Rechts und Links sind keine essentiellen Begriffe, obwohl deren Vertreter sie immer wieder so definiert haben. Heute sind an die Stelle programmatischer Definitionen Versatzstücke von linken und rechten Ideologien getreten, die funktional zwischen den Lagern hin und her wandern, parallel zu den Wählerwanderungen. Auch autoritäre Herrschaften jonglieren mit Slogans, Images, Labels von links und rechts; siehe Wladimir Putin, siehe Donald Trump, siehe Viktor Orbán …
Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat bei den letzten Wahlen erheblichen Zuspruch erhalten. In dessen Programm werden traditionelle linke Positionen mit traditionell rechten Positionen (gegen Einwanderer und Flüchtlinge, Schutz der Nation gegen Europa), mit antiimperialistischen Slogans aus der alten Linken (Antiamerikanismus, OSZE statt Nato) und Allerweltssprüchen à la »Wir wollen den Mittelstand schützen«, verbunden. Das Grundgefühl dieser Bewegung ist, so Wagenknecht, ein linker Konservatismus. Aber was, um Himmels Willen, soll hier konserviert werden?
Wer auf die Ursprünge der Linken zurückgeht, der trifft auf ein unlösbares Dilemma. Versprochen wurde ein Paradies der Befreiung und sozialen Gleichheit, doch der Weg zum Paradies erwies sich im Nachhinein als Abgrund. Die wichtigste Botschaft von Marx und Engels war die Vernichtung der Bourgeoisie (Befreiung). Um dieses Ziel zu erreichen, sollten »despotische Eingriffe« (Diktatur des Proletariats) das Gefüge der bürgerlichen Gesellschaft zerschlagen, das Privateigentum abschaffen und eine nivellierte Arbeitsgesellschaft herstellen.
Freiheit war für die Gründerväter der Linken – cum grano salis – eine bourgeoise Lüge. Mit der Befreiung vom kapitalistischen Joch sollte das Thema abgegolten sein. Und irgendwann in ferner Zukunft würde sich die Forderung nach Freiheit dann von selbst erledigen. Das berühmte Idealbild einer zukünftigen Gesellschaft aus dem »Kommunistischen Manifest«: morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben ‒ eine rückwärtsgewandte Idylle in archaischer Verkleidung.
Die demokratische Freiheitsbewegung von 1848 hat Marx erbittert bekämpft; für ihn waren deren Protagonisten, die Blum, Hecker, Struve, Wilhelm Liebknecht, Luise Aston, Emma Herwegh u. a., Illusionisten reinsten Wassers, die aufs schärfste zu bekämpfen waren. Man tut Marx kein Unrecht, wenn man ihn als leidenschaftlichen Anti-Demokraten bezeichnet. Wenn ich an die nachfolgenden sozialistischen Projekte denke, allen voran den sowjetischen Sozialismus, gefriert mir das Denken. Eine brutalere Umkehr des Befreiungsversprechens und einer zukünftigen herrschaftsfreien Gesellschaft kann man sich gar nicht vorstellen. Lenin und Trotzki haben die Massenerschießungen erfunden; Stalin war der Herrscher des Terrors und der Hungersnot, der Erfinder des Massentods im Gulag. Was soll daran links sein? Da kann man nichts »konservieren«. Man kann sich nur klar werden darüber, dass das totalitäre Erbe ein wichtiger Bestandteil der Geschichte der Linken ist wie der Kampf gegen soziales Elend und kapitalistische Profitmacherei.
Der Niedergang und schließlich Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften Ende der achtziger Jahre hat die Linke mit einem gebrochenen Verhältnis zur Demokratie zurückgelassen. Diese bleibende Schwäche der Linken verbindet sich mit einer lautlos verlaufenden epochalen Zäsur: dem langsamen, aber stetigen Niedergang des Fortschrittsglaubens. Dieser Glaube an ein Fortschreiten der Menschheit zu immer höheren Entwicklungsstufen, zu immer mehr Wohlstand, ein Erbe der Aufklärung, von der Linken zum stetigen Entwicklungsprozess in Richtung Befreiung im Sozialismus umgedeutet, wird seit Jahrzehnten von Problemen und Dilemmata überlagert, die die gesamte Gesellschaft, ja, die menschliche Spezies betreffen (Klimawandel, Umweltkatastrophen, Armutsmigration, gesellschaftliche und politische Spaltung), die weder links noch rechts definiert werden können. Ressourcenknappheit, Massenwanderungen aus ärmeren Ländern, Zerstörung von Zivilisationen durch Dürre oder Überschwemmung bedrohen alle Lager.
Was aber bleibt von der Demokratie, wenn ihre Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in die Zukunft verloren haben? Im Westen war und ist das Vertrauen in die Demokratie seit jeher an Wachstum und Wohlstand gebunden. Wenn diese Säulen der demokratischen Ordnung wegbrechen, dann bleibt eine verunsicherte Bürgerschaft übrig, die im Nebel stochert und nach Orientierung sucht. Nicht zufällig ist in dieser Situation das Paradigma von der »illiberalen Demokratie« aufgetaucht. Es wurde von autoritären (Minister-)Präsidenten osteuropäischer Staaten als Kernstück ihrer Identitätspolitik propagiert. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat kürzlich im Interview mit der BILD-Zeitung die Essenz dieser rechten Variante der Demokratie formuliert: Demokratien, in denen Politik durch und von Institutionen gemacht werde, seien schwach. Eine starke Demokratie brauche einen Führer, einen, der alles in die Hand nähme. Im Klartext: keine plurale Gesellschaft, sondern eine autoritäre Fürsorgeherrschaft. Für die europäische Rechte in vielen europäischen Ländern war und ist das inzwischen ein willkommenes Angebot, sozusagen ihre Variante des Fortschrittsglaubens.
Einer der Grundwerte der Arbeiterbewegung hat die Zeit scheinbar unbeschadet überdauert: die Forderung nach sozialer Gleichheit. Anders als in der angelsächsischen Tradition, in der unterschieden wird zwischen politischer Gleichheit (qua Wahlrecht) und sozialer Gleichheit hat die deutsche Linke stets darauf gepocht, dass beide Varianten der Gleichheit zusammengehören. In der angelsächsischen Tradition wird der Bereich der sozialen Gleichheit als nicht politisch bewertet, in diesen Bereich sollen Staat und Politik nicht eingreifen. So steht es jedenfalls in der Programmatik des politischen Liberalismus, und die gehört bis heute zum liberalen Selbstverständnis. In Deutschland wird dagegen nicht unterschieden zwischen politisch und sozial. Wie lautete die Losung der außerparlamentarischen Linken einst so simpel wie verführerisch: »Alles Soziale ist politisch!« Jedenfalls wog die Forderung nach sozialer Gleichheit für die hiesige Linke immer schwerer als die Verteidigung der Freiheit.
Jeden Tag um Punkt 12 Uhr ertönen vom Turm des Rathauses Tempelhof-Schöneberg in Berlin die wuchtigen Schläge der Berliner Freiheitsglocke. Zu dem Geläute erklingt im Radio die Stimme einer Sprecherin: »Ich glaube an die Unantastbarkeit und an die Würde jedes einzelnen Menschen. Ich glaube, dass allen Menschen von Gott das gleiche Recht auf Freiheit gegeben wurde. Ich verspreche, jedem Angriff auf die Freiheit und der Tyrannei Widerstand zu leisten, wo auch immer sie auftreten mögen.« Dieser Spruch ist Teil eines längeren öffentlichen Gelöbnisses, das 16 Millionen AmerikanerInnen 1950 unterschrieben und an die Deutschen gerichtet hatten. Feierlich wurde die Freiheitsglocke am 24. Oktober 1950 in Anwesenheit einer halben Million Berliner auf dem Rathausturm eingeweiht; sie läutet seither jeden Tag.
In diesem Freiheitsgelöbnis wird ausdrücklich hervorgehoben, dass sich Freiheit nicht von selbst erhält. Sie braucht den Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Diese versprechen symbolisch vor der ganzen Gemeinschaft, die Freiheit zu verteidigen, wo immer sie bedroht ist. Diese aktive Rolle der Bürger in Form eines Versprechens, das in Gefahrenzeiten eingelöst werden muss, ist hierzulande kaum bekannt. In Deutschland hat sich offenbar, gefördert durch die lange Tradition autoritärer Herrschaft, eine Mentalität erhalten, die dem Staat den Schutz der Freiheit überlässt. Die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts haben uns belehrt, wie riskant und gefährlich dies ist. In Krisensituationen für den Schutz des Gemeinwesens auch selbst einzustehen, das ist ein Bestandteil der Freiheit seit den beiden großen Revolutionen, der Französischen und der Amerikanischen.
In Gefahrensituationen wie der heutigen müsste eine Linke, die diesen Namen verdient, die Freiheit verteidigen, und zwar nicht nur die eigene, sondern auch die der anderen Nationen. Ihre Aufgabe wäre es, dem Volk aufs Maul zu schauen, hinter den populistischen »Lösungen« deren vernünftigen Anteil herauszuschälen – und nicht losgelöst vom paradoxen Gewusel der Meinungsvielfalt eine aus der Zeit gefallene Programmatik zu verteidigen. Diese Linke würde die Prinzipien hochhalten, auf denen Demokratien beruhen: Freiheit, Menschenwürde, Verantwortung. Und vor diesem Hintergrund mit den anderen Parteien streiten über den Weg, zu einem vernünftigen Rückbau einer auf Wachstum gegründeten, ängstlichen Wohlstandsgesellschaft zu kommen.