Die heute dominierende Form von Identitätspolitik ist kein legitimer Nachfolger, sondern das Gegenteil historischer Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterbewegung. Ihr Fokus auf Anerkennung immer kleinteiligerer Gruppenidentitäten, die anhand ethnischer, sexueller, sozialer oder kultureller Aspekte konstruiert werden, zielt nicht auf Solidarität und Gemeinsinn, sondern auf Subjektivität und Ausschluss ab. Statt um universalistische Forderungen nach schrankenlosen Zugängen zu Bildung, Gesundheit, Wohlstand und Teilhabe geht es um Sonderrechte. Die Folge ist ein Nullsummenkonkurrenzkampf um die lukrativsten Positionen in der gesellschaftlichen Opferhierarchie. Am Ende steht nicht die gemeinschaftliche Tat, sondern nur ein so zorniges wie Status-quo-kompatibles Ressentiment. Die identitätspolitische Obsession im linken Milieu, die Zersplitterung, läuft auf eine Selbstentmachtung der Linken hinaus. Dies gilt natürlich umso mehr, je stärker sie mit moralischer Verachtung für ihr autofahrendes, fleischessendes und karnevalfeierndes traditionelles Wählermilieu kombiniert wird.
»Identitätspolitik«, so schreibt der an der Columbia Universität lehrende Mark Lilla, »ist Reaganomics für Linke.« Da sie mit den Dogmen eines polarisierenden Neoliberalismus problemlos vereinbar ist, gerinnt ökonomische Ungerechtigkeit in einen Nebenwiderspruch zu vermeintlich grundsätzlicheren Diskriminierungen, die durch immer neue Pirouetten progressiver Symbolpolitik und mit »Haltung« bekämpft werden. Eine solche Linke sorgt sich um emotionale Kränkungen durch Mikroaggressionen, doch hat für Entdemokratisierung, wachsende wirtschaftliche Ungleichheit und für das Fingergranulom der Friseurin und für die kaputten Knie eines Fliesenlegers in der Vorstadt, kein Sensorium.
Im Fokus steht zwangsläufig nicht das Ideal der staatsbürgerlichen Gleichheit, sondern das der Besonderheit. Anstatt das Gemeinsame zu fördern, werden Menschen in Schubladen sortiert. Dabei aber verwandeln sich ökonomische Konflikte zunehmend in Kulturkämpfe. Schließlich sind Auseinandersetzungen um Identität kaum durch Kompromisse zu lösen – ganz abgesehen davon, dass angesichts fluider Identitäten dauerhafte Koalitionen kaum denkbar sind. Aber im linken Kampf sind breite Bündnisse nötig
In Zeiten, in denen kulturelle Aneignung als übergriffige Anmaßung gewertet wird, bleibt schon die Beteiligung an politischen Debatten ausschließlich den augenscheinlich direkt Betroffenen vorbehalten. »Ich als …« beginnen die gerade noch zulässigen Debattenbeiträge. Selbst Karl Marx würde heute als altem weißen Mann mancherorts das Recht auf Meinungsäußerung zu einer ganzen Fülle von Fragen verweigert. Was weiß Marx schon von Unterdrückung? Davon wissen Weiße sowieso nichts.
In dem Maße aber, in dem sich die Aufmerksamkeit auf Selbstwahrnehmungen richtet, wird die politisch konkrete Wirklichkeit unscharf gestellt. Statt sich etwa mit globaler Ungleichheit zu befassen, richten Teile der akademischen Milieus den Blick nach innen, um dort den »eigentlichen« Kern aktuell zutreffender Selbstentwürfe zu erforschen. Das ist zwar legitim, aber das genaue Gegenteil des Anspruches, mit dem die Arbeiterbewegung sich an die Emanzipation benachteiligter Klassen gemacht hat. Karl Marx, Friedrich Engels und dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein ging es nicht um die Anerkennung und Fortschreibung bestehender Unterschiede, sondern um deren Überwindung. Das Ziel waren nicht Privilegien, sondern Gleichheit.