Da Werner Heiduczek (1926-2019) seinen Roman »Abschied von den Engeln« (erstmals erschienen 1968 im Mitteldeutschen Verlag Halle) gehörig mit Philosophie fütterte – und durchaus damals in der DDR mit scheelen Augen betrachteter, etwa Camus’ »Mythos von Sisyphos«), könnte er auch den Untertitel führen: »An allem ist zu zweifeln«. Denn Zweifler sind die Hauptfiguren sämtlich: Max, Herbert, Thomas Marula, Anna, eine geborene Marula und deren Sohn Franz. Da wird am Sozialismus gezweifelt (Herbert, zweithöchster Funktionär im DDR-Bezirk Hallenbach, gemeint ist Halle – und es erschließt sich einem nicht, warum Heiduczek manche Orte mit erfundenen Namen belegte, andere mit ihren richtigen nannte), am im Staate praktizierten Volksbildungssystem (Thomas, Lehrer, Schuldirektor), an Gott, der Gerechtigkeit, der Theologie (Max, Professor dieser Wissenschaft) und am Leben und der Liebe (Anna, Geschäftsfrau und spätere Selbstmörderin).
Die Haupthandlung des auch in die Vergangenheit zurückgreifenden Romans spielt ungefähr 1959/1960, die aus Schlesien stammenden vier Geschwister Marula leben in Westdeutschland (Max und Anna) und in der DDR (Herbert und Thomas). Noch sind die Grenzen nicht hermetisch verrammelt, Herberts Frau Ruth kann (sogar mit dem Auto!) in den Westen fahren. Ihr Vater, der Kommunist Westphal, sitzt dort im Gefängnis. Dessen Geschichte hat das Zeug zum Reißer. Der ehemals im KZ Geschundene plant und realisiert nämlich seine Flucht, die fast filmreif gelingt, ein Netzwerk alter Genossen will und kann ihm das Entkommen in die DDR ermöglichen. Aber Westphal erkennt, wo sein Platz ist, wo er kämpfen muss; er wird wieder eingefangen und landet im Zuchthaus. Dass zur gleichen Zeit auch in der DDR manche Menschen im Zuchthaus saßen, weil sie mit dem DDR-System nicht einverstanden waren, konnte natürlich keine Erwähnung finden. Dennoch: Es ist eines der ehrlichsten Bücher, die über die DDR, ihre Funktionäre, ihre Jugend und die schwierige »Koexistenz« (die durchaus keine friedliche war, weder politisch noch menschlich) der beiden deutschen Staaten je geschrieben wurden
Diese Ehrlichkeit wird hauptsächlich transportiert von der Figur des Jungen Franz. Der Gymnasiast, angewidert von seiner Mutter und deren erotischer Lebensgier sowie von den Lehrern seiner Schule, gerät zufällig in die abenteuerliche Flucht Westphals. Dieses Erlebnis sowie Gespräche mit einem aus der »Zone« gekommenen Mitschüler bewegen ihn, dorthin, also in die DDR, zu fliehen. Mit diesem literarischen Kniff ermöglichte Heiduczek sich und seinen Lesern einen frischen, frechen »Außenblick« auf die DDR, den man in der Literatur jener Jahre so nicht findet. Franz wird bald inne, dass dieses Land eben auch kein Paradies ist, wiewohl es dies gern wäre. Mit seinem zunächst wenig, dann mehr geschätzten Onkel Herbert geht der Funktionärsapparat übel um; Onkel Thomas lässt die Liebe zu dessen Frau Ruth wieder aufleben und verwickelt sich darin – die Ehrlichkeit und »Sauberkeit«, die der Jugendliche sich vom Sozialismus erhofft hatte, gibt es nicht.
Der Tod seiner Mutter erfordert seine Rückkehr, und er beschließt, in Westdeutschland zu bleiben und dort, nach dem Vorbild Westphals, zu kämpfen. Das klingt natürlich heute ein wenig abgeschmackt, damals traf es gewiss den Geschmack der Genossen, die ein Buch erscheinen lassen konnten – oder eben auch nicht. Und da galt es für jene, einiges zu verkraften: Den breiten Raum, den Christentum und Glaubensfragen einnehmen, das Leben, die Kämpfe und Zweifel des Theologen Max Marula werden ausführlich geschildert, die existenzialistische Philosophie, die Erstarrung des SED-Funktionärsapparates in Floskeln und Phrasen, der kalte Blick auf das sozialistische Volksbildungssystem, seine Schwerfälligkeit, Reformunlust und Überverwaltung. Freilich gibt es auch den menschlichen, vom Humanismus geprägten (darauf berief man sich gern in der DDR) Genossen, wie etwa Fox – der Name wurde wohl deshalb so stark verfremdet, damit Horst Sindermann, der Parteichef von Halle, nachmaliger Ministerpräsident und von Honecker und Stoph später kaltgestellt, nicht zu deutlich aus dem Text winkt.
Diesem Fox hatte Herbert in den letzten Tagen des Naziregimes das Leben gerettet und verdankte ihm auch darum den schnellen Aufstieg in hohe Ämter. Vor dem Absturz innerhalb des üppig gedeihenden Parteiapparates kann er ihn freilich auch nicht bewahren, als in der sozialistischen Gesellschaft Parteifunktionäre nun auch Qualifikationen nachweisen müssen. Deswegen quält sich Herbert neben seiner aufreibenden Arbeit mit einem Fernstudium, das er nicht bewältigen kann.
Gerade die Verknüpfung des Jahres, in dem der Roman spielt (noch vor dem Mauerbau), mit der damals noch jüngsten deutschen Geschichte, lässt ihn auch zum Epochenbild werden, zu einer Art Bilanz von Historie. Heiduczeks Kunstanspruch, seine dichterische Erzählkraft, die auch Analyse sein will, und die man heutzutage immer seltener findet, macht den Reiz und den Wert des Romans aus, den man mit Gewinn auch heute liest. Durchaus frappierend sind die fast hellsichtigen Befunde, zu denen Heiduczek gelangte, etwa auf Seite 273, wo er schildert, was Ruth Marula, auch durch die Anwesenheit des Westflüchtlings Franz, bewusst wird: »… was sich im Grunde genommen in Deutschland vollzog, nicht nur das Offensichtliche, das gegeben war in zwei antagonistischen Gesellschaftsformen, sondern das sich unmerkliche Verändern der Menschen, ihr Sich-Entfernen voneinander, das sich Herausbilden zwei völlig verschiedener Lebensgefühle.« Der Romantitel wurde immer gern als zweiflerische Schilderung des Abschieds von Idealvorstellungen verstanden. Ja, auch von heute aus gesehen, scheint sich diese Sichtweise zu bewähren.
Werner Heiduczek: Abschied von den Engeln. Roman, Mitteldeutscher Verlag 2022, 528 S., 20 €.