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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zwischen den Lagern ist noch Platz

Rechts und Links sind kei­ne essen­ti­el­len Begrif­fe, obwohl deren Ver­tre­ter sie immer wie­der so defi­niert haben. Heu­te sind an die Stel­le pro­gram­ma­ti­scher Defi­ni­tio­nen Ver­satz­stücke von lin­ken und rech­ten Ideo­lo­gien getre­ten, die funk­tio­nal zwi­schen den Lagern hin und her wan­dern, par­al­lel zu den Wäh­ler­wan­de­run­gen. Auch auto­ri­tä­re Herr­schaf­ten jon­glie­ren mit Slo­gans, Images, Labels von links und rechts; sie­he Wla­di­mir Putin, sie­he Donald Trump, sie­he Vik­tor Orbán …

Das Bünd­nis Sahra Wagen­knecht hat bei den letz­ten Wah­len erheb­li­chen Zuspruch erhal­ten. In des­sen Pro­gramm wer­den tra­di­tio­nel­le lin­ke Posi­tio­nen mit tra­di­tio­nell rech­ten Posi­tio­nen (gegen Ein­wan­de­rer und Flücht­lin­ge, Schutz der Nati­on gegen Euro­pa), mit anti­im­pe­ria­li­sti­schen Slo­gans aus der alten Lin­ken (Anti­ame­ri­ka­nis­mus, OSZE statt Nato) und Aller­welts­sprü­chen à la »Wir wol­len den Mit­tel­stand schüt­zen«, ver­bun­den. Das Grund­ge­fühl die­ser Bewe­gung ist, so Wagen­knecht, ein lin­ker Kon­ser­va­tis­mus. Aber was, um Him­mels Wil­len, soll hier kon­ser­viert werden?

Wer auf die Ursprün­ge der Lin­ken zurück­geht, der trifft auf ein unlös­ba­res Dilem­ma. Ver­spro­chen wur­de ein Para­dies der Befrei­ung und sozia­len Gleich­heit, doch der Weg zum Para­dies erwies sich im Nach­hin­ein als Abgrund. Die wich­tig­ste Bot­schaft von Marx und Engels war die Ver­nich­tung der Bour­geoi­sie (Befrei­ung). Um die­ses Ziel zu errei­chen, soll­ten »des­po­ti­sche Ein­grif­fe« (Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats) das Gefü­ge der bür­ger­li­chen Gesell­schaft zer­schla­gen, das Pri­vat­ei­gen­tum abschaf­fen und eine nivel­lier­te Arbeits­ge­sell­schaft herstellen.

Frei­heit war für die Grün­der­vä­ter der Lin­ken – cum gra­no salis – eine bour­geoi­se Lüge. Mit der Befrei­ung vom kapi­ta­li­sti­schen Joch soll­te das The­ma abge­gol­ten sein. Und irgend­wann in fer­ner Zukunft wür­de sich die For­de­rung nach Frei­heit dann von selbst erle­di­gen. Das berühm­te Ide­al­bild einer zukünf­ti­gen Gesell­schaft aus dem »Kom­mu­ni­sti­schen Mani­fest«: mor­gens zu jagen, nach­mit­tags zu fischen, abends Vieh­zucht zu trei­ben ‒ eine rück­wärts­ge­wand­te Idyl­le in archai­scher Verkleidung.

Die demo­kra­ti­sche Frei­heits­be­we­gung von 1848 hat Marx erbit­tert bekämpft; für ihn waren deren Prot­ago­ni­sten, die Blum, Hecker, Struve, Wil­helm Lieb­knecht, Lui­se Aston, Emma Her­wegh u. a., Illu­sio­ni­sten rein­sten Was­sers, die aufs schärf­ste zu bekämp­fen waren. Man tut Marx kein Unrecht, wenn man ihn als lei­den­schaft­li­chen Anti-Demo­kra­ten bezeich­net. Wenn ich an die nach­fol­gen­den sozia­li­sti­schen Pro­jek­te den­ke, allen vor­an den sowje­ti­schen Sozia­lis­mus, gefriert mir das Den­ken. Eine bru­ta­le­re Umkehr des Befrei­ungs­ver­spre­chens und einer zukünf­ti­gen herr­schafts­frei­en Gesell­schaft kann man sich gar nicht vor­stel­len. Lenin und Trotz­ki haben die Mas­sen­er­schie­ßun­gen erfun­den; Sta­lin war der Herr­scher des Ter­rors und der Hun­gers­not, der Erfin­der des Mas­sen­tods im Gulag. Was soll dar­an links sein? Da kann man nichts »kon­ser­vie­ren«. Man kann sich nur klar wer­den dar­über, dass das tota­li­tä­re Erbe ein wich­ti­ger Bestand­teil der Geschich­te der Lin­ken ist wie der Kampf gegen sozia­les Elend und kapi­ta­li­sti­sche Profitmacherei.

Der Nie­der­gang und schließ­lich Zusam­men­bruch der sozia­li­sti­schen Gesell­schaf­ten Ende der acht­zi­ger Jah­re hat die Lin­ke mit einem gebro­che­nen Ver­hält­nis zur Demo­kra­tie zurück­ge­las­sen. Die­se blei­ben­de Schwä­che der Lin­ken ver­bin­det sich mit einer laut­los ver­lau­fen­den epo­cha­len Zäsur: dem lang­sa­men, aber ste­ti­gen Nie­der­gang des Fort­schritts­glau­bens. Die­ser Glau­be an ein Fort­schrei­ten der Mensch­heit zu immer höhe­ren Ent­wick­lungs­stu­fen, zu immer mehr Wohl­stand, ein Erbe der Auf­klä­rung, von der Lin­ken zum ste­ti­gen Ent­wick­lungs­pro­zess in Rich­tung Befrei­ung im Sozia­lis­mus umge­deu­tet, wird seit Jahr­zehn­ten von Pro­ble­men und Dilem­ma­ta über­la­gert, die die gesam­te Gesell­schaft, ja, die mensch­li­che Spe­zi­es betref­fen (Kli­ma­wan­del, Umwelt­ka­ta­stro­phen, Armuts­mi­gra­ti­on, gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Spal­tung), die weder links noch rechts defi­niert wer­den kön­nen. Res­sour­cen­knapp­heit, Mas­sen­wan­de­run­gen aus ärme­ren Län­dern, Zer­stö­rung von Zivi­li­sa­tio­nen durch Dür­re oder Über­schwem­mung bedro­hen alle Lager.

Was aber bleibt von der Demo­kra­tie, wenn ihre Bür­ge­rin­nen und Bür­ger das Ver­trau­en in die Zukunft ver­lo­ren haben? Im Westen war und ist das Ver­trau­en in die Demo­kra­tie seit jeher an Wachs­tum und Wohl­stand gebun­den. Wenn die­se Säu­len der demo­kra­ti­schen Ord­nung weg­bre­chen, dann bleibt eine ver­un­si­cher­te Bür­ger­schaft übrig, die im Nebel sto­chert und nach Ori­en­tie­rung sucht. Nicht zufäl­lig ist in die­ser Situa­ti­on das Para­dig­ma von der »illi­be­ra­len Demo­kra­tie« auf­ge­taucht. Es wur­de von auto­ri­tä­ren (Minister-)Präsidenten ost­eu­ro­päi­scher Staa­ten als Kern­stück ihrer Iden­ti­täts­po­li­tik pro­pa­giert. Ungarns Regie­rungs­chef Vik­tor Orbán hat kürz­lich im Inter­view mit der BILD-Zei­tung die Essenz die­ser rech­ten Vari­an­te der Demo­kra­tie for­mu­liert: Demo­kra­tien, in denen Poli­tik durch und von Insti­tu­tio­nen gemacht wer­de, sei­en schwach. Eine star­ke Demo­kra­tie brau­che einen Füh­rer, einen, der alles in die Hand näh­me. Im Klar­text: kei­ne plu­ra­le Gesell­schaft, son­dern eine auto­ri­tä­re Für­sor­ge­herr­schaft. Für die euro­päi­sche Rech­te in vie­len euro­päi­schen Län­dern war und ist das inzwi­schen ein will­kom­me­nes Ange­bot, sozu­sa­gen ihre Vari­an­te des Fortschrittsglaubens.

Einer der Grund­wer­te der Arbei­ter­be­we­gung hat die Zeit schein­bar unbe­scha­det über­dau­ert: die For­de­rung nach sozia­ler Gleich­heit. Anders als in der angel­säch­si­schen Tra­di­ti­on, in der unter­schie­den wird zwi­schen poli­ti­scher Gleich­heit (qua Wahl­recht) und sozia­ler Gleich­heit hat die deut­sche Lin­ke stets dar­auf gepocht, dass bei­de Vari­an­ten der Gleich­heit zusam­men­ge­hö­ren. In der angel­säch­si­schen Tra­di­ti­on wird der Bereich der sozia­len Gleich­heit als nicht poli­tisch bewer­tet, in die­sen Bereich sol­len Staat und Poli­tik nicht ein­grei­fen. So steht es jeden­falls in der Pro­gram­ma­tik des poli­ti­schen Libe­ra­lis­mus, und die gehört bis heu­te zum libe­ra­len Selbst­ver­ständ­nis. In Deutsch­land wird dage­gen nicht unter­schie­den zwi­schen poli­tisch und sozi­al. Wie lau­te­te die Losung der außer­par­la­men­ta­ri­schen Lin­ken einst so sim­pel wie ver­füh­re­risch: »Alles Sozia­le ist poli­tisch!« Jeden­falls wog die For­de­rung nach sozia­ler Gleich­heit für die hie­si­ge Lin­ke immer schwe­rer als die Ver­tei­di­gung der Freiheit.

Jeden Tag um Punkt 12 Uhr ertö­nen vom Turm des Rat­hau­ses Tem­pel­hof-Schö­ne­berg in Ber­lin die wuch­ti­gen Schlä­ge der Ber­li­ner Frei­heits­glocke. Zu dem Geläu­te erklingt im Radio die Stim­me einer Spre­che­rin: »Ich glau­be an die Unan­tast­bar­keit und an die Wür­de jedes ein­zel­nen Men­schen. Ich glau­be, dass allen Men­schen von Gott das glei­che Recht auf Frei­heit gege­ben wur­de. Ich ver­spre­che, jedem Angriff auf die Frei­heit und der Tyran­nei Wider­stand zu lei­sten, wo auch immer sie auf­tre­ten mögen.« Die­ser Spruch ist Teil eines län­ge­ren öffent­li­chen Gelöb­nis­ses, das 16 Mil­lio­nen Ame­ri­ka­ne­rIn­nen 1950 unter­schrie­ben und an die Deut­schen gerich­tet hat­ten. Fei­er­lich wur­de die Frei­heits­glocke am 24. Okto­ber 1950 in Anwe­sen­heit einer hal­ben Mil­li­on Ber­li­ner auf dem Rat­haus­turm ein­ge­weiht; sie läu­tet seit­her jeden Tag.

In die­sem Frei­heits­ge­löb­nis wird aus­drück­lich her­vor­ge­ho­ben, dass sich Frei­heit nicht von selbst erhält. Sie braucht den Schutz der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger. Die­se ver­spre­chen sym­bo­lisch vor der gan­zen Gemein­schaft, die Frei­heit zu ver­tei­di­gen, wo immer sie bedroht ist. Die­se akti­ve Rol­le der Bür­ger in Form eines Ver­spre­chens, das in Gefah­ren­zei­ten ein­ge­löst wer­den muss, ist hier­zu­lan­de kaum bekannt. In Deutsch­land hat sich offen­bar, geför­dert durch die lan­ge Tra­di­ti­on auto­ri­tä­rer Herr­schaft, eine Men­ta­li­tät erhal­ten, die dem Staat den Schutz der Frei­heit über­lässt. Die Kata­stro­phen des zwan­zig­sten Jahr­hun­derts haben uns belehrt, wie ris­kant und gefähr­lich dies ist. In Kri­sen­si­tua­tio­nen für den Schutz des Gemein­we­sens auch selbst ein­zu­ste­hen, das ist ein Bestand­teil der Frei­heit seit den bei­den gro­ßen Revo­lu­tio­nen, der Fran­zö­si­schen und der Amerikanischen.

In Gefah­ren­si­tua­tio­nen wie der heu­ti­gen müss­te eine Lin­ke, die die­sen Namen ver­dient, die Frei­heit ver­tei­di­gen, und zwar nicht nur die eige­ne, son­dern auch die der ande­ren Natio­nen. Ihre Auf­ga­be wäre es, dem Volk aufs Maul zu schau­en, hin­ter den popu­li­sti­schen »Lösun­gen« deren ver­nünf­ti­gen Anteil her­aus­zu­schä­len – und nicht los­ge­löst vom para­do­xen Gewu­sel der Mei­nungs­viel­falt eine aus der Zeit gefal­le­ne Pro­gram­ma­tik zu ver­tei­di­gen. Die­se Lin­ke wür­de die Prin­zi­pi­en hoch­hal­ten, auf denen Demo­kra­tien beru­hen: Frei­heit, Men­schen­wür­de, Ver­ant­wor­tung. Und vor die­sem Hin­ter­grund mit den ande­ren Par­tei­en strei­ten über den Weg, zu einem ver­nünf­ti­gen Rück­bau einer auf Wachs­tum gegrün­de­ten, ängst­li­chen Wohl­stands­ge­sell­schaft zu kommen.