sprachgebrauch. Aus dem Eigensinn, der hier zu spüren ist, und der – in des Wortes schönster […]
Ein philosophischer Roman
»Du, Hugo, müssen wir den Tag tatsächlich mit Philosophie beginnen?«, fragt eine Frau ihren Mann. Ja, in diesem Roman muss das sein: Eine Geschichte, die fast nur Intrigen, Erpressung, Sex inklusive Ausschweifung, Verrat, Zügellosigkeit und Mord (und was es sonst noch gibt im Repertoire menschlicher Begierden und Verfehlungen) zum Thema hat, wirkt mit der Würzpaste […]
Im Vexierbad
Eines Tages klingelt der Postmann, drückt einem eine Buchsendung in die Hand – und auf dem Schreibtisch liegt ein neuer Gedichtband von Thomas Böhme. Obwohl man weiß, dass man damit eine Welt, im Grunde die Welt aus Worten und Bildern, Anklängen an uralte Mythen und Erzählungen vor sich hat, kann man es nicht unterlassen, zuerst […]
Der Steinacker der Herkunft
Das Durcheinander eines Lebens ist nicht geradlinig zu erzählen – bei einem Lebenslauf in einer Familie wie dieser schon gar nicht. Zudem bekundet die Autorin, dass sie autobiografisches Schreiben »abwegig fand«. Wenn nun aber jemand schon in Kinderjahren und als Jugendliche Heft um Heft mit Tagebuchaufzeichnungen füllt und als reife, erfolgreiche Schriftstellerin mit solch einem […]
In vielen Leben zu Hause
Es gilt, eine Seltenheit zu bestaunen in den Zeiten wohlfeiler und oft wenig tiefgründiger Druckwaren. Es ist die Biografie »Die Leben des Paul Zech« von Alfred Hübner. Ein überaus treffender Titel, denn von Paul Zech stammt der Befund (in seinem »Selbstbildnis«), dass »jedes Leben tausendmal von tausend Leben gelebt« werde. Das schafft Intensität, zweifelsohne. Aber […]
Richards Kampf mit der Raumzeit
Die Absolvierung eines Leistungskurses Physik und eines Philosophiegrundkurses empfiehlt sich vor der Lektüre dieses Romans. Wer nicht wenigstens einen davon nachweisen kann, der rücke seine Lexika zu seinem Lektüreplatz oder öffne ein Online-Nachschlagewerk. Doch im Ernst: Es ist gewaltig, was die Autorin hier serviert. Denn man liest eine Art belletristischer Variante ihres parallel erschienenen Werkes […]
Die dunkle Seite eines Wortes
Das Wort »Wahnsinn« hat Konjunktur in unserer Alltagssprache, kaum eine Sportreportage, keine Werbeanpreisung kommt ohne es aus. Dass Literatur die Aufgabe hat, alle Wortbedeutungen ans Licht zu bringen, schwang immer wieder mit in der Lesung Helga Schuberts im Magdeburger Rathaussaal, die ich am 23.9.2021 moderieren durfte. Die Bachmann-Preis-Gewinnerin des Jahres 2020 sprach vor ausverkauftem Auditorium […]
Die Freundinnen-Konstellation
Fast alle Erzählungen des Bandes »Licht hinter dem Fenster« von Tatjana Geringas gehen von Freundinnenfiguren aus, deren Konstellation alles halten und tragen soll, was mitgeteilt wird. Das freilich kann nicht immer funktionieren, und so geraten die Geschichten (zum Glück!) zur Darstellung mannigfaltiger Geschicke. Diese berühren oft stark, Tatjana Geringas Fähigkeit, menschliche Tragödien zu suchen, zu […]
Zeitzeichen: Armutssafari
»Armut«, »Wut« »abgehängte Unterschicht«, das sind fast nur noch formelhafte Begriffe, leere Schlagworte. Gern und oft werden sie bemüht, keine Wahlanalyse kommt ohne sie aus. Jedoch wird meistens über »Armut« von der hohen Warte gesicherter Einkünfte, guten Lebensstandards aus doziert. Das Buch »Armutssafari«, geschrieben von Darren McGarvey, bietet stattdessen die direkte Perspektive, die Sprache dessen, […]
Dracula ist hier!
Eine Bukarester Künstlerin, die Ich-Erzählerin des Romans, kehrt aus Paris zurück nach Rumänien, in die Walachei, nach B. Im Klappentext ist das der »Ferienort ihrer Kindheit bei Transsilvanien«. Das ist ungefähr so präzise, wie wenn man sagte: Wolfsburg liegt bei Sachsen-Anhalt. Schaut man die Kapitelüberschriften an, in denen folgende Wörter dominieren: Tod, Angst, Gruft, gepfählt, […]
Lebensschichten
Die Genrezuweisung Roman auf dem Buchdeckel erscheint nicht überzeugend: Ich hatte nicht immer das Gefühl, einen Roman zu lesen. Andererseits: Wie will man eine große Erzählung über ein Leben nennen, über die Suche nach einem Platz darin? Zumal der Text unter den bekannten Motto-Worten Shakespeares vom Leben als Schatten, vom Märchen, das ein Narr erzählt […]
Es wird geschwitterst
Auf Seite 300 des opulenten Buches »Schwitters« liest man, dass Kunst nicht von ihrem Künstler, nicht von sich, nicht einmal von ihrem Gegenstand handele – sondern ihn erzeuge. Dies als Credo der Autorin Ulrike Draesner unterstellt, wird hier ein veritabler Kurt (in Hannover) und (in England) Körrt Schwitters (1887 bis 1948) erzeugt. Schwitters, ein Kunst-Genie […]
Klüfte
Die Welt der Toten hat nichts mit der Welt der Lebendigen zu tun … Aber sie drängen sich herein, obwohl die Tür hermetisch verschlossen sein soll. Hermetisch, luft- und wasserdicht abgeschlossen. Siehe: Hermes legt den Finger auf den Mund, er verschweigt die göttliche Weisheit und führt die Seelen der Toten in die Unterwelt, psychopompos. Manchmal macht er […]
Hauptfigur: Das Gedächtnis
Ob es nun der auf dem Waschzettel versprochene »Metaroman« ist oder nicht – dieses Buch Maria Stepanovas ist etwas ganz Besonderes. Nicht deswegen, weil das Gedächtnis zum Protagonisten eines Romans gemacht wird, sondern weil die Autorin, unaufdringlich zwar, aber doch mit Nachdruck, Lehrstunden in »Erinnerungskunde« erteilt. Ist solche Nachhilfe nötig in Zeiten des ständigen Fotografierens, […]
Gesang der Neophyten
Haben wir es mit im Erwachsenenalter Getauften zu tun? Oder – mit des Wortes häufigerer Verwendung – den früher im Lande nicht heimischen Pflanzen? Da man beim Lesen auf Bekanntes stößt, sich öfter an des Verfassers hoch zu lobenden Band »An der Schwelle des Harzes« erinnert fühlt, können die Adventivpflanzen wohl nicht gemeint sein. In […]
Industriegeschichte
Manchmal ist es wohltuend, einen Roman zu lesen, der ganz nach »alter Art und Weise« geschrieben ist. Wer Bernd Sikoras »Siebenhöfen« zur Hand nimmt, wird sich erinnert fühlen an umfängliche Romane, welche die Entwicklung und Bildung eines Menschen vorführen. Das ist hier die fiktive Gestalt Carl Steiner, Steinmetzlehrling. Es ist reizvoll, diese erfundene Figur mit […]
Nur selten glücklich
In Jan Brachmanns Nachwort zu dem Buch »Fantasie in Blau« von Tatjana Geringas liest man, dass die bekannte Pianistin nur noch selten in der Öffentlichkeit erscheine, dafür aber »plötzlich das Schreiben für sich entdeckt« habe. Und fast entschuldigend wird daran erinnert, dass auch andere große Pianisten geschrieben haben. Das ist eigentlich unnötig, denn wer heute […]
Liebes Kind!
Der Buchverlag Der Morgen edierte 1966 und 1988 »Maud von Ossietzky erzählt«. Die Ausgabe aus dem Jahre 1988 begleitet mich bis heute. Es ist eine der Lektüren, die man nicht auf einen Zug durchliest, sondern die einem von Zeit zu Zeit »begegnen« – wenn man etwa den häuslichen Buchbestand durchforstet, weil man eine Information braucht […]
Nachti, Heym und der Teufel
Nachti, Katharina Nachtrab, gesprochen Nacht-rab, aus Nürnberg, will in Ost-Berlin (das ist wichtig!) Mitte der neunziger Jahre Theaterregisseurin werden. Sie wird Studentin an einer Berliner Schauspielschule. Nachtis Klasse besteht aus fünf Kommilitonen, ausgewählt aus einer Bewerberflut. Sind die »Elite-Studenten« schon eine seltsame Truppe, so sind die Dozenten fast gespenstisch. Und alter Ost-Kader obendrein, Stasi-Verwicklungen inklusive. […]
Leben im städtischen Freigehege
Wenn man die Gedichte Henning Kreitels liest, fühlt man sich an Franz Biberkopf erinnert, den seltsamen Helden in Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz«. Auf Franz stürzt auch die Großstadt ein, wo es »kolossal viele Menschen« gibt und wo es laut ist; wo der Einzelne wenig zu gelten scheint, frei und eingesperrt zugleich ist. Freilich führt […]
Musik vor dem Untergang
Den Spaßvogel nimmt man Thomas Böhme nicht leicht ab, obwohl er einer ist. Kein moderner allerdings, der mit selbstbestätigendem Gekicher seine Äußerungen begleitet, sondern in Gestalt des Klavierstimmers auf der »Titanic« auftritt: Als Feuchtigkeit eindringt, wird er gebraucht. So vielleicht auch der Dichter? Der »AM RAND DES ZERFALLS« steht und weiß, dass die Welt so […]
Höhenflüge, Notlandungen
Dass ein Buch voller poetischer Höhenflüge »Notlandung« betitelt ist, mag zunächst absurd klingen, es erklärt sich aber rasch, denn eine solche vom Autor im irischen Shannon erlebte Situation ist der zentrale Text des Bandes. Über 30 Seiten: »Auf glitschiger Fläche … gleite ich abwärts«; alle Fragen des Menschseins, der Existenz, des »Ungarseins«, des möglichen Todes […]
Ein Film-Leben
Das lobenswerte Unterfangen des Mitteldeutschen Verlags, georgische Literatur hierzulande bekannt zu machen, hat mit der Veröffentlichung von Lana Gogoberidses Autobiografie eine weitere Bereicherung erfahren. Die preisgekrönte Filmemacherin nahm sich dabei vor, das »Geheimnis unseres Daseins entschlüsseln« zu wollen – die Unausführbarkeit solchen Wollens eingestehend. Entstanden ist ein in vielen Passagen fesselndes, ehrliches Buch. Erst im […]
Albrecht Franke ist 1950 als Sohn einer Eisenbahnerfamilie in Seehausen (Börde) geboren. Nach dem Abitur Studium an der Martin-Luther-Universität Halle, danach Lehrer in Wanzleben (Börde), seit 1977 in Stendal, dort Leitung des Schüler- und Studentenschreibzirkels „Es wird …“. Seit 2013 freiberuflicher Autor, Lektor und Herausgeber.
Veröffentlichungen u.a.
- Letzte Wanderung, Erzählungen, 1983, Berlin, Union Verlag, auch EDITION digital, Pinnow 2016.
- Zugespitzte Situation, Erzählung, 1987 und 1989, Berlin, Union Verlag, auch EDITION digital, Pinnow 2016.
- Vor der Dunkelheit, Zweiteiliges Hörspiel, 1990, Sender Freies Berlin.
- Endzustand, Erzählung, 1993, Magdeburg, Edition Bleimond.
- Erstarrendes Meer, Roman, 1995, Magdeburg, Verlag Blaue Äpfel, auch EDITION digital, Pinnow 2016.
- Herausgeber der Bücher Freistunde, Angezettelt und Wenn Worte leuchten (mit Hörbuch-CD).
- Christa Johannsen. Ein erfundenes Leben (Biografie), Mitteldeutscher Verlag 2019.
- 2024 Aufführung des Hörbildes „Kephas muss in Cephaloedium warten“.