Zahlreich sind die Bücher, Romane und Erzählungen, die seit den neunziger Jahren mit der Vokabel Wende bedacht wurden – zuweilen gerechtfertigt, oftmals nicht. Gunnar Deckers »Zwischen den Zeiten – Die späten Jahre der DDR« ist, so scheint es mir, das Wendebuch schlechthin. Zugleich auch ist es weit mehr: ein Rückblick sehr eigener Art, eine gut informierte Zeitbetrachtung, loyal mit dem Land, in dem er aufwuchs, dabei Missstände aufzeigend, wo es sie gab, und so den Untergang der DDR erklärend. Gunnar Decker, von 1985 bis 1990 Philosophiestudent an der Berliner Humboldt-Universität, war bei seiner Zeitreise bedeutenden Menschen auf der Spur, ihn beeindruckte Stephan Hermlin, auch Christa Wolf natürlich, er machte sich mit dem Oeuvre Stefan Heyms vertraut, seinem kritischen Anliegen, Franz Fühmann war ihm wichtig, Heiner Müller, Christoph Hein, Jurek Becker, Klaus Schlesinger und Volker Braun – und zwangsläufig ergab es sich, dass ihn das Werden und Wirken russischer Literaten wie Bulgakow, Aitmatow, Granin, Rasputin mehr als nur aufmerken ließ. Decker erfährt, wie schwer sie es hatten, sich durchzusetzen. Und lang ehe ich sein an die vierhundert Seiten starkes Buch aus der Hand legte, hatte ich es für mich als unentbehrlich eingestuft, eine Fundgrube von Erkenntnissen, die sich mit meinen deckten – nur dass ich in der geschilderten Zeit weit mehr Außenseiter war, viel auf Reisen, auf See und anderswie. Decker, das war unschwer deutlich, steckte stets mittendrin: In der Bücherwelt, der Theaterwelt, dem täglichen DDR-Geschehen, dem Auf und Nieder jener Jahre, er wusste um die Zwistigkeiten der Oberen und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Rückschlägen – sie gingen ihn an, er war beteiligt. Dieses Beteiligtsein manifestiert sich durchweg. Das macht seine Texte so plastisch, macht sie nacherlebbar. Die Schriftsteller, Maler, Theaterleute, die Decker hervorhebt, waren auch mir vertraut, ihre Leistungen jedoch nicht so umfassend wie ihm. Das wusste ich seit dem Mauerfall nachzuholen, darum drängte es mich schon während des Lesens von »Zwischen den Zeiten«, an Decker zu schreiben, dass ich sein Buch überzeugend und fair fand, gewinnend auch durch den Schreibstil, seine knappe, präzise Art, dem »schönen Trotz«, der dem Geschriebenen innewohnt. Kurzum, dass sein Buch mich bis zum Schluss zu fesseln vermochte.
Walter Kaufmann
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Gunnar Decker widerlegt mit seinem Buch die allgemein verbreitete Auffassung, nach der Biermann-Affäre habe es in der DDR-Kunst nichts Nennenswertes mehr gegeben. Er beschreibt im Gegenteil dazu den Hoffnungsgewinn, den Perestroika und Glasnost in den Köpfen vieler Künstler auslöste und – das besonders Gute daran – er sieht den Zusammenhang mit den in den Sowjetunion geschaffenen Werken, beispielsweise von Daniil Granin, Valentin Rasputin, den Strugatzkis und anderen. Da wurden Menschheitsfragen neu und anders gestellt, kritische Positionen bezogen, wie anders als in der Realität Sozialismus durchsetzbar sei. Welch ein Reichtum an Ideen und Vorschlägen, die leider durch die herrschende Kulturpolitik eher unterdrückt als gefördert wurden. Gut, dass Decker daran erinnert!
Diese Vorzüge trösten mich ein bisschen darüber hinweg, dass die Auswahl der behandelten Werke sehr subjektiv ausfällt und so manch interessanter sowjetischer Film oder wichtiges DDR-Buch fehlt, während mir anderes vor allem unter dem Aspekt »Was hat es doch alles gegeben!« erscheint.
Christel Berger
Gunnar Decker: »Zwischen den Zeiten Die späten Jahre der DDR«, Aufbau Verlag, 432 Seiten, 28 €