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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zwischenruf: Fragmentierung statt Gleichheit

Die heu­te domi­nie­ren­de Form von Iden­ti­täts­po­li­tik ist kein legi­ti­mer Nach­fol­ger, son­dern das Gegen­teil histo­ri­scher Eman­zi­pa­ti­ons­be­stre­bun­gen der Arbei­ter­be­we­gung. Ihr Fokus auf Aner­ken­nung immer klein­tei­li­ge­rer Grup­pen­iden­ti­tä­ten, die anhand eth­ni­scher, sexu­el­ler, sozia­ler oder kul­tu­rel­ler Aspek­te kon­stru­iert wer­den, zielt nicht auf Soli­da­ri­tät und Gemein­sinn, son­dern auf Sub­jek­ti­vi­tät und Aus­schluss ab. Statt um uni­ver­sa­li­sti­sche For­de­run­gen nach schran­ken­lo­sen Zugän­gen zu Bil­dung, Gesund­heit, Wohl­stand und Teil­ha­be geht es um Son­der­rech­te. Die Fol­ge ist ein Null­sum­men­kon­kur­renz­kampf um die lukra­tiv­sten Posi­tio­nen in der gesell­schaft­li­chen Opfer­hier­ar­chie. Am Ende steht nicht die gemein­schaft­li­che Tat, son­dern nur ein so zor­ni­ges wie Sta­tus-quo-kom­pa­ti­bles Res­sen­ti­ment. Die iden­ti­täts­po­li­ti­sche Obses­si­on im lin­ken Milieu, die Zer­split­te­rung, läuft auf eine Selbst­ent­mach­tung der Lin­ken hin­aus. Dies gilt natür­lich umso mehr, je stär­ker sie mit mora­li­scher Ver­ach­tung für ihr auto­fah­ren­des, fleisch­essen­des und kar­ne­val­fei­ern­des tra­di­tio­nel­les Wäh­ler­mi­lieu kom­bi­niert wird.

»Iden­ti­täts­po­li­tik«, so schreibt der an der Colum­bia Uni­ver­si­tät leh­ren­de Mark Lil­la, »ist Rea­gano­mics für Lin­ke.« Da sie mit den Dog­men eines pola­ri­sie­ren­den Neo­li­be­ra­lis­mus pro­blem­los ver­ein­bar ist, gerinnt öko­no­mi­sche Unge­rech­tig­keit in einen Neben­wi­der­spruch zu ver­meint­lich grund­sätz­li­che­ren Dis­kri­mi­nie­run­gen, die durch immer neue Pirou­et­ten pro­gres­si­ver Sym­bol­po­li­tik und mit »Hal­tung« bekämpft wer­den. Eine sol­che Lin­ke sorgt sich um emo­tio­na­le Krän­kun­gen durch Mikro­ag­gres­sio­nen, doch hat für Ent­de­mo­kra­ti­sie­rung, wach­sen­de wirt­schaft­li­che Ungleich­heit und für das Fin­ger­gra­nu­lom der Fri­seu­rin und für die kaput­ten Knie eines Flie­sen­le­gers in der Vor­stadt, kein Sensorium.

Im Fokus steht zwangs­läu­fig nicht das Ide­al der staats­bür­ger­li­chen Gleich­heit, son­dern das der Beson­der­heit. Anstatt das Gemein­sa­me zu för­dern, wer­den Men­schen in Schub­la­den sor­tiert. Dabei aber ver­wan­deln sich öko­no­mi­sche Kon­flik­te zuneh­mend in Kul­tur­kämp­fe. Schließ­lich sind Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Iden­ti­tät kaum durch Kom­pro­mis­se zu lösen – ganz abge­se­hen davon, dass ange­sichts flui­der Iden­ti­tä­ten dau­er­haf­te Koali­tio­nen kaum denk­bar sind. Aber im lin­ken Kampf sind brei­te Bünd­nis­se nötig

In Zei­ten, in denen kul­tu­rel­le Aneig­nung als über­grif­fi­ge Anma­ßung gewer­tet wird, bleibt schon die Betei­li­gung an poli­ti­schen Debat­ten aus­schließ­lich den augen­schein­lich direkt Betrof­fe­nen vor­be­hal­ten. »Ich als …« begin­nen die gera­de noch zuläs­si­gen Debat­ten­bei­trä­ge. Selbst Karl Marx wür­de heu­te als altem wei­ßen Mann man­cher­orts das Recht auf Mei­nungs­äu­ße­rung zu einer gan­zen Fül­le von Fra­gen ver­wei­gert. Was weiß Marx schon von Unter­drückung? Davon wis­sen Wei­ße sowie­so nichts.

In dem Maße aber, in dem sich die Auf­merk­sam­keit auf Selbst­wahr­neh­mun­gen rich­tet, wird die poli­tisch kon­kre­te Wirk­lich­keit unscharf gestellt. Statt sich etwa mit glo­ba­ler Ungleich­heit zu befas­sen, rich­ten Tei­le der aka­de­mi­schen Milieus den Blick nach innen, um dort den »eigent­li­chen« Kern aktu­ell zutref­fen­der Selbst­ent­wür­fe zu erfor­schen. Das ist zwar legi­tim, aber das genaue Gegen­teil des Anspru­ches, mit dem die Arbei­ter­be­we­gung sich an die Eman­zi­pa­ti­on benach­tei­lig­ter Klas­sen gemacht hat. Karl Marx, Fried­rich Engels und dem All­ge­mei­nen Deut­schen Arbei­ter­ver­ein ging es nicht um die Aner­ken­nung und Fort­schrei­bung bestehen­der Unter­schie­de, son­dern um deren Über­win­dung. Das Ziel waren nicht Pri­vi­le­gi­en, son­dern Gleichheit.

Ausgabe 15.16/2024