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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Zweifel, Zweifel, Zweifel

Da Wer­ner Hei­duc­zek (1926-2019) sei­nen Roman »Abschied von den Engeln« (erst­mals erschie­nen 1968 im Mit­tel­deut­schen Ver­lag Hal­le) gehö­rig mit Phi­lo­so­phie füt­ter­te – und durch­aus damals in der DDR mit schee­len Augen betrach­te­ter, etwa Camus’ »Mythos von Sisy­phos«), könn­te er auch den Unter­ti­tel füh­ren: »An allem ist zu zwei­feln«. Denn Zweif­ler sind die Haupt­fi­gu­ren sämt­lich: Max, Her­bert, Tho­mas Maru­la, Anna, eine gebo­re­ne Maru­la und deren Sohn Franz. Da wird am Sozia­lis­mus gezwei­felt (Her­bert, zweit­höch­ster Funk­tio­när im DDR-Bezirk Hal­len­bach, gemeint ist Hal­le – und es erschließt sich einem nicht, war­um Hei­duc­zek man­che Orte mit erfun­de­nen Namen beleg­te, ande­re mit ihren rich­ti­gen nann­te), am im Staa­te prak­ti­zier­ten Volks­bil­dungs­sy­stem (Tho­mas, Leh­rer, Schul­di­rek­tor), an Gott, der Gerech­tig­keit, der Theo­lo­gie (Max, Pro­fes­sor die­ser Wis­sen­schaft) und am Leben und der Lie­be (Anna, Geschäfts­frau und spä­te­re Selbstmörderin).

Die Haupt­hand­lung des auch in die Ver­gan­gen­heit zurück­grei­fen­den Romans spielt unge­fähr 1959/​1960, die aus Schle­si­en stam­men­den vier Geschwi­ster Maru­la leben in West­deutsch­land (Max und Anna) und in der DDR (Her­bert und Tho­mas). Noch sind die Gren­zen nicht her­me­tisch ver­ram­melt, Her­berts Frau Ruth kann (sogar mit dem Auto!) in den Westen fah­ren. Ihr Vater, der Kom­mu­nist West­phal, sitzt dort im Gefäng­nis. Des­sen Geschich­te hat das Zeug zum Rei­ßer. Der ehe­mals im KZ Geschun­de­ne plant und rea­li­siert näm­lich sei­ne Flucht, die fast film­reif gelingt, ein Netz­werk alter Genos­sen will und kann ihm das Ent­kom­men in die DDR ermög­li­chen. Aber West­phal erkennt, wo sein Platz ist, wo er kämp­fen muss; er wird wie­der ein­ge­fan­gen und lan­det im Zucht­haus. Dass zur glei­chen Zeit auch in der DDR man­che Men­schen im Zucht­haus saßen, weil sie mit dem DDR-System nicht ein­ver­stan­den waren, konn­te natür­lich kei­ne Erwäh­nung fin­den. Den­noch: Es ist eines der ehr­lich­sten Bücher, die über die DDR, ihre Funk­tio­nä­re, ihre Jugend und die schwie­ri­ge »Koexi­stenz« (die durch­aus kei­ne fried­li­che war, weder poli­tisch noch mensch­lich) der bei­den deut­schen Staa­ten je geschrie­ben wurden

Die­se Ehr­lich­keit wird haupt­säch­lich trans­por­tiert von der Figur des Jun­gen Franz. Der Gym­na­si­ast, ange­wi­dert von sei­ner Mut­ter und deren ero­ti­scher Lebens­gier sowie von den Leh­rern sei­ner Schu­le, gerät zufäl­lig in die aben­teu­er­li­che Flucht West­phals. Die­ses Erleb­nis sowie Gesprä­che mit einem aus der »Zone« gekom­me­nen Mit­schü­ler bewe­gen ihn, dort­hin, also in die DDR, zu flie­hen. Mit die­sem lite­ra­ri­schen Kniff ermög­lich­te Hei­duc­zek sich und sei­nen Lesern einen fri­schen, fre­chen »Außen­blick« auf die DDR, den man in der Lite­ra­tur jener Jah­re so nicht fin­det. Franz wird bald inne, dass die­ses Land eben auch kein Para­dies ist, wie­wohl es dies gern wäre. Mit sei­nem zunächst wenig, dann mehr geschätz­ten Onkel Her­bert geht der Funk­tio­närs­ap­pa­rat übel um; Onkel Tho­mas lässt die Lie­be zu des­sen Frau Ruth wie­der auf­le­ben und ver­wickelt sich dar­in – die Ehr­lich­keit und »Sau­ber­keit«, die der Jugend­li­che sich vom Sozia­lis­mus erhofft hat­te, gibt es nicht.

Der Tod sei­ner Mut­ter erfor­dert sei­ne Rück­kehr, und er beschließt, in West­deutsch­land zu blei­ben und dort, nach dem Vor­bild West­phals, zu kämp­fen. Das klingt natür­lich heu­te ein wenig abge­schmackt, damals traf es gewiss den Geschmack der Genos­sen, die ein Buch erschei­nen las­sen konn­ten – oder eben auch nicht. Und da galt es für jene, eini­ges zu ver­kraf­ten: Den brei­ten Raum, den Chri­sten­tum und Glau­bens­fra­gen ein­neh­men, das Leben, die Kämp­fe und Zwei­fel des Theo­lo­gen Max Maru­la wer­den aus­führ­lich geschil­dert, die exi­sten­zia­li­sti­sche Phi­lo­so­phie, die Erstar­rung des SED-Funk­tio­närs­ap­pa­ra­tes in Flos­keln und Phra­sen, der kal­te Blick auf das sozia­li­sti­sche Volks­bil­dungs­sy­stem, sei­ne Schwer­fäl­lig­keit, Refor­mun­lust und Über­ver­wal­tung. Frei­lich gibt es auch den mensch­li­chen, vom Huma­nis­mus gepräg­ten (dar­auf berief man sich gern in der DDR) Genos­sen, wie etwa Fox – der Name wur­de wohl des­halb so stark ver­frem­det, damit Horst Sin­der­mann, der Par­tei­chef von Hal­le, nach­ma­li­ger Mini­ster­prä­si­dent und von Hon­ecker und Stoph spä­ter kalt­ge­stellt, nicht zu deut­lich aus dem Text winkt.

Die­sem Fox hat­te Her­bert in den letz­ten Tagen des Nazi­re­gimes das Leben geret­tet und ver­dank­te ihm auch dar­um den schnel­len Auf­stieg in hohe Ämter. Vor dem Absturz inner­halb des üppig gedei­hen­den Par­tei­ap­pa­ra­tes kann er ihn frei­lich auch nicht bewah­ren, als in der sozia­li­sti­schen Gesell­schaft Par­tei­funk­tio­nä­re nun auch Qua­li­fi­ka­tio­nen nach­wei­sen müs­sen. Des­we­gen quält sich Her­bert neben sei­ner auf­rei­ben­den Arbeit mit einem Fern­stu­di­um, das er nicht bewäl­ti­gen kann.

Gera­de die Ver­knüp­fung des Jah­res, in dem der Roman spielt (noch vor dem Mau­er­bau), mit der damals noch jüng­sten deut­schen Geschich­te, lässt ihn auch zum Epo­chen­bild wer­den, zu einer Art Bilanz von Histo­rie. Hei­duc­zeks Kunst­an­spruch, sei­ne dich­te­ri­sche Erzähl­kraft, die auch Ana­ly­se sein will, und die man heut­zu­ta­ge immer sel­te­ner fin­det, macht den Reiz und den Wert des Romans aus, den man mit Gewinn auch heu­te liest. Durch­aus frap­pie­rend sind die fast hell­sich­ti­gen Befun­de, zu denen Hei­duc­zek gelang­te, etwa auf Sei­te 273, wo er schil­dert, was Ruth Maru­la, auch durch die Anwe­sen­heit des West­flücht­lings Franz, bewusst wird: »… was sich im Grun­de genom­men in Deutsch­land voll­zog, nicht nur das Offen­sicht­li­che, das gege­ben war in zwei ant­ago­ni­sti­schen Gesell­schafts­for­men, son­dern das sich unmerk­li­che Ver­än­dern der Men­schen, ihr Sich-Ent­fer­nen von­ein­an­der, das sich Her­aus­bil­den zwei völ­lig ver­schie­de­ner Lebens­ge­füh­le.« Der Roman­ti­tel wur­de immer gern als zweif­le­ri­sche Schil­de­rung des Abschieds von Ide­al­vor­stel­lun­gen ver­stan­den. Ja, auch von heu­te aus gese­hen, scheint sich die­se Sicht­wei­se zu bewähren.

 Wer­ner Hei­duc­zek: Abschied von den Engeln. Roman, Mit­tel­deut­scher Ver­lag 2022, 528 S., 20 €.